Christentum und Grundgesetz
I. Historische Behauptungen
Menschenwürde und Menschenrechte sind die Basis des demokratischen Systems des GG. Die historische Entwicklung der Menschenrechte (s. dort) hat lange gedauert. Zur Erläuterung wird vielfach ihre christliche Herkunft betont, woraus dann unter Heranziehung der religionsfreundlichen Bestimmungen des GG, die z.T. eine Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften zumindest zulassen, auch heute noch gern die Zulässigkeit einer Bevorzugung des Christentums bei der Rechtsanwendung gefolgert wird (meist bei gleichzeitiger Beschwörung der religiös-weltanschaulichen Neutralität). Das bedeutet, mit anderen Worten, Abstriche von der religiös-weltanschaulichen Neutralität, wobei die dabei anzuwendenden Kriterien freilich nie genannt werden. Aber schon die historische Ausgangsthese trifft nicht zu, obwohl es natürlich möglich ist, die Menschenwürde auf den Gedanken der Gottesebenbildlichkeit zu stützen. Richtig ist, dass unsere Grundrechte unter anderem wesentlich auf Forderungen des Naturrechts zurückgehen, das Juristen auf dem Boden eines allgemeinen (nicht konfessionellen) Christentums im Zusammenhang mit dem Vernunftdenken der Aufklärung entwickelt haben. Toleranz und Menschenrechte mussten aber unbestritten gegen den heftigen Widerstand der Kirchen erkämpft werden (s. Kath. Kirche und Moderne). Unabhängig davon besagt die historische Entwicklung einer Rechtsnorm aber nichts über ihren heutigen Inhalt.
II. Christentum kein Verfassungsinhalt
Dem GG einschließlich seiner durch Art. 140 übernommenen „Kirchenartikel“ der WRV sind die Begriffe „Christentum“ oder „christlich“ vollständig unbekannt. Es kennt nur „Religion“, „Weltanschauung“, „Religionsgemeinschaft“, „Religionsgesellschaft“, „Gottesdienst“. Einzige verbale Verbindung zum „Christentum“ sind die Begriffe „Staatskirche“ in Art. 137 I WRV und „kirchlich“ in Art. 136 IV WRV, beide jedoch in negativer Weise: keine Staatskirche, kein Zwang zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit. Dass das GG über alle Religionsfreundlichkeit hinaus inhaltlich spezifisch christlich bzw. kirchlich orientiert sei, sollte man nicht ernsthaft behaupten können. Gelegentlich räumen das selbst stark kirchlich engagierte Juristen wie Martin Heckel ein: „Von der christlichen Tradition ‚des Abendlandes’...findet sich in der Staatsverfassung keine Spur“, sagt er[2]. Daran ändert weder die Gottesklausel der GG-Präambel etwas (s. Gott als Verfassungsbegriff) , noch der irritierende Tatbestand, dass einige Landesverfassungen nicht nur religiöse Präferenzen aufweisen, sondern sogar speziell auf das „christliche Sittengesetz“ Bezug nehmen u. ä. (s. Landesrecht).
Das gem. Art. 31 GG stets vorrangige GG hat demgegenüber sogar mehrfach und ausdrücklich Religion und (nichtreligiöse) Weltanschauung gleichgestellt (s. „Religion“ und „Weltanschauung“). Richtig ist nur, dass WRV und GG einen allgemeinen religionsrechtlichen Rahmen zur Verfügung stellen, der auf die (freilich stark schwindende) Volkskirchlichkeit der großen christlichen Kirchen in besonderer Weise formal zugeschnitten ist bzw. der den Kirchen im Ergebnis aus tatsächlichen Gründen am meisten zugute kommt (Religionsunterricht). Das macht die Verfassung aber nicht religiös oder gar speziell christlich. Formale Gleichheit wirkt sich immer unterschiedlich aus (keine Wirkungsneutralität).
An Versuchen, insbesondere der kath. Kirche, durch massive Einwirkung auf den Parlamentarischen Rat 1948/49 speziell kirchliche Forderungen im GG zu verankern, hat es nicht gefehlt. Sie brachten die Gefahr des Scheiterns der Verfassung mit sich, vermochten sich aber nicht durchzusetzen.
Aufklärung; Gott; Grundgesetz, Entstehungsgeschichte; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Katholische Kirche und Moderne; Körperschaftsstatus; Kooperation; Landesrecht; Menschenrechte; Naturrecht; Neutralität.
Literatur:
- Czermak, Gerhard: Das System der Religionsverfassung des Grundgesetzes, KJ 2000, 229-247 LINK .
© Gerhard Czermak / ifw (2017)