Rezension zu Müller: Religion im Rechtsstaat - Von der Neutralität zur Toleranz
von Gerhard Czermak
Auch nach fast 70 Jahren Grundgesetz haben die deutsche Justiz und Rechtswissenschaft, trotz guter Fundierung im Grundgesetz, immer noch erhebliche Schwierigkeiten mit dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität [s. Lexikonartikel Neutralität]. Dieser Befund ist trotz der gravierenden Änderung der religionssoziologischen Situation und der allgemeinen Ideologieanfälligkeit des Religionsrechts erstaunlich, denn der Verfassungstext und somit seine Strukturprinzipien sind unverändert geblieben.
Es ist daher sinnvoll, den Blick auf Rechtsordnungen zu werfen, die zumindest gesellschaftlich ähnliche Voraussetzungen mitbringen. In der Schweiz gewährleistet die im Verhältnis zum Kantonsrecht vorrangige Bundesverfassung (BV) in Art. 15 die "Glaubens- und Gewissensfreiheit" mit einem Gehalt, der den wichtigen Inhalten des Art. 4 GG gleichkommt. Art. 15 II stellt religiöse und weltanschauliche Überzeugungen uneingeschränkt gleich. Art. 8 statuiert die Gleichheit vor dem Gesetz und untersagt auch jede Diskriminierung wegen einer religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung. Einschränkungen sind aber durch Gesetz oder auf gesetzlicher Grundlage zulässig.
Das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften ist allzu knapp lediglich in Art. 72 BV geregelt. Demnach sind die Kantone für die Regelung des Verhältnisses zwischen "Kirche und Staat" zuständig. Das wird im Einklang mit dem allgemeinen Verständnis des Art. 9 EMRK so verstanden, dass das kollektive/korporative Religionsrecht zwischen Religionsgemeinschaften differenzierende Regeln erlassen darf. Weiter heißt es: "Bund und Kantone können im Rahmen ihrer Zuständigkeit Maßnahmen treffen zur Wahrung des öffentlichen Friedens zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften" (vgl. Art. 137 VIII WRV). Das Kantonsrecht hat bis auf zwei Ausnahmen teilweise (manchmal deutliche) staatskirchliche Züge. Von Neutralität kann daher keine Rede sein.
Individualrechtlich folgt nach wohl herrschender schweizerischer Ansicht die Pflicht zur religiösen Neutralität des Staates direkt aus Art. 15 BV. Man sagt, Religionsfreiheit und religiöse Neutralität bezeichneten dasselbe aus verschiedenen Blickwinkeln. Wie bei uns versteht man die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Religions- und Weltanschauungsfreiheit) in einem subjektivrechtlichen und objektivrechtlichen Sinn mit Bindung für die gesamte Staatstätigkeit. Religiös neutrales Verhalten bedeutet nach ganz h. M. unparteiische Berücksichtigung aller religiös-weltanschaulichen Überzeugungen und damit das Verbot einseitiger Bevorzugung bzw. Benachteiligung (vgl. zum Ganzen und zu einzelnen Materien Andreas Kley, https://www.rwi.uzh.ch/dam/jcr:00000000-3d12-7c07-ffff-ffffccc9d77b/kley_rel_neutralitaet_2008.pdf (2008).
Angesichts der insoweit bestehenden Parallelität der Rechtsnormen, Rechtsprechung und Literatur zur Neutralität in der Schweiz und Deutschland überrascht die hier erörterte Streitschrift des Berner Ordinarius für Öffentliches Recht, Markus Müller. Mit dem Religionsverfassungsrecht hat er sich, soweit ersichtlich, bisher nicht besonders befasst. Aber Neulinge in einer Materie vermögen aus ihrer Außensicht oft schnell wunde Punkte zu erkennen. Als einen solchen hat Müller die religiöse Neutralität des Staats ausgemacht. Ansichten von Neulingen in einer Spezialmaterie können aber auch sehr problematisch sein.
