Islam

I. Allgemeine Bedeutung
Die Weltreligion Is.lam (arab.: Hingabe an, Unterwerfung unter Gottes Willen) bzw. der islamische Kulturraum umfasst mindestens 1,5 Milliarden Menschen, d. h. 20-25% der Menschheit. Er kennt keine förmliche Mitgliedschaft. Die Frage, wie viele Angehörige moslemischer Kultur den Glauben praktizieren, ist für Europa schwer zu beantworten. 57 Staaten sind Mitglied der „Organization of the Islamic Conference". Der gesamte Nahe und Mittlere Osten und Nordafrika sind (abgesehen von Israel und Libanon) fast rein islamisch. Der Staat mit den meisten Muslimen ist Indonesien mit ca. 200 Mill. In Indien sind es ca. 170 Mill., in Pakistan 165, in Bangladesch 145 und in China ca. 20 Mill. Muslime.

Die islamische Religion weist eine große religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt auf. Der Isl.am stellt aber gleichzeitig insgesamt eine kulturübergreifende, dabei jedoch spezifsche Zivilisation dar, wobei die (ansonsten nicht vorhandene) Einheit der Gläubigen (Umma) gegenwärtig insbesondere in der Frontstellung gegenüber der westlichen Zivilisation zum Tragen kommt. Individuelle Menschenrechte werden im gesamten islamischen Bereich und auch in anderen vormodernen Kulturen trotz mancher verbaler Zugeständnisse eindeutig nicht anerkannt. Sie liegen ganz außerhalb der islamischen Tradition, obwohl Muslime insbesondere hierzulande gern auch Anderes behaupten. Es handelt sich bei den islamischen Staaten fast durchweg um Diktaturen, vielfach Willkürherrschaften (z. B. Iran, Saudi-Arabien, Sudan; Sonderfall: „Islamischer Staat“). Selbst die Türkei tendiert derzeit in diese Richtung. Ob sich die Demokratie in Tunesien halten kann, ist gegenwärtig (2016) offen. Im Mittelpunkt der islamischen Weltbetrachtung steht das Kollektiv im Gegensatz zum Individuum in der europäischen Moderne.

II. Allgemeine Glaubensgrundlagen
Im Grundsatz einig sind sich alle Muslime nur über zwei Glaubensvoraussetzungen. Das sind die bekannten fünf Säulen des Isl.am (kein Gott außer Allah und Mohammed sein Prophet; täglich fünfmaliges Gebet; Almosengabe; Fastenmonat Ramadan; Pilgerschaft nach Mekka/ Medina) und das von Gott offenbarte Buch, nämlich der Koran als „Siegel der Prophetie“. Für die religiöse Praxis gelten bei Frauen wegen ihres Geschlechts und des Blut-Tabus besondere Regeln. Das gemeinsame Weltbild aller Muslime ist es, die einzig wahre geoffenbarte Religion zu haben und als „beste Gemeinschaft auf Erden"[1] allen anderen überlegen zu sein. Der Prophet Mohammed (ca. 570-632) habe von Allah selbst durch den Erzengel Gabriel wortwörtlich die endgültige und vollendete Offenbarung erhalten. Ähnlich autoritativ wie der Koran sind die überlieferten Worte und Taten des makellosen Propheten Mohammed (Hadithe), wobei jedoch nicht alle Überlieferungen als gültig anerkannt sind. Sie bilden die Quelle für die Entstehung unterschiedlicher Rechtsschulen.

