Plädoyer für einen weltanschaulich neutralen Staat
Von Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier
Weltanschauungspolitik aus säkularer Sicht
Februar 2017
Niemals zuvor gab es in Deutschland eine solche weltanschauliche Vielfalt. Die Zeiten, in denen neunzig Prozent der Deutschen einer der beiden christlichen Großkirchen angehörten, sind lange vorbei. Inzwischen leben hierzulande mehr konfessionsfreie Bürgerinnen und Bürger als Katholiken oder Protestanten, in vielen Großstädten stellen sie die absolute Mehrheit. Von dieser weltanschaulichen Pluralität ist in der Rechtspolitik jedoch wenig zu spüren. Im Gegenteil: Je genauer man hinschaut, desto klarer zeigt sich, dass viele Gesetze noch immer auf christlichen Überzeugungen beruhen. Noch immer bestimmen sie das Leben der Bürgerinnen und Bürger von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich vom Embryonenschutzgesetz (Einschränkung der Präimplantationsdiagnostik aufgrund einer vermeintlichen ‚Simultanbeseelung‘) bis hin zur Bestattungspflicht (‚Auferstehung der Toten‘ in ‚geweihter Erde‘).
Rechtsphilosophisch betrachtet ist dies ein unhaltbarer Zustand. Denn er verstößt gegen das für die offene Gesellschaft konstitutive Gebot der ‚weltanschaulichen Neutralität‘ des Staates, das vom Bundesverfassungsgericht bereits 1965 in lobenswerter Klarheit herausgestellt wurde: "Das Grundgesetz legt dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse."[1]
Dabei gab es durchaus Bemühungen, dem Neutralitätsgebot größeres Gewicht beizumessen. So wurden im Rahmen der ‚Großen Strafrechtsreform‘ der 1960er- und 1970er-Jahre – teils gegen den erbitterten Widerstand der Kirchen – die alten christlichen ‚Sittlichkeitsparagraphen‘ abgeschafft oder zumindest revidiert. Fortan wurde beispielsweise der Tatbestand der ‚Kuppelei‘, etwa das Überlassen eines Zimmers an ein unverheiratetes Pärchen (theologischer Hintergrund: Ehesakrament), nicht mehr bestraft. Auch die massive Verfolgung von Schwulen (basierend auf Passagen im Alten und Neuen Testament), die in Westdeutschland zu rund 100.000 Verfahren führte und die Existenz vieler Männer bedrohte, wenn nicht gar vernichtete, wurde gestoppt. Zweifellos ein wichtiger gesellschaftlicher Fortschritt, der dazu führte, dass der unrühmliche ‚Anti-Schwulen-Paragraph‘ (§ 175 StGB) 1994 gänzlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde.
Trotz solcher Erfolge muss man feststellen, dass die Reformbemühungen auf halbem Wege stehen geblieben sind. Schlimmer noch: Seit dem Karlsruher Urteil von 1965 ist es immer wieder zu Rückschritten gekommen, das heißt zur Verabschiedung von Gesetzen, die neutralere Regelungen außer Kraft setzten und religiöse Normen zum verbindlichen Verhaltenskodex auch für nicht-religiöse Bürgerinnen und Bürger erhoben. Ein markantes Beispiel hierfür ist das sogenannte Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB), das im November 2015 vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde.
1. § 217 StGB als Verstoß gegen das Gebot der weltanschaulichen Neutr
alitätEs ist nicht zuletzt dem Einfluss christlicher Lobbyisten geschuldet, dass dieses paternalistische ‚Sterbehilfeverhinderungsgesetz‘ gegen den Willen von achtzig Prozent der Bürgerinnen und Bürger sowie gegen das Votum der deutschen Strafrechtslehrer auf den Weg gebracht wurde. Dank der Hilfe christlich-konservativer Politiker ist es den Kirchen gelungen, mit § 217 StGB de jure einen Teil der Deutungshoheit über den Sterbeprozess wiederzugewinnen, den sie de facto längst verloren hatten. Sie instrumentalisierten das Parlament, um der Bevölkerung eine religiös begründete Verhaltensnorm aufzuzwingen (basierend auf der Vorstellung, das Leben sei ein ‚Geschenk Gottes‘, über das der einzelne Mensch nicht verfügen dürfe), die nur noch von einer gesellschaftlichen Minderheit akzeptiert wird.