Das Buch enthält einen längeren allgemeinen Teil mit Ausführungen zum Religions- und Rechtsbegriff, dem Stellenwert der Moral und zu gesellschaftspolitischen Fragen. Im Rahmen der Erörterung von Religion als rechtlichem Schutzgut lehnt Müller einen weiten und relativ unbestimmten Schutzbereich ab, weil der Staat genau definiere müsse, was er schütze. Er vermisst daher objektivierende Kriterien. Das subjektive Religionsverständnis führe dazu, dass schon geringfügige Irritationen wie Kreuze, Kruzifixe oder Lehrerinnenkopftücher zur Berufung auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit führten. Dabei sei eher zu fragen, ob hier die negative Religionsfreiheit überhaupt berührt sei. Denn die Glaubens- und Gewissensfreiheit schütze nicht vor religiöser Irritation und Kritik. Das Kreuz mit seinem Symbolgehalt (Opfertod) vermöge einen Freidenker oder Atheisten nicht grundrechtsrelevant zu beeinträchtigen, selbst wenn er unter der Wirkung des Symbols selber lange gelitten habe. Eine objektive Grundrechtsbeeinträchtigung seiner religiösen Identität liege nicht vor. Das, sei bemerkt, wertet der Rezensent gerade als "Beweis" für die Unrichtigkeit der Annahme eines engen Schutzbereichs, denn diese Verengung kann ja ebenfalls recht subjektiv und unberechenbar sein und einen erörterungsbedürftigen Rechtsschutz von vorneherein ausschließen. Die schon länger zurückliegende deutsche Debatte hat zu Recht zur breiten Annahme eines religionsrechtlich grundsätzlich weiten Schutzbereichs geführt. Umstrittene Fragen sind dann nicht schon von vorneherein von einer Wertung als Eingriff mit der Problematik einer Rechtfertigungsmöglichkeit abgeschnitten. Hingewiesen sei aber auf die deutsche Sonderdebatte zur Ausuferung der Religionsfreiheit auf den Bereich weit außerhalb der Kultusfreiheit.
Müller hält es sogar für fraglich, ob das Beschneidungsgebot vom Schutzbereich erfasst werden solle, weil es nur kulturell bzw. "parareligiös" begründet sei. Jedenfalls dürfte ihm zufolge die Knabenbeschneidung die "Bagatellgrenze" nicht überschreiten – eine recht holzschnittartige Pauschalbewertung. Eine geringe Sensibilität für religiöse und weltanschauliche Probleme lässt auch Müllers Ansicht erkennen, man könne Jedermann jede fremde Haltung zumuten, solange diese tolerant sei und die eigene religiöse Entfaltung darunter "nicht entscheidend" leide. Für den rein gesellschaftlichen Bereich ist diese Aussage natürlich mehr als selbstverständlich. Müller bezieht aber sogar den Fall des Kruzifixes im Gerichtssaal mit ein [s. dazu den Lexikon-Artikel Kreuz in Amtsräumen]. Kein Freidenker werde ja gehindert, weiterhin seine Weltanschauung zu leben. Ein Verbot einseitiger religiöser Beeinflussung kennt M. nicht [s. aber Glaubensfreiheit III und VII]. Gerade sein restriktives Sonderverständnis zur Religionsfreiheit würde es umso mehr erfordern, dass der Staat wenigstens objektivrechtlich ein nach ganz h. M. in Art. 15 BV enthaltenes konsequentes Neutralitätsgebot fordert. Das lehnt der Verfasser aber auf S. 77-92 ab.
