Geschichte der Religionsfreiheit

I. Europäische Sonderentwicklung

Die Entwicklung zur Trennung von Staat und Religion (Kirche) ist spezifisch europäisch und im Kulturvergleich ungewöhnlich. Bei den Einheitslösungen ist die religiöse Wahrheit zugleich Staatswahrheit, und sie dominierten historisch weltweit. Religion legitimierte und stützte die Herrschaft und diese sicherte die Existenz der Religion und schützte sie vor Konkurrenz. Demgegenüber unterscheiden Trennungslösungen zumindest grundsätzlich zwischen religiöser und politischer Macht als einer Voraussetzung zur Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften und Individuen. Aber selbst in Europa konnte sich die Religionsfreiheit wegen des Widerstandes der großen Kirchen erst ab dem 19. Jh. nach und nach im Großen und Ganzen durchsetzen. Im westlichen Europa ging es zunächst um die Vorherrschaft innerhalb der einen Christenheit. Zwar unterschied man grundsätzlich zwischen dem geistlichen und weltlichen Bereich, es gab aber stets zahlreiche Überschneidungen und Streitigkeiten. Die mittelalterliche Kirche konnte dabei zunächst Erfolge im Kampf um ihre Unabhängigkeit erringen, ja sogar vorübergehend die Überordnung über die weltliche Gewalt erreichen (Investiturstreit). Aber auch in Deutschland stand sie schließlich doch auf Reichsebene und in den Territorialstaaten und großen Städten trotz weiterhin großen Einflusses mehr auf der Verliererseite. Aufsichts- und Verwaltungsrechte des Staats über die Kirche und ihr Vermögen kennzeichneten das frühe Landeskirchentum, das sich nach der Reformation kräftig entwickelte.

II. Reformation und Absolutismus

Eine erste Voraussetzung für Religionsfreiheit schuf erst die Reformation. Sie brachte in Deutschland zunächst anstelle der Religionseinheit die Religionszweiheit (Augsburger Religionsfriede 1555) und dann, nach 30-jährigem Morden, die Glaubensdreiheit (Westfälischer Friede 1648), freilich nur reichsrechtlich-institutionell und unter Ausschluss aller anderen Konfessionen. Auf der Ebene der Einzelstaaten und Individuen blieb es zunächst beim Religionszwang, der aber vom Landesherrn ggf. durch geringfügige Zugeständnisse (etwa das Auswanderungsrecht) gelockert wurde. Erst die zumindest latent kirchen- oder im Einzelfall sogar verkappt religionskritische politische Philosophie der Aufklärung des 17. und 18. Jh. ließ das Individuum allmählich in den Vordergrund treten. Die mittelalterliche Lehre von der natürlichen Ungleichheit des Menschen wurde in der beginnenden Naturrechtslehre ersetzt durch den Gedanken der biologischen Artgleichheit und das Toleranzdenken. Der moderne europäische Staat der Aufklärung bildete in Deutschland aber unter wesentlicher Mitwirkung des Luthertums ein kräftiges Staatskirchentum aus. In ihm erscheint Kirche als innerstaatlicher Verband, der der Souveränität des Herrschers unterliegt. An die Stelle des mittelalterlichen Dualismus trat also die allgemeine staatliche Kirchenhoheit. Deren Restbestände wurden erst durch die WRV beseitigt. Aber in der Staatspraxis der Weimarer Zeit wirkten sie in Form einer gewissen Kirchenaufsicht systemfremd fort. Bis zur vollen individuellen und korporativen Religionsfreiheit war es noch ein weiter Weg. Die staatliche Sorge um das Seelenheil der Bürger wurde in den modernen Territorialstaaten ersetzt durch die Gewährleistung des inneren konfessionellen Friedens.

III. Großmacht Preußen

In Preußen lebten auch starke katholische Minderheiten und es bestand daher ein großes Interesse an konfessionellem Frieden. Im aufgeklärten Staat Friedrichs des Großen sollte jeder nach seiner Façon selig werden können, was sich aber nur auf die Religionsausübung im familiären Bereich bezog. Gegenüber den diversen kleinen christlichen Gemeinschaften wurde Toleranz geübt, worin Preußen anderen europäischen Staaten weit voraus war. Eine besondere Errungenschaft war insoweit die nach damaligen Verhältnissen freiheitliche Auffassung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 (ALR). Es verpflichtete die Kirchen ausdrücklich dazu, "ihren Mitgliedern Ehrfurcht gegen die Gottheit, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitbürger einzuflößen", instrumentalisierte also die Religion. Dieses Denken in der Kategorie der staatlichen Religionsfürsorge (cura religionis) ist freilich auch im heutigen Deutschland noch nicht verschwunden.

