Strafprozess wegen Informationen zum Schwangerschaftsabbruch in Gießen – Der Paragraph 219a StGB ist verfassungswidrig

Die Ärztin Kristina Hänel ist von der Staatsanwaltschaft Gießen nach § 219a StGB angeklagt worden. Die Verhandlung vor dem Amtsgericht ist am 24. November 2017. Der Vorwurf: Verstoß gegen das Verbot, öffentlich die ärztliche Dienstleistung des Schwangerschaftsabbruchs anzubieten. Auf Hänels Webseite befindet sich in ihrem Leistungsspektrum unter der Rubrik "Frauengesundheit" das Wort "Schwangerschaftsabbruch". Jacqueline Neumann, wissenschaftliche Koordinatorin des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw), bewertet die Norm des § 219a StGB anhand der einschlägigen rechtswissenschaftlichen Kommentare der ifw-Beiräte Eric Hilgendorf und Reinhard Merkel, sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Ergebnis: § 219a StGB ist verfassungswidrig.

Inhalt der Rechtsnorm

§ 219a StGB
Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft

(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise

  1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder
  1. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung

anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Absatz 1 Nr. 1 gilt nicht, wenn Ärzte oder auf Grund Gesetzes anerkannte Beratungsstellen darüber unterrichtet werden, welche Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen bereit sind, einen Schwangerschaftsabbruch unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 bis 3 vorzunehmen.

(3) Absatz 1 Nr. 2 gilt nicht, wenn die Tat gegenüber Ärzten oder Personen, die zum Handel mit den in Absatz 1 Nr. 2 erwähnten Mitteln oder Gegenständen befugt sind, oder durch eine Veröffentlichung in ärztlichen oder pharmazeutischen Fachblättern begangen wird.

Wie die Überschrift des § 219a StGB besagt, handelt es sich bei der Norm um ein Verbot, für den Abbruch der Schwangerschaft zu werben. Bereits der erste Blick in den Normtext zeigt jedoch, dass es nicht nur um die Untersagung von "Werbung" geht, sondern der Tatbestand derart weit gefasst ist, dass damit letztlich ein Informationsverbot statuiert wird. Denn Werbung ist nach dem Duden gleichzusetzen mit "Reklame" oder "Propaganda". Nach dieser Strafnorm genügt jedoch bereits die "Information" über die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruches zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes des "Anbietens". Damit gilt ein Verbot für Ärzte und Kliniken, darüber zu informieren, unter welchen rechtlichen Rahmenbedingungen ein legaler Schwangerschaftsabbruch erlaubt ist, welche Methoden es gibt, welche Risiken der Eingriff birgt und dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen.

Vor diesem Hintergrund ist eine verfassungskonforme Auslegung auch anhand der Methoden der Gesetzesauslegung, wie sie sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgebildet haben, nicht möglich. Der Wortlaut des § 219a StGB ist klar und eindeutig und bildet anerkanntermaßen die Grenze zulässiger Auslegung. Die Norm ist aus mehreren Gründen verfassungswidrig:

Kriminalisierung des Vorfelds einer rechtmäßigen Haupttat

§ 219a Abs. 1 StGB differenziert nicht zwischen rechtmäßigen (bzw. tatbestandslosen) und rechtswidrigen Abbrüchen (Gropp in: MüKo, StGB, 3. Aufl. 2017, § 219a StGB Rn. 1f.). Erfasst werden daher auch Verhaltensweisen im Vorfeld rechtlich erlaubten Handelns. Versteht man die Norm folglich als "Vorfeldkriminalisierung", liegt die Verfassungswidrigkeit nach Reinhard Merkel (ifw-Beirat) auf der Hand: "Wenn eine Handlung X und deshalb auch jederlei Teilnahme an ihr rechtmäßig ist, dann kann die bloße vorbereitende Förderung beider, genau genommen nur die Förderung der bloßen Möglichkeit zu beiden, nicht ihrerseits rechtswidrig und strafbar sein" (Merkel in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 219a StGB Rn. 2).

Auch Eric Hilgendorf (ifw-Beirat) betont, dass eine "Kriminalisierung des Vorfelds einer rechtmäßigen Haupttat" als "sachwidrig" zu qualifizieren sei (AWHH/Hilgendorf BT § 5 Rn. 40).

Woher stammt der Tatbestand des "Werbeverbots"?