Die religiöse Neutralität des Staats sei zwar (gemeint: bisher) ein tragender Pfeiler des helvetischen Schutzkonzepts. Gelte sie doch als Errungenschaft des modernen Verfassungsstaats, wenn nicht gar als wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit. Sie gelte auch dem Bundesgericht als unerlässliches Instrument und selbständiger Teil der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Hier setzt Müller ein großes Fragezeichen. Nach dem strengen Wortsinn des Art. 15 BV sei allerdings klar, was die Neutralität vom Staat verlange. Sie verbiete eine Ausrichtung auf eine bestimmte Religion sowohl in der Handlungsweise als auch Handlungswirkung in begünstigender oder belastender Form und gebiete ein unparteiisches, vorurteilsfreies Verhalten in religiösen Fragen. Jede Identifikation mit einer Religion sei untersagt, allen religiösen Überzeugungen sei möglichst gleichermaßen Rechnung zu tragen. Selbst nach Müller spricht einiges dafür, die Neutralität subjektiv- und objektivrechtlich nicht nur als Prinzip zu verstehen, sondern als Rechtsregel mit einklagbarem Anspruch auf neutrales staatliches Handeln.
All das entspricht weitgehend dem zumindest in der Theorie anerkannten deutschen Rechtsdenken. Anschließend unternimmt der Autor aber die schon im Untertitel angekündigte argumentative Wende. Der Realitätssinn habe Lehre und Praxis dazu bewogen, keine absolute, sondern lediglich eine relative Neutralität anzustreben. Demzufolge sei der Staat weder zur Indifferenz, noch zum strikten Laizismus verpflichtet. Diese auch in Deutschland häufig anzutreffende Argumentation ist, sei angemerkt, unehrlich. Denn in Lehre, Politik und Rechtspraxis gibt es so gut wie niemand, der dem Staat verbieten will, religiöse Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen und in der Rechtsordnung angemessen zu berücksichtigen, ohne sich dabei mit einer Auffassung zu identifizieren. Die Relativierung erfolge, so Müller, im Rahmen einer Güterabwägung und habe es dem "religiös neutralen Staat" bisher erlaubt, "der hiesigen christlichen Prägung und Verwurzelung durch eine sachgerechte Privilegierung Rechnung zu tragen. So erklärt sich etwa, wieso Bund und Kantone weiterhin christliche Traditionen pflegen …, christliche Symbole und Zeichen dulden …". Dem entspricht es, dass auch die schweizerische Bundesverfassung eine regelrechte Invocatio Dei enthält ("Im Namen Gottes des Allmächtigen!"), dass die Volksschule an "christlichen Werten" (welche denn?) ausgerichtet ist und christliche sowie jüdische Gemeinschaften privilegiert sind. Die zulässige Differenzierung im Rahmen der relativen Neutralität bedeute nichts anderes als die Gleichbehandlung der Religionsgenossen, was bereits Rechtsgleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot garantieren (S. 83). Die übliche Beschwörung eines religiös neutralen Staats wecke nur unrealistische Erwartungen.
Religiöse Neutralität des Staats setzt nach M. voraus, dass seine Organe und Amtsträger dazu in der Lage sind und private religiöse Neigungen hintanstellen. Eine solche Rollentrennung sei aber unrealistisch. "Der nüchtern vernünftige Umgang mit rechtlichen, rechtspolitischen und gesellschaftlichen Fragestellungen … ist ein die menschliche Natur überforderndes Ansinnen." (S. 85) Aufgrund der Wirksamkeit des Unbewussten sei nicht erstaunlich, dass insbesondere das Verfassungsrecht "in christlichen Gerechtigkeitsidealen verwurzelt" sei. Daher müsse man nach Möglichkeiten suchen, das bisherige Neutralitätsideal zu überwinden (S. 87-90).
