Immissionsschutz

Zur Religionsausübungsfreiheit gehören zwei immissionsschutzrechtlich wesentliche Betätigungen: Das Glockengeläut und der Gebetsruf des Muezzins. In der Gerichtspraxis werden trotz der grundsätzlichen Zweifelsfragen im Hinblick auf den fehlenden Gesetzesvorbehalt in Art. 4 I, II GG im Ergebnis die Vorschriften des Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG) und der Landesimmissionsschutzgesetze als allgemeine Gesetze i. S. des Art. 137 III 1 WRV als Grundrechtsschranken angewendet.

I. Glockengeläut

1. Vorbemerkungen

Der Glockenlärm von Kirchen ist in unserer säkularisierten Gesellschaft seit langem immer wieder Gegenstand von Streitigkeiten und Gerichtsurteilen. Viele Menschen empfinden Glocken als Wohlklang und Ausdruck von Heimat und Geborgenheit. Andererseits erheben viele lärmgeplagte Anwohner Beschwerden, insbesondere wenn sie den Glockenlärm als konkret überflüssig, zu laut, zu lange oder zu häufig kritisieren. Solche Beschwerden sind, wenn man die konkreten Verhältnisse betrachtet, auch bei Außerachtlassung weltanschaulicher Empfindlichkeiten manchmal nur allzu verständlich. Historisch hatten Kirchenglocken eine vielfach auch weltliche Funktion, vor allem für den Tagesablauf, aber auch als Warnung vor Unwetter oder dem Feind, als Fest- und Friedensgeläute u. a. Ansgar Hense (s. u.) hat das erschöpfend dargestellt. Heute ist davon fast nur noch der Schlag der Turmuhr geblieben, der in der Nacht erhebliche Schlafprobleme verursachen kann und heute so gut wie keine soziale Funktion mehr erfüllt. Häufig haben Kirchenverantwortliche daher die Funktionslosigkeit der nächtlichen Kirchturmuhrschläge auch eingesehen.

2. Rechtsfragen

a) Zunächst stellt sich die Frage, wer befugt ist, gegen sakrales oder profanes Geläute oder Glockenschlagen vorzugehen, ob das zivilrechtlich oder verwaltungsrechtlich erfolgen muss oder kann und gegen welchen Rechtsträger die Forderung auf Reduzierung bzw. Unterlassung zu richten ist (i. d. R. Pfarrgemeinde; ggf. Immissionsschutzbehörde, s. u.). Von entscheidender Bedeutung ist dabei der juristische Nachbarbegriff, der durch den möglichen Einwirkungsbereich gekennzeichnet ist.

Kirchenglocken werden zu den res sacrae (s. dort; heilige Sachen, kirchlich-öffentliche Sachen) gezählt, und das ist ein Anlass für sehr schwierigen juristischen Theorienstreit zwischen öffentlichem und privatem Recht. Aus praktischer Sicht gilt das Folgende. In seiner ersten Grundsatzentscheidung hat das BVerwG 1983 im Ergebnis folgende Ansicht vertreten: Beim liturgischen Glockenläuten ist gegen den Betreiber der Verwaltungsrechtsweg gegeben, wenn die Religionsgemeinschaft Körperschaft des öffentlichen Rechts im Sinn des Art. 137 V WRV/ 140 GG ist (in der Praxis der Regelfall). Inhaltlich ist das staatliche Immissionsschutzrecht maßgeblich. Will der Belästigte gegen den Betreiber wegen des Zeitschlags unmittelbar vorgehen, so sind nach allgemeiner Meinung die Zivilgerichte zuständig (s. u.).