Die staatliche Kirchenhoheit über die "Religionsgesellschaften" bedeutete in Preußen (und anderswo) ein strenges Reglement, das in nicht weniger als 1232 Paragraphen festgelegt war, religionsdogmatische Fragen ausgenommen (siehe http://ra.smixx.de/Links-F-R/PrALR/PrALR-II-11.pdf ). Das ALR kannte drei reichsrechtlich anerkannte Kirchengesellschaften, die ihren Kult auch öffentlich ausüben durften, sowie nur geduldete Kirchengesellschaften minderen Rechts. Der König besaß die bischöflichen Rechte (Episkopalrechte) über die evangelische, reformierte und katholische Kirche. Sämtliche Religions- und Kirchengesellschaften mussten sich "in allen Angelegenheiten, die sie mit anderen bürgerlichen Gesellschaften gemein haben, nach den Gesetzen des Staates richten". Noch heute gilt die Formel des Art. 137 III WRV von den Schranken der für alle geltenden Gesetze. Man unterschied zwischen der allgemeinen Kirchenhoheit des Monarchen und seinen eigentlichen "kirchenregimentlichen" (innerkirchlichen) Befugnissen. Diese Unterscheidung ermöglichte im 19. Jh. eine allmähliche Trennung der innerkirchlichen Angelegenheiten aus der Einflusssphäre des Staates.

IV. Das 19. Jahrhundert

Am Anfang einer neuen Entwicklungsstufe stand eine Verfassungsrevolution, nämlich der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 mit seiner kompensatorischen Auflösung der rechtsrheinischen geistlichen Reichsfürstentümer (die ohnehin nicht mehr lebensfähig waren) und der Säkularisierung des Reichskirchenguts. So konnten moderne, räumlich zusammenhängende weltliche Staatsgebilde entstehen (s. Säkularisation). Es gab keine Reichsbischöfe mehr und die katholische Kirche musste sich (zu ihrem Vorteil) von ihrer Feudalstruktur trennen. Die neuen, lebensfähigen Mittelstaaten hatten nach 1803 und nach dem Wiener Kongress von 1815 starke konfessionelle Minderheiten, was die individuelle Religionsfreiheit begünstigte. Im Frühkonstitutionalismus deutscher Länder wurden wesentliche Prinzipien der Aufklärung anerkannt. Individuelle Religionsfreiheit und konfessionelle Parität wurden Leitprinzipien, und in beiden war das Trennungsprinzip angelegt. Im Einzelnen war die Entwicklung aber schwierig. Die deutschen Staaten blieben trotz individueller Religionsfreiheit christliche Staaten und hatten auch starke rechtliche Befugnisse hinsichtlich der Kirchen. In ihnen rangen der rein säkulare Staatszweck und die Idee des christlichen Staats miteinander. Insgesamt hatte die individuelle Religionsfreiheit den Vorrang vor der institutionellen. Der Status der Person folgte wesentlich dem Prinzip des religiösen Agnostizismus. Der öffentliche Status der Kirchen war bestimmt durch den Grundsatz der Parität und die Förderung der Großkirchen einerseits sowie die Respektierung der anderen Religionsgesellschaften auf niedrigerem Status andererseits. Auf das lange Kapitel des zwischen dem evangelischen Preußen Bismarcks und der katholischen Kirche erbittert geführten "Kirchenkampfs" mit seinen Zuspitzungen kann hier nur hingewiesen werden. Trotz aller Verklammerung von Staat und Religion auf Landesebene - das Reichsrecht ignorierte diese Fragen - schritt die Trennung beider fort. Der Prozess wurde durch den Summepiskopat der Landesherren (Beispiel: der katholische bayerische König war oberster Kirchenherr der Protestanten) fassadenhaft verdeckt, "bis sich dann im Jahre 1919 die äußere Trennung gleichsam als reife Frucht eines Jahrhunderts vom Baume der Geschichte löst[e]" (Martin Heckel).