Jeder Mensch sei unabhängig von seiner Einstellung zum Religiösen religiös vorgeprägt, zumal Kinder zwangsläufig "unscheinbaren religiösen Berieselungen" ausgesetzt seien. Man müsse begreifen, "dass solche frühkindlichen Einflüsse in der Persönlichkeit irreversible Spuren hinterlassen." Diese dürfe man nicht verdrängen, sondern sie seien bewusst zu machen. Die vielfältigen Rollen der Person seien zu organisieren unter der nachlebbaren "Leitidee der ‚relativen Neutralität‘ ". In Staat und Gesellschaft sei die Wirkkraft einer vorherrschenden Leitkultur anzuerkennen, ohne dass Andersdenkende autoritär darauf verpflichtet würden (S. 90). Die religiöse Neutralität des Staats, ein bloßes Etikett, bedürfe daher der Änderung durch ein modifiziertes Schutzkonzept (S. 133-160).
Ein Abschnitt trägt den Titel "Religiös geprägter Staat" (S. 140-150). Der Staat müsse anerkennen, "dass er in seiner Gesamtheit ein religiös geprägtes Gebilde ist", nämlich wesentlich im christlich-jüdischen Sinn. Das müsse der Staat auch in seinem Handeln reflektieren. Die überwiegende Mehrzahl seiner Amtsträger sei ohnehin religiös geprägt.
Dazu sei aber doch angemerkt: Nach dem Schweizer Bundesamt für Statistik, Erhebungsstand 2016, waren immerhin über 25% der Wohnbevölkerung "konfessionslos". An einen einzigen Gott ("persönlich" oder nicht) glaubten nur gut 45 % der Einwohner https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/religionen.html . Von diesem großen Teil der Bevölkerung nimmt Müller keine Notiz.
Müller plädiert angesichts der von ihm fehlerhaft angenommenen Sachlage für ein gesellschaftspolitisches Großprojekt: "Vom Mythos des säkular-neutralen zur Realität des religiös geprägten Staats" (S. 140 f.). Der Staat müsse seine faktische Religiosität anerkennen, inhaltlich als "christlich-jüdische" begreifen, sich somit als Partei positionieren und dabei deutlich für einen religiösen Pluralismus engagieren. Eine religiös indifferente und ignorante Position tue sich schwer im respektvollen Umgang mit unvertrauten Glaubensrichtungen. Ein indifferenter Staat verkenne die Grundbedingungen seines Funktionierens (S. 142). Der Staat habe aber diejenigen Kräfte zu stärken, "die sich das moralische Fundament der einzelnen Menschen und damit der Gesellschaft zur Aufgabe gemacht haben", nämlich hauptsächlich die christlich-jüdischen Religionsgemeinschaften. Es sei nach dem zu erwartenden "gesellschaftlichen Nutzen" zu differenzieren. Sodann beschwört M. den alle Weltreligionen verbindenden ethischen Grundkonsens, nämlich die Goldene Regel bzw. das Liebesgebot. Diesen Grundkonsens solle der Staat zur Richtschnur seines Handelns erklären und umsetzen. Eine solche "suprareligiöse" ethische Basis wirke friedenstiftend. Letztlich schwebt dem Verfasser eine gemeinsame Weltreligion nach Art. des "Projekts Weltethos" vor (S. 149). Der von ihm angestrebte Staat ist christlich-jüdisch geprägt und somit nicht religiös unparteilich. Er müsse aber tolerant sein im Sinn einer dialogischen respektvollen Haltung, die den Anderen "als gleichwertig achtet". Das sei in der Verfassung zu verankern.