b) Kirchenglocken sind immissionsschutzrechtlich Anlagen, die (außerhalb einer Prüfung im Rahmen eines Baugenehmigungsverfahrens) nicht genehmigungspflichtig sind. Sie müssen aber trotzdem so betrieben werden, dass keine technisch vermeidbaren "schädlichen Umwelteinwirkungen" entstehen bzw. dass unvermeidbare Einwirkungen "auf ein Mindestmaß beschränkt werden", § 22 I 1 BImSchG. Was "schädlich" ist, beschreibt § 3 I BImSchG. Es sind solche Umwelteinwirkungen, die "nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen". Liegt eine solche "erhebliche Belästigung" vor, so kann die zuständige Behörde (z. B. Landratsamt) gem. § 22 BImSchG eine Einzelfallanordnung erlassen.

c) Nach richtiger (von den Behörden nicht immer geteilter) Auffassung muss die Behörde auf Antrag eines betroffenen Bürgers ("Nachbarn") tätig werden, wenn sie keine triftigen Gründe für ein Untätigbleiben zu diesem Zeitpunkt darlegen kann (sonst Ermessensfehler). Ggf. wäre dann gegen den Rechtsträger der Behörde vorzugehen, wenn erforderlich bei den Verwaltungsgerichten. Das gilt bei dieser Fallgestaltung für das liturgische und säkulare Geläut.

3. Im Einzelnen

a) Die Rspr. erklärt das liturgische Glockenläuten in der Sache für zulässig, wenn es sich im Rahmen des § 3 BImSchG (s. oben) innerhalb des Herkömmlichen hält und als sozialadäquate zumutbare Einwirkung anzusehen ist. Das BVerwG hat im Urteil von 1983 selbst das tägliche Angelus-Läuten um 6 Uhr früh bei einer Minute Dauer grundsätzlich noch für zulässig erklärt, wobei aber die Frage des Lärmhöchstpegels noch ungeklärt war. Auf die Technische Anleitung Lärm (TA-Lärm) wurde verwiesen. Bei der Zumutbarkeit kommt es natürlich auf den Charakter des Baugebiets an. Der BayVGH hat 2002 erklärt, das liturgische Läuten sei zwar gegenüber dem Zeitläuten privilegiert, weil es Ausdruck des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts sei. Da der Lärm-Beurteilungspegel für Allgemeine Wohngebiete von 55 dB (A) aber um 3 bzw. an Sonn- und Feiertagen um 5 dB (A) überschritten werde, brauche die Klägerin das im Rahmen einer wertenden Einzelfallbeurteilung nicht hinzunehmen. Denn die Kirchenbaumaßnahme habe durch unglückliche Planung nachträglich eine vermeidbare Verschärfung der Situation herbeigeführt. Bemerkenswert an der lehrreichen Urteilsbegründung ist die (bis dahin im allgemeinen Immissionsschutzrecht abgelehnte) These, wenn aktive Schallschutzmaßnahmen an der Geräuschquelle nicht mehr in Betracht kämen, müsse ggf. ersatzweise ein Geldausgleich für passive Schallschutzmaßnahmen des Geschädigten gezahlt werden (hier: Schallschutzfenster, gläserne Schallschutzwände).

b) Im Gegensatz zum liturgischen Läuten hat das BVerwG 1994 im Fall unmittelbaren Vorgehens des Betroffenen beim Zeitschlag eine Verweisung an die Zivilgerichte gut geheißen. Dementsprechend hat das LG Aschaffenburg 1999 den Zeitschlag eines Kirchenglockenwerks ganz selbstverständlich, wie auch andere Gerichte, zivilrechtlich behandelt und der Unterlassungsklage gem. §§ 906, 1004 BGB voll stattgegeben, obwohl es sich nur um die Zeit von 8-22 Uhr handelte. Das Schlagen alle 15 Minuten summierte sich auf 249 Schläge täglich, wodurch eine Terrassennutzung wegen des geringen Abstands und der gegenseitigen Höhenlage unzumutbar beeinträchtigt wurde. Die regulären Schallrichtpegel (hier: Allg. Wohngebiet) seien strikt einzuhalten.