Mittelbar soll die Strafdrohung des § 219a StGB dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen (Eschelbach in: BeckOK StGB, 35. Ed. 1.8.2017, § 219a StGB Rn. 1). Hintergrund dessen ist zum einen die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik, als der Tatbestand des "Werbeverbots" in der Strafrechtsreform im Mai 1933 eingeführt wurde. Zum anderen ist die religiöse Vorstellung aus den Glaubensnormen des Christentums prägend, bereits ab der "Beseelung" der befruchteten Eizelle eine Abtreibung mit der strengsten Kirchenstrafe zu belegen ("Exkommunikation") und ein Abtreibungsverbot als "grundlegendes Element" der staatlichen Gesetzgebung einzufordern (Nr. 2273, Katechismus der Katholischen Kirche). Zu den weltanschaulichen Auseinandersetzungen und deren rechtlichen Auswirkungen beim Thema Schwangerschaftsabbruch sei an dieser Stelle auf den Lexikoneintrag von Gerhard Czermak (ifw-Direktorium) verwiesen.

Dem steht hinsichtlich rechtmäßiger Abbrüche jedoch entgegen, dass ein "Recht des ungeborenen Lebens" im Rahmen des § 218a Abs. 1 bis 3 StGB nicht existiert. Deshalb scheidet auch eine Abwägung des ärztlichen Rechts auf Berufsausübung (Art. 12 Abs. 1 GG) mit dem "Recht des ungeborenen Lebens" aus (Merkel in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 219a StGB Rn. 2). Die Annahme des Landgerichts Bayreuth in seinem Urteil vom 15.09.2005 (2 Ns 118 Js 12007/04), wonach der Arzt im Rahmen der Berufsausübung zwar das Recht hat, die Öffentlichkeit über die von ihm angebotenen Leistungen in seiner Praxis zu informieren, dieses aber das Recht des ungeborenen Lebens tangiere und deshalb zurückzutreten habe, ist folglich unzutreffend. Da der Schutzbereich des "Rechts des ungeborenen Lebens" nicht eröffnet ist, bedarf es auch keiner Abwägung mit der Berufsausübungsfreiheit des Arztes und diese hat folglich nicht zurückzutreten.

Informationsrecht

Schutzzweck des § 219a StGB ist es ferner zu verhindern, dass sowohl der rechtmäßige als auch der rechtswidrige Schwangerschaftsabbruch als kommerzialisierbare Dienstleistung dargestellt und von der Allgemeinheit als normales Verhalten eingeschätzt werden (Bericht, BT-Drucks. 7/1981 (neu), 17; Eschelbach in: BeckOK StGB, 35. Ed. 1.8.2017, § 219a StGB Rn. 1).

Doch wenn die Kommerzialisierung der Haupttat, nämlich deren Bezahlung, fraglos erlaubte und (zivil-)rechtlich garantierte Normalität ist, dann können kommerziell orientierte öffentliche Hinweise darauf kein strafwürdiges Unrecht sein (Merkel in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 219a StGB Rn. 2, 3).

In einem System, das für alle Schwangerschaftsabbrüche eine medizinisch angemessene Durchführung als "Staatsaufgabe" (BVerfGE 88, 203, 328) gewährleisten will, stellt die vom Gesetzgeber behauptete Gefahr der "Normalisierung" von Abbrüchen zudem keine Gefahr dar, sondern den Normalzustand (Merkel in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 219a StGB Rn. 17). Dementsprechend kann die frei zugängliche Information über die Durchführung legaler Schwangerschaftsabbrüche durch Ärzte aber auch nicht unter Strafe gestellt werden.

Überdies ist eine öffentliche Tabuisierung des Schwangerschaftsabbruchs mit Blick auf die Grundrechte auf Meinungs- und Informationsfreiheit nicht zulässig.

Die Ärztin Kristina Hänel hat eine Petition erstellt. Darin hebt sie zutreffend hervor:

"[§ 219a StGB] behindert das Anrecht von Frauen auf sachliche Informationen. De facto entscheiden die Beratungsstellen, wo die Frauen zum Schwangerschaftsabbruch hingehen können, da viele Ärzte eingeschüchtert sind und ihre sachlichen Informationen von den Websites herunternehmen aus Angst vor Strafverfolgung. Auch und gerade beim Thema Schwangerschaftsabbruch müssen Frauen freie Arztwahl haben und sich medizinisch sachlich und richtig informieren können. Ich bin für das Recht von Frauen, sich im Internet über angebotene Leistungen von Ärzten und Ärztinnen zum Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Informationsrecht ist ein Menschenrecht."

Der Staat muss einen Regelungsrahmen bereitstellen

Mit dem "Werbeverbot" hängt auch die Problematik eng zusammen, dass es für Frauen insbesondere in ländlichen Gegenden zunehmend schwierig wird, Ärzte oder Kliniken zu finden, die Abtreibungen durchführen. Anfang 2017 berichteten Medien beispielsweise über den Fall eines Chefarztes, welcher den Ärzten in seiner Klinik mit Verweis auf seinen christlichen Glauben untersagte, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen – und dies, obwohl es sich um die einzige Klinik des Landkreises handelte. In christlich geprägten europäischen Nachbarländern gibt es eine ähnliche Entwicklung. So verweigern in Italien landesweit mittlerweile rund 70 Prozent der Ärzte eine Abtreibung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Urteil vom 30.10.2012 in der Sache P./S. gegen Polen ( 57375/08, Rn. 106) bezogen auf die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen jedoch betont:

"For the Court, States are obliged to organise their health service system in such a way as to ensure that the effective exercise of freedom of conscience by health professionals in a professional context does not prevent patients from obtaining access to services to which they are entitled under the applicable legislation"

Demnach muss der Staat einen Regelungsrahmen bereitstellen, welcher es Individuen ermöglicht, ihre Rechte auch tatsächlich wahrzunehmen und durchzusetzen. Das Selbstbestimmungsrecht über den Abbruch einer Schwangerschaft darf nicht nur eine theoretische Option darstellen. Andernfalls verletzt der Staat seine Schutzpflicht aus Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese Fragen nach dem staatlichen Regelungsrahmen stellen sich auch in Deutschland.

Klärung der Verfassungsmäßigkeit der Norm unumgänglich

Wie ist die rechtliche Situation von Ärztin Kristina Hänel angesichts der Anklage der Staatsanwaltschaft Gießen nach § 219a StGB? Sollte das Amtsgericht Gießen die Strafnorm für verfassungswidrig halten, müsste es das Verfahren aussetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen (Art. 100 Abs. 1 GG). Einer entsprechenden Richtervorlage kann das Gericht nach hiesiger Auffassung nicht dadurch entgehen, dass es die Norm dahingehend verfassungskonform auslegt, dass lediglich das Anbieten eines rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruches erfasst wird. Denn eine solche Auslegung erfolgte contra legem und wäre damit unzulässig. Das Gebot verfassungskonformer Auslegung legitimiert nicht dazu, Wortlaut und Sinn des Gesetzes beiseite zu schieben oder zu verändern (BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993 – 2 BvF 2/90 –, BVerfGE 88, 203-366, Rn. 374). Gleiches gälte für eine einschränkende Auslegung dahingehend, dass vom Tatbestand lediglich die offene oder als Information getarnte Propagierung des Schwangerschaftsabbruchs erfasst wird (so wohl Kühl in: Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 219a StGB Rn. 1), nicht aber die bloße neutrale Information über die Durchführung von Abbrüchen, wie sie vorliegend seitens Frau Hänel erfolgte.

Sollte das Bundesverfassungsgericht mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Norm befasst werden, weist Reinhard Merkel zutreffend darauf hin (Merkel in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 219a StGB Rn. 3), dass das Gericht die Norm wohl mit dem Grundgesetz für nicht vereinbar erklären wird. Im Rahmen von Verfassungsbeschwerden zu zivilrechtlichen Ansprüchen auf Unterlassung der Verteilung von Flugblättern vor der Praxis eines Frauenarztes, die unter anderem zum Stopp der "rechtswidrigen Abtreibungen" in der Praxis auffordern, führte das Gericht nämlich aus: "Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können." (BVerfG 24.5.2006 – 1 BvR 1060/02, Rn. 43)  

Abschließender Kommentar

Die Strafnorm § 219a StGB und viele öffentliche Einrichtungen (z.B. Krankenhäuser, Staatsanwaltschaft Gießen) sind trotz der entsprechenden Verpflichtung der Verfassung nicht weltanschaulich neutral gehalten. Religiöse, aber auch philosophisch begründete Tabuisierungen von Schwangerschaftsabbrüchen und der Information über die Durchführung selbiger können in einem säkularen Staat jedoch keine Legitimationsgrundlage für mit Kriminalstrafe bewehrte Verbote sein. Mit dem Erlass einer moralisierenden, auf die Durchsetzung einer religiös-weltanschaulich bestimmten Sittlichkeit bezogenen Strafnorm, überschreitet der Staat seine Kompetenzen (vgl. allgemein hierzu Stefan Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2. Aufl. 2017, S. XXXIII f.).

Bund und Länder sollten in Deutschland angesichts der teilweise flächendeckenden Einschüchterung von Ärzten durch "Lebensschützer", die noch dazu wie im Fall der Staatsanwaltschaft Gießen Resonanz durch Staatsorgane erfahren, vielmehr sicherstellen, dass das Selbstbestimmungsrecht über den Abbruch einer Schwangerschaft nicht nur zu einer theoretischen Option wird. Der Staat muss nach der Europäische Menschenrechtskonvention einen Regelungsrahmen bereitstellen, welcher es Individuen ermöglicht, ihre Rechte auch tatsächlich wahrzunehmen und durchzusetzen.

Der § 219a StGB ist abzuschaffen. Denn er folgt religiösen Glaubensvorstellungen und der nationalsozialistischen Weltanschauung, die mit einem demokratischen, weltanschaulich neutralen Rechtsstaat in der Ausrichtung auf die Europäische Menschenrechtskonvention unverträglich sind.