Wegen der Fülle problematischer Gedanken und des manchmal vermissten roten Fadens erscheint eine kritische, aber faire Beurteilung der Streitschrift nicht ganz leicht. Das Anliegen eines religiös-ethisch fundierten Grundkonsenses im pluralistischen Staat (S. 144 ff.) "zur langfristigen Überwindung religiöser und damit gesellschaftlicher Konflikte" (S. 160), wird im Text nicht sehr zielstrebig verfolgt. Juristische, gesellschaftspolitische und religionspolitische Ausführungen werden oft nicht klar getrennt. Die verfassungsrechtlichen Überschneidungen von individueller und kollektiver Religionsfreiheit bzw. Neutralität werden nicht recht deutlich. Der Verfasser zeigt ein besonderes Interesse an Fragen der katholischen Kirche und versucht sich sogar in Bibelinterpretationen. Besonders fällt (wie auch in vielen deutschen Publikationen) auf, dass die Interessen der stattlichen Minderheiten von Menschen, die keiner der großen Kirchen angehören (insbesondere wenn sie, wie in der Regel, nichtreligiös sind), praktisch unter den Tisch fallen. Ja schlimmer: Nichtgläubige werden nicht als im Grundsatz ethisch gleichberechtigt anerkannt, ist doch jeder [richtige, Cz] Mensch von Natur aus religiös geprägt. Ist das nichtreligiöse Viertel der schweizerischen Bevölkerung ethisch defizitär? Ja, lautet die Antwort von Markus Müller: "Wer nämlich jede religiöse Gesinnung von sich weist, dem wird es schwer fallen, für religiöse Empfindungen und Empfindlichkeiten anderer die notwendige Empathie aufzubringen." (S. 141 f.; Zitat 152).
Auffällig ist eine gewisse Geschichtsblindheit der Schrift. Gern ist von der christlich-jüdischen Prägung von Staat und Gesellschaft die Rede, nicht aber davon, dass alle wesentlichen Errungenschaften des modernen Rechtsstaats (neben der Demokratie und den Grundrechten, darunter insbesondere auch die Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung der Geschlechter) von den Kirchen bis weit ins 20. Jh. hinein mit oft großer Erbitterung bekämpft wurden. Etwaige regionale europäische Unterschiede können hier außer Acht bleiben. Auch das bedeutende geistige Erbe der Antike und Aufklärung wird dabei ausgeblendet. Das Jüdische Erbe ist zwar bedeutend, war es aber nicht in der europäischen Gesamtgesellschaft. Dort herrschte über weite räumliche und zeitliche Strecken seit bald 2000 Jahren ja die Judenverfolgung. (Siehe zum Ganzen die Lexikonartikel Abendland; Christentum und Grundgesetz; Katholische Kirche und Moderne.)
Aus juristischer Sicht dürfte die meisten Leser stören, dass ausgerechnet ein auch im Rechtssinn religiös geprägter Staat bei wachsender Pluralisierung besser geeignet sein soll, die Gesellschaft zu integrieren (ethischer Grundkonsens), als ein "neutraler" Staat [zur Integration s. den Lexikon-Artikel Recht, Moral und Religion]. Sie halten es wohl lieber mit einem Satz wie: "Eine politische Ordnung, die Religionsfreiheit als eigenes Verfassungsprinzip anerkennt … sucht ihre eigene Legitimation nicht mehr in der Religion" (so E.-W. Böckenförde, beispielhaft für nahezu die gesamte Gilde der deutschen Staatsrechtslehrer).
Etwas aus der Zeit wirkt die paternalistische Tendenz der Arbeit. Stark irritiert die Forderung, die Schweiz solle von der religiösen Neutralität Abstand nehmen, weil sie ja in der Rechtswirklichkeit ohnehin nicht respektiert werde und das auch gar nicht möglich sei. Unklar bleibt, ob der derzeitige Zustand mangelnder Neutralität einfach geduldet werden soll oder ob gar indirekt zum Rechtsbruch aufgefordert wird. Wie die rechtliche Position des wachsenden Anteils der Nichtreligiösen im lediglich toleranten Staat aussehen soll, ob sie nur eine Frage der jeweiligen Parlamentsmehrheit sein soll und wie sie mit Art. 9 EMRK zu vereinbaren ist, bleibt offen. Wenn einerseits aus Gründen der Objektivierung der Schutzbereich des Art. 15 BV stark eingeschränkt werden soll, andererseits aber reichlich unbestimmte Begriffe eingeführt werden wie gesellschaftlicher Nutzen, christliche Gerechtigkeitsideale, vorherrschende Leitkultur, Toleranz, so ist das inkonsequent. Das Verhältnis von Toleranz und Neutralität erscheint klärungsbedürftig.