Der exklusive Is.lam hat, aus der Biografie Mohammeds gut erklärbar, Teile des jüdisch-christlichen Gedankenguts übernommen. Formal gemeinsam sind die Propheten Abraham, Moses und Jesus; Gut und Böse; Engel und Dämonen; Jüngstes Gericht; Paradies und ewige Hölle). Strukturell ist der Is.lam (abgesehen von liberalen Tendenzen vor allem in Europa) so unflexibel wie das biblische Christentum über seine größte historische Strecke. Im Gegensatz zum Christentum und Judentum hat es im Is.lam keine Aufklärung und keine historisch-kritische Textauslegung gegeben, so dass die Anwendung der Scharia (s. u.), des nicht kodifizierten islamischen Rechtswesens, wegen seiner Bezüge zum sakrosankten Koran in entscheidenden Punkten höchst problematisch ist: in Bezug auf Minimalforderungen weltlicher Gerechtigkeit nach westlichen Maßstäben und auf seine Vereinbarkeit mit unserem Begriff von Demokratie. Im islamischen Westen, auf der Iberischen Halbinsel, entstanden allerdings früh philosophische Strömungen und Schriften, die eine „islamische Aufklärung“ darstellen, sich aber nicht durchgesetzt haben und bis heute weithin ignoriert wurden. Prominente Vertreter dieser Richtung sind Ibn Sina (Avicenna, 11. Jh.), Ibn Tufail und Ibn Ruschd (Averroes), jeweils 12. Jh.

III. Hauptrichtungen
1. Zu unterscheiden ist zwischen zwei großen islamischen Hauptkonfessionen, den Sunniten und Schiiten. Die große Mehrheit aller Muslime, auch in Deutschland, stellen die Sunniten dar. Die weltweit bis 150 Mill. Schiiten leben hauptsächlich in der Islamischen Republik Iran und mehrheitlich im Irak sowie im Libanon. Die Spaltung erfolgte mit der Ermordung des Kalifen Ali im Jahr 661. Die Schiiten gelten den orthodoxen Sunniten als Sektierer, haben eine eigene Rechtstradition und waren meist eine verfolgte Minderheitenreligion. Bei den (ebenfalls in zahlreiche Richtungen aufgespaltenen) Schiiten genießt Ali, Schwiegersohn Mohammeds, besondere Verehrung, da Mohammed diesen als seinen Nachfolger (Kalifen) bestimmt habe. Die Sunniten wählten einen anderen Nachfolger, und Ali wurde bei ihnen erst vierter und umstrittener Kalif. Der Todestag von Husain, im Kampf gefallener Sohn Alis, ist der höchste schiitische Feiertag. An ihm finden große Trauerprozessionen statt. Die meisten Schiiten verehren zwölf Imame (religiöse Führer), die bei ihnen als sündlos und unfehlbar in der Koraninterpretation gelten. Der zwölfte Imam soll als Kind im 9. Jh. vor Verfolgern versteckt und dann in den Himmel „entrückt“ worden sein. In seiner Verborgenheit lenkt er die Schiiten als „Verborgener Imam" bis zu seiner Wiederkunft. Er wird dereinst das Reich Gottes auf Erden errichten. Ayatollah Khomeini verstand sich als irdischer Vertreter des zwölften Imam.

2. Eine weitere wichtige Erscheinungsform des Islams ist der mystische Sufi-Islam, der vor allem in (Derwisch-) Orden praktiziert wird. Er bildet ein gewisses Gegengewicht zum Scharia-Islam, bei dem der Mensch nur Objekt göttlichen Willens ist. Das Sufitum predigt statt bloßem Gehorsam die Liebe zu Gott, die auf gegenseitiger Anerkennung basiert, und ist daher toleranter. Aus dem gelehrten Sufi-Islam ist der ebenfalls flexible, mündlich überlieferte Volksislam (ländliche Gebiete, Analphabetismus) hervorgegangen.
 