Dabei ist es nicht verwerflich, wenn sich Politikerinnen und Politiker für ihren Glauben engagieren und ihre persönliche Lebensführung an den Vorgaben ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft ausrichten. Verwerflich ist es aber sehr wohl, wenn sie die Einrichtungen des weltanschaulich neutralen Staates missbrauchen, um weltanschaulich geprägte Überzeugungen zur Strafnorm zu erheben. Denn es ist dem Staat zwingend verwehrt, sich mit religiösen Symbolen oder Ansichten zu identifizieren oder diese zu bevorzugen. Das Neutralitätsgebot ist ein objektives Verfassungsgebot, das auch für Gesetzgebungsverfahren im Bundestag gilt. Der Jurist Gerhard Czermak schreibt dazu: "Staatliche Regulierungen sind nur auf der Grundlage solcher Argumente zulässig, die keine besonderen religiösen oder philosophischen Lehren voraussetzen. Sie dürfen nur auf Grund solcher Rechtsgüter erfolgen, deren Vorrang im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit neutral (rational) begründet werden kann. Neutralität ist daher kein abwägungsfähiges Rechtsgut, sondern eine absolute Grenze staatlichen Handelns."[2]
Diese absolute Neutralitätsverpflichtung des Staates basiert insbesondere auf dem einzigen unabwägbaren Gebot der Verfassung, nämlich der Achtung der unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Weil die Würde des Einzelnen maßgeblich dadurch bestimmt ist, dass er selbst derjenige ist, der seine Würde bestimmt, muss der Rechtsstaat peinlich genau darauf achten, dass seine Gesetze die Pluralität der Würdedefinitionen seiner Bürgerinnen und Bürger hinreichend berücksichtigen. Bezogen auf die Sterbehilfe heißt dies, dass der Staat es einem strenggläubigen Katholiken ermöglichen muss, den Überzeugungen von Papst Johannes Paul II. zu folgen, der Schmerzen als "Teilhabe an den Leiden des gekreuzigten Christus" pries und meinte, dass "Selbstmord ebenso sittlich unannehmbar ist wie Mord".[3] Er muss es aber auch einem Anhänger der Philosophie Friedrich Nietzsches erlauben, "frei zum Tode und frei im Tode" zu sein, denn aus dieser Perspektive gilt allein der selbstbestimmte, wohlüberlegte "Freitod" als "vernünftig", der "natürliche Tod" hingegen als "unvernünftig" und "würdelos".[4]
Zwischen der Ächtung des Suizids bei Johannes Paul II. und der Ächtung des natürlichen Todes bei Nietzsche gibt es ein breites Spektrum an unterschiedlichen weltanschaulich geprägten Wertehaltungen, über die seit Jahrhunderten gestritten wird. An diesem Streit darf sich jedes Mitglied der Zivilgesellschaft beteiligen, der liberale Rechtsstaat muss sich hierbei jedoch zurückhalten. Auf keinen Fall darf er sich – wie dies bei der Verabschiedung von § 217 StGB in verhüllender Weise geschehen ist – zum Anwalt einer spezifischen Weltanschauung machen und deren Werte zur allgemeinverbindlichen Norm erheben, denn dies ist unweigerlich mit einem Verstoß gegen das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität und das Diskriminierungsverbot der Verfassung (Art. 3 Abs. 3, Art. 4 Abs. 1, Art. 140 GG) verbunden.
2. Der Rechtsstaat auf dem Prüfstand
§ 217 StGB ist nur ein Beispiel unter vielen. Schon allein die Nennung der unzähligen Gesetze und Verordnungen im Strafrecht, Steuerrecht, Medienrecht, Medizinrecht, in den Landesverfassungen, Feiertagsgesetzen, Schulordnungen und so weiter, die gegen das Gebot der weltanschaulichen Neutralität verstoßen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
Ich meine, dass eine solche Missachtung oberster Verfassungsprinzipien nicht länger hingenommen werden darf. Es ist an der Zeit, den Rechtsstaat unter dem Blickwinkel des Neutralitätsgebots grundlegend auf den Prüfstand zu stellen. Denn so viel ist sicher: Nur ein weltanschaulich neutraler Staat kann eine ‚Heimstatt aller Staatsbürger‘ sein. Nur er kann allen Bürgerinnen und Bürgern Weltanschauungsfreiheit garantieren. Nur er besitzt die Glaubwürdigkeit, in Konfliktfällen als unparteiischer Schiedsrichter aufzutreten und für die Einhaltung verbindlicher Regeln zu sorgen, da er sich von keinem Akteur auf dem weltanschaulich-religiösen Spielfeld vereinnahmen lässt.
