Dogmatik

I. Allgemeines zur Rechtsdogmatik

1. Vor allem im Zusammenhang mit den Grundrechten wird in diesem Buch mehrfach von Rechtsdogmatik bzw. Grundrechtsdogmatik gesprochen. In der Rechtsdiskussion ist der aus dem Griechischen kommende Begriff alltäglich. Juristische Laien dürften ihm wegen der Assoziation mit Dogmatismus oder konservativer Erstarrung skeptisch gegenüberstehen. "Dogma" bedeutet etwa "festgelegte Meinung" oder gar "verbindlicher Lehrsatz". In der Theologie sind damit nicht hinterfragbare autoritative Glaubenssätze verbunden. In der Jurisprudenz ist die Bedeutung eine entscheidend andere.

2. Aufgabe der Rechtsdogmatik ist es, das geltende Recht möglichst rational nach bestimmten Regeln zu finden, konkret anzuwenden und überzeugend nachvollziehbar zu erklären. Es geht nicht um "Wahrheit", sondern um "Richtigkeit" im Rahmen eines Rechtssystems. Dabei sollen sich die Lösungen von Rechtsfragen möglichst widerspruchsfrei in das System einfügen. Gleichzeitig sollen sie den konkreten Bedürfnissen der Gesellschaft auf der Basis gemeinsamer Grundvorstellungen von Gerechtigkeit gerecht werden (Folgenabwägung). Die R. systematisiert den unübersichtlichen Rechtsstoff, macht Ordnungszusammenhänge durchschaubar und bietet generell anwendbare Lösungsmuster für bestimmte Arten von Rechtsfragen. Wenn neue Probleme auftreten, bietet die Rechtsdogmatik nach kritisch-offenem Diskurs für weitere Fälle Lösungsangebote, ohne dass alle Fragen stets wieder neu diskutiert werden müssten. Dadurch werden rechtliche Entscheidungen besser vorhersehbar. Die Dogmatik – eine Art "gespeicherte Diskussion" (Bernd Rüthers) – rationalisiert und stabilisiert das Recht, bietet aber gleichzeitig durch ihre Systematik auch die Voraussetzung für Entscheidungskritik, Rechtsfortbildung und Rechtserneuerung. Sie deckt argumentative Schwächen von Rechtsentscheidungen auf. Es geht um die vielfältigen Fragen der Auslegung von Rechtstexten, der Feststellung und regelgerechten Füllung von Rechtslücken und erforderlichenfalls um Fortbildung des Rechts. Trotz der konservativ-stabilisierenden Funktion darf R. also nie "dogmatisch" im Sinn tabuisierter Sätze sein, sondern muss stets offen bleiben für neue Entwicklungen. Wer deutlich bessere Argumente hat, dessen Meinung soll sich bei richtig verstandener Rechtsdogmatik durchsetzen.

II. Rechtsdogmatik im Religionsrecht

Im Religions- und Religionsverfassungsrecht (traditionell: Staatskirchenrecht) geht es in besonderer Weise um Interessen. Das Rechtsgebiet ist daher ideologisch hoch aufgeladen. Daher ist bzw. wäre hier eine rechtsdogmatisch sorgfältige Vorgehensweise von noch größerer Bedeutung als sonst. Der traditionellen Rechtsanwendung und Literatur zu diesem Rechtsgebiet wird zu Recht oft vorgeworfen, die Rechtsdogmatik, d. h. die ansonsten anerkannten Regeln, zu sehr zugunsten kirchen- bzw. religionsfreundlicher Ergebnisse zu vernachlässigen. Somit werden andere religiös-weltanschauliche Meinungen und Einrichtungen benachteiligt.

>> Grundrechtsdogmatik; Religionsfreiheit

Literatur:

  • Rüthers, Bernd/ Fischer, Christian/ Birk, Axel: Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, München, 9. A. 2016.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)