IV. Ausbreitung des Isl.am
1. Nachdem Mohammed 622 in Medina die weltliche Herrschaft übernommen hatte, expandierte der Is.lam in wenigen Jahren auf die gesamte arabische Halbinsel und reichte 100 Jahre später von Spanien bis zum Indus, von der Sahara bis zum Kaukasus und zum Indischen Ozean. „Djihad" bedeutet „Anstrengung, Bemühung (auf dem Wege Gottes)" und ist nicht automatisch mit militärischer Gewalt gleichzusetzen, bedeutete aber historisch die gewaltsame Ausbreitung (z. T. unter reinen Raubzügen) und wird heute vor allem vom Islamismus im Sinn von Gewalt politisch instrumentalisiert. Die Errichtung des islamischen Weltreichs war mit einer Zivilisation (Kultur, Wissenschaft, Medizin) verbunden, die den übrigen Kulturen seinerzeit hoch überlegen war. Sie hatte erheblichen positiven Einfluss auf die europäische Entwicklung. Nach 711 (Untergang des Westgotenreichs) entstand auf der islamisch eroberten iberischen Halbinsel die Besonderheit einer mehr oder weniger toleranten „Kultur der drei Ringe", die nach der Reconquista im Terror der Spanischen Inquisition endete. Im 9. bis 12. Jh. gab es sogar einen Rationalismus hellenisierter arabischer Philosophen (arabische Aufklärung, s. die Werke von Alfarabius, Avicenna und Averroes), der freilich von der islamischen Orthodoxie bald unterdrückt wurde und seitdem bis heute nicht mehr existiert.

V. Scharia und Religiöse Entwicklung
1. Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des traditionellen Is.lam und die Probleme der Integration der islamischen Bevölkerung in die westlich-demokratischen Staaten sind die Formen der Scharia („Weg zur Tränke“) und die Frage ihrer Anwendbarkeit innerhalb und außerhalb islamischer Staaten. Die Scharia wird von den islamischen Schriftgelehrten, den Ulema, als Rechtssystem verstanden, das für alle Lebensbereiche einschließlich der Religion strenge Vorschriften bereithält. Das Recht ist - völlig im Gegensatz zu unserer heutigen Auffassung von Recht als dynamischem Menschenwerk - nach dem traditionellen Is.lam in der Theorie göttlich und daher unveränderbar. Es beansprucht Geltung für die gesamte Menschheit. Dieses rigide Rechtsverständnis war ein entscheidendes Hindernis für die Entwicklung der islamischen Staaten und ihre Anpassung an die moderne Welt in politisch-philosophischer Hinsicht (im Bereich der Technologie gab es ja keine Probleme).

2. Als Rechtsquellen der Scharia gelten der Koran und die schriftliche Überlieferung des Propheten, der Hadith. Die Rechtsfindung ist die islamische Schlüsselinstitution und ohne Arabischkenntnisse kaum zu leisten. Die Scharia, die weltliche und jenseitige Strafen kennt, ist kein Gesetzbuch, sondern Sakralrecht, das nur durch Auslegung zu ermitteln und daher für willkürliche Entscheidungsfindung besonders anfällig ist. Dabei haben von Tausenden Koranversen (in 114 Suren) nur wenige überhaupt einen rechtlichen Gehalt.

In der vorislamischen arabischen Kultur, die neben den beiden Handelszentren Mekka und Medina durch Nomadenstämme geprägt war, die von Handelsraub (Kamelkarawanen) lebten, gab es überhaupt kein geschriebenes Recht. Das Scharia-Recht wurde in Wirklichkeit erst nach dem Tod Mohammeds, beginnend im 8. Jh., entwickelt. Die zweite Phase des Scharia-Rechts erstreckt sich vom 10. bis zum 20. Jh. In ihr bestimmte die Scharia als göttliche Wahrheit die Realität und wurde nicht zeitbedingt relativiert. Erst, als sich im Rahmen der Entkolonialisierung islamische Staaten bildeten, kamen diese ohne zusätzliches kodifiziertes Recht nicht aus. Da die orientalisch-islamischen Nationalstaaten nicht gelungen und erfolgreich sind und ein Widerspruch zwischen Scharia und staatlichem Recht – insbesondere im Bereich des Familienrechts - besteht, wird heute durch antiwestliche Propagandisten des Islamismus wieder die Ablösung des Säkularrechts durch „die“ Scharia betrieben. Die vielfältigen weltlichen Gründe für das Entstehen des politischen islamischen Fundamentalismus seit den 1920 er Jahren müssen hier dahinstehen.

