EGMR: Recht auf objektiven, kritischen und pluralistischen Weltanschauungsunterricht aus Art. 2 (1) EMRK

Die Antragsteller, alle Mitglieder der Norwegischen Humanistischen Gesellschaft (Human-Etisk Forbund), sind Eltern von Kindern, die eine norwegische Grundschule besuchen. Im Herbst 1997 wurde der Lehrplan der norwegischen Grundschule geändert, wobei zwei getrennte Fächer – "Christentum" und "Lebensphilosophie" - durch ein einziges Fach ersetzt wurden, das "Christentum, Religion und Philosophie" umfasst, bekannt als KRL (kristendomskunnskap med religions- og livssynsorientering).

Nach dem bisherigen System konnten Eltern beantragen, dass ihr Kind vom "Christentum"-Kurs befreit wird. Im neuen System war es jedoch nur möglich, eine Befreiung von bestimmten Teilen des KRL zu beantragen. Das Fach KRL sollte umfassen: die Bibel und das Christentum als Kulturerbe, den evangelisch-lutherischen Glauben (die offizielle Staatsreligion in Norwegen, der 86% der Bevölkerung angehören), andere christliche Religionen, andere Weltreligionen und Philosophien, Ethik und Philosophie. Das Fach wurde entwickelt, um das Verständnis und die Achtung christlicher und humanistischer Werte zu fördern und das Verständnis, die Achtung und den Dialog zwischen Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen und Glaubensrichtungen zu fördern.

Im Schuljahr 1999-2000 wurde die KRL auf allen Stufen der Schule eingeführt. Die Antragsteller und andere Eltern haben erfolglos beantragt, ihre Kinder vollständig von der KRL auszunehmen. Am 14. März 1998 erhoben sie erfolglose Klagen vor dem Stadtgericht Oslo und beklagten, dass ihre Freistellungsanträge abgelehnt worden seien. Sie behaupteten unter anderem, dass die Ablehnung ihre Rechte nach Artikel 9 EMRK (Gewissens- und Religionsfreiheit), Artikel 2 Nr. 1 EMRK (Recht auf Bildung) sowie Artikel 14 EMRK (Verbot von Diskriminierung) verletzt habe.

Das norwegische "Bildungsgesetz" von 1998, das am 1. August 1999 in Kraft getreten ist, sah vor, Schüler auf elterlichen Antrag von denjenigen Teilen des Unterrichts zu befreien, die er aus der Sicht seiner eigenen Religion oder Lebensphilosophie als eine Ausübung einer anderen Religion bzw. Ausübung einer anderen Lebensphilosophie ansieht".

Mehrere Eltern reichten 2002 Klage beim EGMR ein. Am 6. Dezember 2006 fand im Menschenrechtsgebäude in Straßburg eine öffentliche Anhörung statt.

Klagebegründung

Die Antragsteller beschwerten sich darüber, dass die Weigerung, die Kinder vollständig vom KRL freizustellen, sie daran hinderte, ihre Kinder gemäß ihrer eigenen philosophischen Überzeugungen zu erziehen. Außerdem liege religiöse Diskriminierung vor, da nichtchristliche Eltern mit der Belastung konfrontiert sind, explizit einen Befreiungsantrag zu stellen, was christliche Eltern nicht tun müssten, da das Fach KRL sich an den Überzeugungen der Mehrheit ausrichte.

Entscheidung des Gerichts

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass mit der Einführung des KRL beabsichtigt war, dass durch den gemeinsamen Unterricht im Christentum, sowie anderen Religionen und Philosophien ein offenes und integratives Schulumfeld zu gewährleisten, unabhängig von der sozialen Herkunft, dem religiösen Bekenntnis, der Nationalität oder der ethnischen Gruppe des Schülers. Diese Absicht stand eindeutig im Einklang mit den Grundsätzen des Pluralismus und der Objektivität gemäß Artikel 2 Nr. 1 EMRK (Recht auf Bildung). Die einschlägigen Bestimmungen des Bildungsgesetzes von 1998 legten den Schwerpunkt auf die Vermittlung von Wissen nicht nur über das Christentum, sondern auch über andere Weltreligionen und Philosophien. Ziel war es, Sektierertum zu vermeiden und den interkulturellen Dialog und das Verständnis zu fördern, indem die Schüler im Rahmen eines gemeinsamen Faches zusammengeführt werden, anstatt eine vollständige Freistellung zu ermöglichen, was dazu führen würde, dass die Schüler in Untergruppen mit unterschiedlichen Themenbereichen aufgeteilt werden. Die Tatsache, dass das Wissen über das Christentum einen größeren Teil des Lehrplans ausmachte als das Wissen über andere Religionen und Philosophien, konnte an sich keine Problematik nach Artikel 2 des Protokolls Nr. 1 aufwerfen. Angesichts des Platzes, den das Christentum in der nationalen Geschichte und Tradition Norwegens einnimmt, musste dies bei der Planung und Festlegung des Lehrplans berücksichtigt werden.

Als problematisch anzusehen war jedoch die "christliche Zielklausel" ("Christian object clause") im Bildungsgesetz von 1998, wonach das Ziel der Primar- und Sekundarstufe I unter anderem darin bestehen sollte, den Schülern eine christliche und moralische Erziehung zu ermöglichen. Der Schwerpunkt auf der christlichen Religion spiegelte sich zudem nicht nur im Lehrplan sondern auch im Wortlaut des Bildungsgesetzes wieder. Etwa die Hälfte der im Lehrplan aufgeführten Punkte bezog sich allein auf das Christentum, während der Rest der Punkte sich auf andere Religionen und Philosophien verteilte. Die Beschreibung der Inhalte und Ziele des KRL im Bildungsgesetz von 1998 deuteten in Verbindung mit der christlichen Zielklausel darauf hin, dass die Unterschiede zwischen der Lehre des Christentums und denen anderer Religionen und Philosophien nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ waren. Angesichts dieser Unterschiede war nicht klar, wie das Ziel der Förderung von Verständnis, Respekt und des Dialoges zwischen Menschen mit unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen mit diesem KRL Fach erreicht werden kann.