4. Künftige Entwicklung

Sowohl für das kultische Glockengeläut wie auch den ihm entsprechenden Muezzinruf (s. unten) stellt sich die Frage, wann künftig angesichts der fortschreitenden Säkularisierung die immissionsschutzrechtliche Privilegierung gesellschaftlich und in Konsequenz auch rechtlich nicht mehr als akzeptabel anzusehen sein wird. Schon heute bezeichnen sich im Bundesdurchschnitt mehr als 50 % der Bevölkerung als "nicht religiös" (s. Statistik). Viele von ihnen empfinden den von Religionsgemeinschaften, die sie grundsätzlich ablehnen, verursachten Lärm als aufdringlich und als Ausdruck von Dominanzstreben. In Bundesländern und Gebieten, in denen die Akzeptanz gering ist, wird das auch bei der rechtlichen Zumutbarkeitsprüfung zu würdigen sein.

Auch durch starke zeitliche und lärmmäßige Reduktionen wird die Kultfreiheit (Art. 4 II GG) keineswegs zentral getroffen. Es ist nur schwer einzusehen, warum Religionsgemeinschaften immissionsschutzrechtlich Sonderrechte genießen, obwohl ihr Selbstverwaltungsrecht gem. Art. 137 III WRV/140 GG durch die allgemeinen Gesetze begrenzt wird und nicht umgekehrt. Hinzu kommt, dass Art. 136 I WRV dasselbe besagt (Problematik der Grundrechtsschranken). Bei den Glocken dürfte aus der Sicht der Kritiker der Entfall jeglichen Zeitschlags eine entscheidende Verbesserung bedeuten, sodass bei zusätzlichem Entfall von frühem liturgischem Geläute (6 und 7 Uhr) das Problem weitgehend beseitigt sein dürfte. Entsprechend könnte auch beim Muezzinruf verfahren werden, zumal der Islam beim Daueraufenthalt in außerislamischen Ländern mit substantieller Religionsfreiheit auch für die Muslime die Einhaltung des nationalen Rechts der Aufenthaltsländer gestattet, wenn nicht fordert (islamintern streitig).

II. Muezzinruf

1. Der Gebetsruf, insbesondere zum mittäglichen Freitagsgebet, ist eine wichtige kultische Handlung des muslimischen Glaubens, und er hat Symbolwert. Viele Alteingesessene verstehen den – besonders auffälligen – islamischen Gebetsruf von Minaretten als Angriff auf die sogenannte christlich-abendländische Kultur. Verständlicherweise erzeugt der Gebetsruf auch Fremdheitsgefühle. Das vielfach zu hörende Argument, in islamischen Ländern werde die Ausübung des christlichen Glaubens auch behindert oder gar verboten (wie du mir, so ich dir), überrascht deswegen, weil wir uns ja in Deutschland befinden und daher unsere eigenen Grundregeln beachten sollten. Zu diesen gehört aber wesentlich die Religionsfreiheit, und zwar unabhängig von Herkunft und Religion des sich darauf Berufenden. Mindestens ebenso bedeutsam ist darüber hinaus die – freilich auch ansonsten häufig missachtete – religiös-weltanschauliche Neutralität. Es hat einer langen und blutigen Geschichte bedurft, bis man die Notwendigkeit und sittliche Errungenschaft dieser Prinzipien erkannt hat.

2. Im Gegensatz zu Kirchenglocken ist der (elektronische) Ruf des Muezzin immer Teil der Religionsausübung. Groß ist der funktionale Unterschied aber nicht. In beiden Fällen werden Geräusche erzeugt, die nach den sehr differenzierten lärmschutzrechtlichen Kriterien fachlich neutral beurteilt werden können. Daher gelten grundsätzlich die gleichen Regeln wie für das Glockengeläut (s. dort). Das Grundrecht der islamischen Gemeinde und die Grundrechte der Umlieger (Eigentum, körperliche Unversehrtheit) müssen schonend zum Ausgleich gebracht werden. Im Ergebnis muss die Religionsausübung der Muslime den gleichen Rang haben wie die anderer Religionen, jedoch ebenfalls zwingende Erfordernisse des immissionsschutzrechtlichen Nachbarschutzes einhalten. Zu berücksichtigen sind für die Frage der Zumutbarkeit die konkreten Gesamtumstände, etwa Schallpegel, Häufigkeit, Zeit, Umfeld. Das bedeutet, dass der Gebetsruf nicht generell untersagt, aber je nach Fallgestaltung Auflagen unterworfen werden kann. Vielfach wird es geboten sein, die Lautsprecheranlagen zu regulieren.