3. Die Scharia ist eine auf der Basis des Koran erfolgte Konstruktion (mit vier verschiedenen sunnitischen Rechtsschulen, s. u.). Die theoretisch aufrecht erhaltene These vom unwandelbaren göttlichen Recht hat sich natürlich als tatsächlich unhaltbar erwiesen. Daher hat man im 9. bis 12. Jh. mit seinen neuen Wirtschaftsstrukturen die charakteristisch werdende Methode der Hiyal- Jurisprudenz entwickelt: Rechtstricks weisen Wege erlaubter Umgehung des Scharia-Dogmas, was mit unserer weltlichen Rechtsdogmatik nichts zu tun hat. So findet diese Rechtsfindung Möglichkeiten, das Zinsverbot zu umgehen und doch fromm zu bleiben. Insgesamt besteht daher in der islamischen Welt eine große Kluft zwischen dem Denken und Handeln der Menschen.

4. Bestrebungen, das islamische Recht durch Zulassung eigenschöpferischer Rechtsfindung zu modernisieren, insbesondere im Ägypten des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wurden von der Orthodoxie unterdrückt. Die orthodoxen Rechtsgelehrten gingen und gehen fanatisch gegen alle Reformer vor, die sogar damit rechnen müssen, durch eine Fatwa (Rechtsgutachten) zum Ungläubigen gestempelt zu werden. Als 1992 der Schriftsteller Faradj Fuda am helllichten Tag in Kairo erschossen wurde, weil er „säkular“ gesinnt war, d. h. für eine Trennung von Religion und Politik eintrat, rechtfertigte Scheich Mohammed al-Ghazali das 1993 vor dem höchsten ägyptischen Staatssicherheits-Gericht durch eine Fatwa. Fuda sei ein Apostat (Glaubensabtrünniger) gewesen, und zur straffreien Tötung eines solchen sei jeder Muslim legitimiert.[2] Seitdem gehören solche Ermordungen zum Alltag im Nahen Osten. Die Grenzen zwischen Orthodoxie und Islamismus sind fließend.

5. Die Mehrheitsrichtung Sunna weist vier Rechtsschulen auf, die eine Art konfessionellen Charakter haben. Die schriftgläubigste und rigideste ist der im 9. Jh. entstandene Hanbalismus, wonach allein der (aber kaum Rechtsregeln enthaltende) Koran Grundlage sein darf. Er verschmolz im 18. Jh. durch ein Bündnis des Saudi-Stammes mit dem Eiferer Abdul-Wahhab zum saudisch-wahhabitischen Is.lam, auf dessen Grundlage 1932 die islamische absolute Monarchie Saudi-Arabien entstand. Dieser, insbesondere von den USA jahrzehntelang hofierte religiöse Willkürstaat (in Deutschland: König-Fahd-Akademie Bad Godesberg) mit seiner strengstmöglichen Scharia-Praxis (Steinigungen von Frauen; Händeamputationen; Auspeitschungen; strenge Frauendiskriminierung) steht noch heute weltweit mit an der Spitze der Menschenrechtsverletzungen.
Ebenfalls sehr streng ist die im 8. Jh. entstandene Rechtsschule der Malikiten, die aber auch Tradition und Gewohnheitsrecht kennt und auch eine Nähe zum Volksislam hat (starke Verbreitung im Mahgreb). Die bedeutendste sunnitische Rechtsschule bilden die Hanafiten (seit dem 8. Jh.), die stark mit Analogieschlüssen arbeiten, wobei Systemlogik keine große Rolle spielt. Um einen Mittelweg bemühen sich die Schafiten.