Das Gericht prüfte daraufhin, ob die Möglichkeit für Eltern, eine teilweise Freistellung von der KRL zu beantragen, ausreicht, um das festgestellte Ungleichgewicht auszugleichen.

In diesem Zusammenhang hat das Gericht zunächst festgestellt, dass erstens die praktische Anwendung der Teilbefreiungsregelung erhebliche Probleme aufwirft. Denn die Eltern müssen angemessen über die Details der Unterrichtspläne informiert werden, damit sie ihre Kinder von den Teilen des Unterrichts, die mit ihren eigenen Überzeugungen unvereinbar sind, rechtzeitig befreien lassen können. Es ist für die Eltern schwierig, sich ständig über die Inhalte des Unterrichts im Klassenzimmer zu informieren und inkompatible Teile herauszufiltern.

Zweitens mussten die Eltern ihren Freistellungsantrag begründen, sofern dieser nicht rein auf die Religionsausübung gerichtete Teile des KRL betraf. Das Gericht stellte fest, dass Informationen über die persönliche religiöse und philosophische Überzeugung einige der intimsten Aspekte des Privatlebens betrafen. Es besteht die Gefahr, dass sich die Eltern gezwungen sehen könnten, den Schulbehörden intime Aspekte ihrer eigenen religiösen und philosophischen Überzeugungen offenzulegen.

Drittens sollte die Befreiungspraxis flexibel so gestaltet werden dass sie der religiösen oder philosophischen Zugehörigkeit der Eltern und der Art der betreffenden Tätigkeit Rechnung trägt. So kann bei einer Reihe von Aktivitäten, wie z.B. Gebeten, dem Singen von Hymnen, Gottesdiensten und Schulspielen, die Befreiung so gehandhabt werden, dass die bloße Anwesenheit die Teilnahme ersetzt, wobei die Grundidee darin besteht, dass sich die Freistellung auf die Tätigkeit als solche beziehen sollte, nicht auf das Wissen, das durch die Tätigkeit vermittelt werden soll. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist diese Unterscheidung zwischen Tätigkeit und Wissen jedoch nicht nur in der Praxis kompliziert, sondern beeinträchtigt auch in erheblichem Maße die Wirksamkeit des Rechts auf eine Teilbefreiung als solche. Außerdem könnte es den Eltern auf rein praktischer Ebene unangenehm sein, Lehrer zu bitten, die zusätzlichen Belastungen durch einen so differenzierten Unterricht auf sich zu nehmen.

Das Gericht stellte daher fest, dass das System der Teilbefreiung vom KRL Unterricht in Norwegen geeignet ist, die betroffenen Eltern einer schweren Belastung einschließlich der Gefahr einer unangemessenen Offenbarung privater Überzeugungen auszusetzen. Das Konfliktpotential eines Befreiungsantrags kann Eltern davon abhalten, Befreiungsanträge zu stellen.

In bestimmten Fällen, insbesondere bei Tätigkeiten religiösen Charakters, könnte die Reichweite einer Teilbefreiung (durch den nach Tätigkeit und Wissen zu differenzierenden Unterricht) sogar erheblich eingeschränkt sein.

Dies könnte kaum als mit dem Recht der Eltern auf Achtung ihrer religiös/weltanschaulichen Überzeugungen im Sinne von Artikel 2 Nr. 1 EMRK ausgelegt im Lichte der Artikel 8 und 9 der EMRK vereinbar angesehen werden. Der Gerichtshof erinnert daran, dass das Übereinkommen darauf abzielt, "nicht Rechte zu garantieren, die theoretisch oder illusorisch sind, sondern Rechte, die praktisch und wirksam sind". Darüber hinaus war das Gericht nicht davon überzeugt, dass die von der Regierung angeregte Möglichkeit für Eltern, ihre Kinder an Privatschulen unterrichten zu lassen, den Staat von seiner Verpflichtung befreien könnte, den Pluralismus in staatlichen Schulen, die für jedermann zugänglich sind, zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund konnte trotz der vielen lobenswerten legislativen Zwecke, die mit der Einführung von KRL in den gewöhnlichen Grund- und Hauptschulen verbunden sind, nicht davon ausgegangen werden, dass Norwegen ausreichend darauf geachtet hat, dass die im Lehrplan enthaltenen Informationen und Kenntnisse objektiv, kritisch und pluralistisch im Sinne von Artikel 2 Nr. 1 EMRK vermittelt werden. Dementsprechend führte die Weigerung, den antragstellenden Eltern für ihre Kinder eine vollständige Freistellung vom KRL zu gewähren, zu einem Verstoß gegen Artikel 2 Nr. 1. EMRK, Artikel 14 EMRK in Verbindung mit den Artikeln 8 und 9 EMRK.

Das Gericht hielt es aufgrund seiner Feststellungen in Verbindung mit Artikel 2 Nr. 1 EMRK für nicht erforderlich, eine gesonderte Prüfung des Sachverhalts im Hinblick auf Artikel 14 EMRK in Verbindung mit den Artikeln 8 und 9 EMRK und Artikel 2 Nr. 1 EMRK durchzuführen.