Staat und Religion – Grundmodelle

I. Drei Grundtypen in westlichen Ländern

Kennzeichen des Staatskirchentums sind enge und weit gehende institutionelle Verbindungen zwischen staatlichen und kirchlichen Organen. Es gibt solche Systeme noch in England, Dänemark, Griechenland und Finnland und in einigen Schweizer Kantonen, also zumeist in protestantisch dominierten Staaten. Norwegen hat 2012 den staatskirchlichen Charakter des Religionssystems zumindest abgeschwächt, Schweden ihn 2000 nach vorangegangener großer Mehrheit in der Kirchensynode für die Änderung beseitigt. Ein ursprünglich relativ striktes Trennungssystem gibt es seit 1905 im katholischen Frankreich sowie von Anfang an in den hauptsächlich protestantischen USA. Viele Länder weisen unterschiedliche Mischtypen auf.

II. Trennungsmodelle

1. Das französische Trennungsgesetz von 1905 ist seinerzeit – historisch verständlich – erklärtermaßen kirchenkritischer Absicht entsprungen. Religion sollte aus der Öffentlichkeit möglichst verdrängt werden. Es ist (ausgenommen die drei östlichen Departements am Rhein) ein System der Laizität, das man in Deutschland oft als laizistisch bezeichnet und mit dem Signum der Kirchenfeindlichkeit versieht. Allerdings ist heute die Religionsfreiheit auch in Frankreich gut entwickelt, von der unfairen Behandlung sog. Sekten einmal abgesehen (s. Sekten). Die ausgeweiteten Aufgaben des Sozialstaats haben vielfältige Kooperationen zwischen Staat und Kirchen notwendig zur Folge. Die staatlichen Schulen sind zwar nicht christlich angehaucht (wie in Deutschland z. T. noch sehr weitgehend), dafür ist das katholische Privatschulsystem aber gut ausgebaut und staatlich subventioniert. Das Staat-Kirche-Verhältnis im Frankreich von heute ist – bei im Wesentlichen gleichen Rechtsnormen – heute ein anderes als 1905. Der Begriff der Laizität (laïcité) wird stark diskutiert.

2. Zu den Trennungssystemen gehört auch das niederländische System. Relativ strikte Trennungssysteme gibt es auch in einigen Schweizer Kantonen. Eigenartigerweise enthält die Verfassung von Irland, die mit der außergewöhnlichen förmlichen Anrufung der Allerheiligsten Dreifaltigkeit und des göttlichen Herrn Jesus Christus beginnt, eine sehr weitgehende rechtliche Trennung von Staat und Religion und versagt allen Religionen finanzielle Unterstützung.

3. In den USA erfolgte die strikte Trennung (wall of separation) in religionsfreundlicher Absicht und war Ausdruck der staatspolitisch gleichgearteten Interessen der überaus zahlreichen unterschiedlichen christlichen Denominationen, die in Europa vielfach unterdrückt worden waren. Auch heute noch ist in den USA eine strikte Trennung relativ gut ausgeprägt. Es gibt kein Schulgebet, abgesehen vom nationalreligiösen "pledge of allegiance", das seit 1954 mit dem heute umstrittenen Zusatz "Nation under God" gesprochen wird. Kreuzsymbole in Schulen sind aber undenkbar. Dennoch ist das Land ungleich religiöser geprägt als etwa Deutschland und es gibt bei aller religiösen Freiheit für die einzelnen Richtungen außerdem (obwohl nach dem Trennungsgrundsatz problematisch) viel staatlich-öffentliche Zivilreligion. Bekanntlich schwört der Präsident auf die Bibel und (ausgerechnet) die Banknoten enthalten den Satz: "In God we trust", und anderes mehr. Eine markante Wendung in Richtung weg von der Verfassung und hin zu religiösem Fundamentalismus vollzog seit 2001 die Regierung G. W. Bush. Im Übrigen konnte der Katholizismus in den USA, obwohl dort eine Minderheit, trotz traditionell akzentuierter Trennung von Staat und Religion eine sehr starke Position erringen. In vielen Fragen, insbesondere bei der Grundrechtsauslegung, ergeben sich trotz anderer verfassungsrechtlicher Ausgangslage ganz ähnliche Fragestellungen und Lösungen wie in Deutschland. Die weitere Entwicklung ist derzeit offen.

4. Deutschland ist nach hier vertretener Ansicht (s. Trennungsgebot) rein verfassungsrechtlich den Trennungssystemen stark angenähert, während die Staats- und Rechtspraxis weitgehend durch institutionelle und tatsächliche einseitige Kooperation geprägt ist.

III. Mischtypen

Viele europäische Länder haben Systeme, die noch mehr zwischen den Grundtypen der Staatskirche und der Trennung liegen und in denen Staat und Religionsgemeinschaften bei grundsätzlicher Trennung doch vielfältig kooperieren. Zu diesen Staaten zählt man Belgien, Spanien, Italien, Portugal, Österreich und auch Deutschland. Demgegenüber ist Deutschland bei Licht betrachtet viel eher zu den Trennungssystemen zu rechnen, s. oben.