6. Obwohl sich in den Alltagsfragen jeweils zahlreiche Unterschiede ergeben, beharren die Rechtsgelehrten jeweils auf dem angeblich göttlichen Charakter des Rechts. Eine Annäherung an das westliche Rechtsverständnis, wie es der Koran wohl zuließe, ist in den islamischen Staaten angesichts des starken Islamismus heute noch schwieriger, z. T. lebensgefährlich geworden. In vielen der islamischen Diktaturen werden häufig die strengen Regeln, die beim Vollzug der brutalen Körperstrafen immerhin einzuhalten wären, nicht beachtet. Die Islamisten haben trotz ihrer oft ausgezeichneten Bildung nur unzureichende Kenntnisse der Scharia und des Koran und arbeiten zugunsten ihrer politischen Ideologie, die Terrorismus einschließt, mit starken Vereinfachungen.

VI. Is.lam in Deutschland
1. Im 18. Jh. erhielt der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. zwanzig Muslime als „lange Kerls“ für seine Garde geschenkt. Seitdem kennt man Muslime in Deutschland: als Soldaten, aber auch als Kriegsgefangene. Die Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und Deutschland, insb. Preußen, waren traditionell gut. Die eigentliche Geschichte des Islams in Deutschland beginnt in den 1960er Jahren mit der Anwerbung von Arbeitern aus der Türkei, aber auch Marokko und Tunesien. Die Versäumnisse bei den immer stärker werdenden Integrationsproblemen sind beiderseits und auch gegenseitig bedingt. Deutsche Politik und Gesellschaft haben wenig getan, um der Entwicklung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken. Die „konservative“ frühere Staatslüge, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, hat dies begünstigt.

2. Die Aussagen über die Zahl und Religiosität der Muslime in Deutschland differierten bisher nach den Umfragen sehr stark. Es mögen in Deutschland derzeit (2016, ohne die große Flüchtlingszuwanderung 2015 f.) 4 Millionen Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis wohnen. Es ist aber falsch, sie alle als „Muslime“ zu bezeichnen, wie das meist und auch in amtlichen Publikationen geschieht. Die erhobenen Zahlen sind alle sehr unsicher. Zu definieren, wen man zu den „Muslimen“ zählen soll, ist schwierig. Man kann mit Vorbehalt sagen: Eine große Minderheit der Kulturmuslime praktiziert den Glauben nicht. Dazu kommen viele, die nur recht oberflächlich religiös sind. Etwa ein Drittel der Kulturmuslime bezeichnet sich als stark gläubig. Die Einstellung zu Sterbehilfe, Homo-Ehe und Abtreibung ist aber mehrheitlich liberal. Ziemlich aussagekräftig ist hierzu die bundesweite Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge „Muslime in Deutschland“ nach dem Stand von 2008.[3]

3. Die Aleviten türkischer, kurdischer und arabischer Herkunft dürften etwa 600.000 Menschen (ca. 14%) ausmachen und werden zu Unrecht meist pauschal den Muslimen zugeschlagen, wie das auch der türkische Staat tut. Auch die zitierte BAMF-Untersuchung ordnet die Aleviten dem Is.lam zu. Aber die alevitischen Gruppierungen erkennen den Koran und die Scharia nicht an, ja sind überhaupt keine Schriftreligion. Sie leben von mündlicher Tradition und Ritualen. Trotz der Verehrung des 4. Kalifen Ali und seines Sohnes Hüseyin (Husain) sowie von zwölf Imamen sind sie auch keine orthodox-schiitische Richtung, sondern stellen eine eigene Religionsgemeinschaft dar. Der Pantheismus hat eine bedeutende Rolle in Gottesvorstellung und Ethik. Die Aleviten haben eine alte Religion, die sich aber wegen der langen Verfolgung noch im Selbstfindungs-Stadium befindet. Sie betonen die Autonomie des Individuums, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, sind in Religion und Politik liberal und haben keinerlei Probleme mit dem Grundgesetz. Es scheint eine große Nähe zu den säkularen Humanisten zu bestehen. Zumindest teilweise sind die Aleviten wohl den Nichtreligiösen zuzuordnen. Ein Teil der recht unterschiedlichen alevitischen Richtungen versteht sich aber als Variante des Islams.