Wichtige Hintergrundthesen bleiben unbegründet, etwa diejenige, religiöse Menschen seien besser (so die indirekte Behauptung) und Amtsträger (S. 84 f.) seien i.d.R. nicht in der Lage, sich in religiösen Dingen professionell neutral zu verhalten. Dem ist zu entgegnen: Das Verhalten der Amtsträger ist mehr eine Frage des Wollens und der rechtlich-politischen Begleitumstände einschließlich der staatlichen Kontrolle.
Nach allem stellt sich die Frage, warum sich ein Juraprofessor solcher Kritik aussetzt.
Für den deutschen Leser ist das Buch interessant, weil es auf die auch in Deutschland enorme latente und manchmal auch offene Gefahr für die nach dem GG umfassend geltende Neutralität des Staats hinweist. Es reicht schon, dass Rechtsanwendung und auch Gesetzgebung vielfältig und auch gravierend das Neutralitätsgebot missachten (dazu der Lexikon-Artikel Privilegien), obwohl es durch die Texte des GG klarer konturiert ist als in der Schweiz. Umso mehr sind die zahlreichen Bestrebungen von Juristen und Politikern zu bekämpfen, das Neutralitätsgebot aufzuweichen in Richtung eines zumindest verdünnt-religiösen Staats. Natürlich sind Schulen in manchen Bundesländern nicht oder nicht ohne weiteres religiös-weltanschaulich neutral, aber nicht, weil das generell nicht möglich wäre, sondern weil es das Ergebnis einer jahrzehntelangen rechtswidrigen christlichen Schulpolitik (Lexikon-Artikel christliche Schulpolitik) ist, die selbst starke religiöse Einflüsse nicht sanktioniert. Das weitgehende Fehlen einer qualifizierten staatsbürgerlichen Bildung (zu wichtigen diesbezüglichen Grundfragen https://weltanschauungsrecht.de/meldung/verbot-staatsideologie ) verstärkt das Defizit. Religiös-weltanschaulich neutrales Verhalten von Lehrern auf der Basis der (auch wertgebundenen) Essentialia des GG [s. Leitprinzipien des Grundgesetzes] ist sicher schwierig zu erreichen. Dabei kann und soll kein Lehrer seine persönliche Überzeugung unterdrücken. Er muss sie aber möglichst zurückhaltend zum Ausdruck bringen und sich formal und inhaltlich um "Neutralität" bzw. "Objektivität" im Rahmen des Möglichen bemühen.
Neutralität bedeutet im Kern schlicht Unparteilichkeit unter Beachtung der neutralen Begründbarkeit von Normen und Entscheidungen [s. hierzu den Artikel Liberale Rechtstheorie; grundlegend Stefan Huster, s. https://weltanschauungsrecht.de/meldung/ethische-neutralitaet-des-staates ]. Das bedeutet zunächst nichts anderes als das formale Gebot der Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte. Damit ist die ganze umfangreiche und diffizile Problematik des Allgemeinen Gleichheitssatzes von Bedeutung. Dieser ist – anscheinend im Gegensatz zur Ansicht Müllers – trotz aller Schwierigkeiten rechtlich operabel. Das muss auch für Religion und Weltanschauung gelten.
Für das Religionsrecht gilt nach wie vor der Aufruf von Helmut Quaritsch: "Zurück zur juristischen Methode im Staatskirchenrecht" (NJW 1967, 764). – G. Czermak, 23.2.2018
Markus Müller: "Religion im Rechtsstaat. Von der Neutralität zur Toleranz". Stämpfli Verlag AG, Bern 2017, 188 S., ISBN978-3-7272-0536-1