Auch der Muezzinruf ist ein Test für die bürgerliche Tugend der Toleranz. Gegenseitige Rücksichtnahme sollte verlangt werden können. Allerdings dürfte der zudem kulturfremde Gebetsruf für Nichtreligiöse, die ja selbst keine weltanschaulich motivierten Geräusche erzeugen, schon wegen der besonders problematischen Einstellung des Islam gegenüber Nichtgläubigen (vgl. Islamischer Religionsunterricht IV) eine besondere Herausforderung an ihre Toleranzbereitschaft darstellen.

>> Abendland; Grundrechtsschranken; Islamischer Religionsunterricht; Statistik; Neutralität; Rechtsschutz; Religionsausübungsfreiheit; res sacrae; Selbstverwaltungsrecht; Toleranz.

Literatur:

  • BVerwGE 68, 62 = NJW 1984, 989, U. vom 7. 10. 1983 (Angelus-Läuten).
  • BVerwGE 90, 163 = NJW 1992, 2779, U.v. 30.4.1992 (Nächtlicher Zeitschlag).
  • BVerwG NJW 1994, 956, B. v. 28. 1. 1994 (Zuständigkeit der Zivilgerichte für Zeitschlag).
  • BVerwG, NVwZ 1997, 390, B. v. 02.09.1996 - 4 B 152.96.
  • (Hält sich das liturgische Glockengeläut im herkömmlichen Rahmen, liegt eine zumutbare und sozialadäquate Einwirkung vor. Fall: Angelusläuten in 10 m entfernter Kirche dreimal täglich um 7, 12 und 18 Uhr).
  • BVerwG, 19.02.2013 - 7 B 38.12 =  www.bverwg.de/.../=190213B7B38.12.0 (zu VGH Ba-Wü, DVBl 2012, 1055 = DÖV 2012, 740, U. v. 03.04.2012 - 1 S 241/11 – Fall: 2-minütiges werktägliches liturgisches Glockengeläut um 6.00 Uhr für Anwohner zumutbar; BVerwG weist Beschwerde zurück).
  • BayVGH BayVBl 2003, 241, Urteil vom 1. 3. 2002 - Az 22 B 99.338 (Liturgisches Läuten, Sonderfall).
  • LG Aschaffenburg NVwZ 2000, 965, U. v. 26. 8. 1999 – Az 2 S 391/98 (Zeit-Glockenschläge tagsüber; Sonderfall).
  • Guntau, Burkhard: Der Ruf des Muezzin in Deutschland - Ausdruck der Religionsfgggreiheit? ZevKR 1998,369-386;
  • Hense, Ansgar: Glockenläuten und Uhrenschlag. Der Gebrauch von Kirchenglocken in der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung. Berlin 1998, 418 S. (juristisch und rechtshistorisch umfassend);
  • Laubinger, Hans-Werner: Nachbarschutz gegen kirchliches Glockenläuten, VerwArch 83 (1992), 623 ff.;
  • Lorenz, Dieter: Kirchenglocken zwischen öffentlichem und privatem Recht – BVerwG, NJW 1994, 956, in: JuS 1995, 492-497 (L. plädiert einheitlich für den Zivilrechtsweg);
  • Schwerdtfeger, Henrike: Kontroversen zum Rechtsweg bei Entscheidungen zum kirchlichen Glockengeläut, ZevKR 2001, 319 ff.
  • Muckel, Stefan: Streit um den muslimischen Gebetsruf, NWVBl 1998,1-6;
  • Sarcevic, Edin: Religgggionsfreiheit und der Streit um den Ruf des Muezzins, DVBl 2000,519-528.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)