V. Weimarer Zeit und Bundesrepublik

1. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 beseitigte endgültig den christlichen Staat und brachte zumindest theoretisch, auch durch die rechtliche Gleichstellung von Religion und nichtreligiöser Weltanschauung, volle individuelle und für die Religionsgemeinschaften institutionelle (korporative) Freiheit. Der gemäßigte Glaubensstaat war nunmehr Staat der Religionsfreiheit. Er wurde aber von den großen Kirchen überwiegend feindselig bekämpft, weil sie ihre religiöse Vormachtstellung bedroht sahen. Auch vermissten die Protestanten die besondere staatliche Fürsorge und die Katholiken den Zwang zum Religionsunterricht und die geistliche Schulaufsicht (s. Weimarer Verfassung). Auf die NS-Zeit mit ihren zahlreichen Übergriffen ist hier nicht weiter einzugehen, weil sie mit Religionsfreiheit nichts zu tun hatte und man sich gegenseitig nur arrangierte (s. aber zum Reichskonkordat unter Konkordate). Die Rechtsentwicklung wurde unterbrochen.

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) hat das Weimarer System nahezu vollständig übernommen, es aber ergänzt und durch die unmittelbare Rechtsgeltung der Grundrechte intensiviert. Verletzungen individueller Rechte können grundsätzlich bis vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden. Im Einzelnen ist die Problematik in zahlreichen Feldern sehr vielgestaltig. Obwohl die Bundesrepublik mit ihrem ausgefeilten Rechtsschutz religionsrechtlich mit an der Spitze der freiheitlichen Systeme steht, ist sowohl der persönliche wie der korporative Schutz der Religionsfreiheit in sehr vielen Einzelpunkten noch mangelhaft, weil auch die Gerichte vielfach das Gleichheitsgebot bzw. die Neutralität missachten.

VI. Europa

Das Verhältnis des Staats zu den Religionsgemeinschaften ist in den europäischen Staaten zwischen und neben den Extrempolen Trennung und Staatskirche sehr unterschiedlich ausgestaltet. Sowohl die in allen Ländern gültige Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als auch das Recht der EU lassen das zu. Die persönliche Religionsfreiheit ist aber in allen EU-Ländern mehr oder weniger gut gewährleistet. Das Recht der EU und eine Serie von Verurteilungen Griechenlands (starke Verankerung der Orthodoxen Kirche als Staatsreligion) durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Straßburg) werden Griechenland und ggf. weitere Länder dazu zwingen, die individuelle Religionsfreiheit besser zu achten, mit Rückwirkungen auf das Staat-Kirche-Verhältnis.

>> Aufklärung; Christentum und Grundgesetz; cura religionis; Europarecht; katholische Kirche und Moderne; Menschenrechte; Privilegien; Säkularisation; Staat und Religion - Grundmodelle; Toleranz; Trennungsgebot; Weimarer Verfassung.

Literatur:

  • v. Campenhausen, Axel/de Wall, Heinrich, Staatgggskirchenrecht, 4. A. München 2006.
  • Czermak, Gerhard: Religions- und Weltanschauungsrecht, Berlin/Heidelberg, 2. A. 2017.
  • Fuchs, W. P. (Hg.): Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, Stuttgart 1966.
  • Guggisberg, H. R. (Hg.): Religiöse Toleragggnz. Dokumente zur Geschichte einer Forderung, Stuttgart 1984.
  • Heckel, M.: Das Auseinandertreten von Staat und Kirche in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ZevKR 2000,173-200.
  • Huber, Ernst R./Huber, Wolfgang (Hg.): Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Berlin, 4 Bde, 1973-1988; (monumentales Standardwerk; endet mit Weimarer Zeit).
  • Lutz, Heinrich (Hg.): Zur Geschichte der Tolerggganz und Religiongggsfreiheit, Darmstadt 1977.
  • Potz, Richard/Schinkele, Brigitte: Religionsgggrecht im Überblick, 2. A. Wien 2007 (österr. Entwicklung).
  • Zippelius, Reinhold: Staat und Kirche. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. 2. A. Tübingen 2009

© Gerhard Czermak / ifw (2017)