Bislang haben sich die Vertreter der Kirchen fast durchgängig gegen eine Stärkung des Gebots der weltanschaulichen Neutralität ausgesprochen, da dies unweigerlich mit einem Verlust kirchlicher Privilegien einhergehen würde. Doch es gibt Ausnahmen. Der Kölner Theologieprofessor Hans-Joachim Höhn beispielsweise trat nicht nur für das Neutralitätsgebot ein, er wagte es sogar, das in religiösen Kreisen zur Verteidigung der eigenen Privilegien strapazierte ‚Böckenförde-Diktum‘ vom Kopf auf die Füße zu stellen: "In weltanschaulich pluralen Gesellschaften leben Religionen von Voraussetzungen, die sie selbst nicht sichern können."[5]
In der Tat ist es so, dass der weltanschaulich neutrale Staat zwar die Voraussetzungen für eine freie Religionsausübung schafft, seinerseits aber keinerlei religiöser Legitimation bedarf. Derartige Legitimationen stehen sogar im Widerspruch zu der für den Rechtsstaat zentralen Idee des Gesellschaftsvertrags, die besagt, dass die Werte des Zusammenlebens nicht durch ‚höhere‘ (religiöse) Instanzen vorgegeben sind, sondern unter den Gesellschaftsmitgliedern rational, fair und demokratisch ausgehandelt werden.
Auch aus diesem Grund sollten die Repräsentanten des Rechtsstaats auf religiöse Begründungsmuster tunlichst verzichten, Abstand zu Glaubensvertretern halten und unter gar keinen Umständen den Eindruck erwecken, dass die Religionen in irgendeiner Weise über dem Gesetz stünden. In dieser Hinsicht sind in Deutschland leider schwere Fehler gemacht worden. Gelänge es, sie zu korrigieren, wäre es deutlich einfacher, die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen.[6]
- [1] BVerfGE 19, 206
- [2] Gerhard Czermak: Weltanschauung in Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit. Aschaffenburg 2015, S. 31.
- [3] Johannes Paul II.: Evangelium vitae. Rom 1995, Kapitel 66 / 67
- [4] Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. In: Friedrich Nietzsche: Werke. Herausgegeben von Karl Schlechta. München 1954, Band 1, S. 949; sowie Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Nietzsche, Werke, Band 2, S. 333ff.
- [5] Hans-Joachim Höhn: Wer braucht eigentlich wen? Über die Rücksicht auf religiöse Belange im liberalen Verfassungsstaat. In: Winfried Kretschmann/Verena Wodtke-Werner (Hrsg.): Wie viel Religion verträgt der Staat? Ostfildern 2014, S. 126. Ich selbst modifiziere das "Böckenförde-Diktum" in etwas anderer Weise, mein "alternatives Diktum" lautet: Die Gesetze des säkularen Rechtsstaates sollten nicht auf Voraussetzungen beruhen, die er nicht selbst geschaffen hat – insbesondere dann nicht, wenn dies zur Beschneidung legitimer Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger führt.
- [6] Weiterführende Argumente und Quellenangaben finden sich in den Veröffentlichungen des Verfassers, u.a. in dem Buch Die Grenzen der Toleranz – Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen (München: Piper Verlag 2016) sowie in der beim BVerfG eingereichten Stellungnahme zu den Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB ‚Freitodhilfe im liberalen Rechtsstaat‘ (online abrufbar über die Website der Giordano-Bruno-Stiftung: https://www.giordano-bruno-stiftung.de/sites/gbs/files/stellungnahme_217stgb.pdf, veröffentlicht am 4.10.2016).
Beitrag im Sammelband "Religion
spolitik heute", Herder Verlag, 2017.Datum: 02/2017