IV. Konvergenzen

Trotz aller Unterschiedlichkeit der Systeme mit ihren internen Widersprüchlichkeiten ist bei fließenden Übergängen eine gewisse Konvergenz der Systeme festzustellen. Das hängt mit dem allgemein umfassenden Verständnis der insbesondere individuellen Religionsfreiheit zusammen. Dies ist schon wegen des in allen Mitgliedstaaten der EU und weit darüber hinaus geltenden einschlägigen Art. 9 EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR erforderlich (daher bisher zahlreiche Verurteilungen Griechenlands), mindestens ebenso aber wegen der sozialstaatlichen Erfordernisse, die bei umfassender staatlicher Förderung gesellschaftlicher Aktivitäten diejenigen der Religionsgemeinschaften nur schwer aussparen können. Die weitgehende Anerkennung der individuellen Weltanschauungsfreiheit bedingt auch die Anerkennung des Selbstverwaltungsrechts der Religionsgemeinschaften selbst, wobei aber in vielen europäischen Rechtssystemen noch mehr oder weniger zahlreiche Abstufungen der Rechte der verschiedenen Religionsgemeinschaften bestehen. Art. 9 II EMRK und die EU-Verfassung lassen das zu. Die inhaltliche Reichweite des Selbstverwaltungsrechts (nach hier vertretener Ansicht nicht korrekt: Selbstbestimmungsrechts ) der Religionsgemeinschaften, ein wesentliches Element der Trennung von Staat und Religion, ist unterschiedlich.

V. Zusammenfassung

Die persönliche Religionsfreiheit (einschließlich der Freiheit nichtreligiöser Menschen) ist in fast allen europäischen Ländern weitgehend gewährleistet und wird durch eine (meist) liberale Rechtsprechung des EGMR zu Art. 9 EMRK und des EuGH zur Grundrechte-Charta der EU notfalls weiter erzwungen werden. Demgegenüber ist die institutionelle Religionsfreiheit sehr unterschiedlich geregelt und z. T. mit erheblichen Ungleichheiten im Status der religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften verbunden. Dabei wird es auf absehbare Zeit auch nach der neuesten europäischen Entwicklung trotz aller Dynamik wohl bleiben. Allgemein kann man prognostizieren, dass das Staatskirchentum weiter an Boden verlieren wird. Auch in Großbritannien gibt es deutliche Bestrebungen, die enge Verknüpfung der anglikanischen Kirche von England mit Monarchie und Staat aufzuheben. Im Jahr 2000 befasste sich ein Forschungsprojekt der Universität Derby mit der Diskriminierung religiöser Minderheiten am Arbeitsplatz sowie in Schule und Gesellschaft, die mit der Koppelung von anglikanischer Kirche und Staat verbunden ist.

Im Detail ist die Systembeurteilung in den einzelnen Ländern schwierig, weil viele Rechtsfragen noch ungeklärt sind und erhebliche Differenzen zwischen Recht und Praxis bestehen. Das gilt verstärkt nach der Aufnahme von zehn Staaten in die EU im Jahr 2004 sowie von Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 und Kroatien 2013. Deren rechtliche und politische Entwicklung bedürfte näherer Untersuchung. Ein Problem ist die Tatsache, dass die meisten Religionsrechtler religiös orientiert sind und daher die Interessenlage der Nichtreligiösen regelmäßig nicht oder kaum berücksichtigen. Das hat Auswirkung auf die Beurteilung der Differenz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit.

>> Europarecht; Laizismus; Trennungsgebot; Zivilreligion.

Literatur:

  • Rees, Wilhelm/Roca, Maria/Schanda, Balázs (Hg.): Neuere Entwicklungen im Religionsrgggecht europäischer Staaten, Berlin 2013 (Kanonistische Studien)
  • Religion-Staat-Gesellschaft (RSG): Die Religionsfgggreiheit und das Staat-Kirche-Verhältnis in Europa und den USA, Berlin 2013, H. 1
  • Vachek, Marcel: Das Religigggonsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK. Frankfurt u. a. 2000. Online-Ausgabe dieser wichtigen Monografie: www.kanzlei-vachek.de/.../religionsrecht_der_eu.pdf
  • (dort zu den religionsrechtlichen Systemen S. 25-53. Die knappe Skizze zu Deutschland ist nicht nur wenig differenziert, sondern schief. Das unterstreicht die allgemeinen Probleme einer korrekten Systembeschreibung).
  • Wegen der Unübersichtlichkeit der Literaturlage sei auf gelegentliche Aufsätze und Berichte in der Zeitschrift für evangelisches Kirchengggrecht verwiesen.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)