4. Ein weiteres Zuordnungsproblem ist der Umstand, dass der Is.lam keine förmliche Mitgliedschaft kennt wie die Kirchen. Nur eine Minderheit ist organisiert. Am einflussreichsten ist die Türkisch-Islamische Union (DITIB), die religiös zum türkischen staatlichen Präsidium für religiöse Angelegenheiten gehört und zahlreiche Moscheen betreibt. Weitere Dachverbände sind der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD), der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). 2007 gründeten sie den Koordinationsrat der Muslime in Deutschland. Die dazugehörigen Verbände repräsentieren aber insgesamt nur etwa 20 % der in Deutschland lebenden Sunniten. Im selben Jahr wurde der Zentralrat der Ex-Muslime gegründet, der bald Partnerverbände in mehreren europäischen Ländern fand. Diese Verbände haben aufklärerisch-humanistische religionsfreie Grundüberzeugungen. 2010 gründete die deutsche Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor den Liberal-Islamischen Bund, der im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft die islamischen Schriften dogmenfrei auslegen will. Dieser Verband steht in Opposition zu den orthodoxen vorgenannten Verbänden. Seit 2006 veranstaltet das Bundesinnenministerium Islamkonferenzen, deren positive Auswirkung auf die Integration aber recht umstritten ist.

5. Aussagen zum Isl.am in Deutschland sind sehr problematisch. Einerseits steht der orthodoxe Isl.am mit seiner strengen Auffassung von Koran und Scharia und seinen vom Staat oft, und sei es unwissend, unterstützten Machtinteressen und fundamentalistischen Tendenzen im Vordergrund. Auch hat der gefährliche Salafismus beunruhigenden Einfluss gewonnen. Andererseits erfolgt aber eine zunehmende Liberalisierung der muslimischen Bevölkerung und ein sichtbarer Erfolg der „muslimischen“ Bildungsschicht. Zusätzlich wird die Lage trotz zahlloser wissenschaftlicher Untersuchungen dadurch unübersichtlich, dass sich die Verhältnisse ständig ändern. Fraglich bleibt auch, wie sich die vielen muslimischen Flüchtlinge seit 2015 auf die Situation auswirken werden.

VII. Isl.am und Recht
1. Der herkömmliche und überwiegende orthodoxe Is.lam versteht Koran und Sunna als normative göttliche Festsetzungen, so befremdlich das bei kritischer Betrachtung angesichts der großen Widersprüche des Koran und der nachkoranischen langen Entwicklung der Sunna mit ihren verschiedenen Fassungen auch sein mag. Daraus ergibt sich automatisch eine Ablehnung demokratischer Gesetzgebung. Es gibt aber auch Neuinterpretationen von Koran und Sunna durch eine Minderheit islamischer Intellektueller, die eine historisch-kritische Auslegung entwickeln, was zu einer Kompatibilität mit der Demokratie führt. Die Modernisierer wurden meist in die Emigration gezwungen. Ein Zentrum moderner islamischer Theologie ist bisher allerdings die Universität Ankara. Die Ermittlung von Inhalt und Bedeutung des schariatischen Rechts, das vielfach nicht aus Normen im Sinn unserer Rechtsnormen besteht, ist eine komplexe Angelegenheit.

Aus diesen Grundgegebenheiten resultieren erhebliche Probleme mit dem Grundgesetz. Die These der Einheit von Staat und Religion ist theokratisch. Sie ist mit einer Religionsfreiheit im Sinn des GG, die religiöse Gleichberechtigung, die Gleichberechtigung von Mann und Frau und anderes fordert, nicht zu vereinbaren. Die Spannung zwischen dem orthodoxen Isl.am und dem GG ist enorm. Diese Probleme spielen eine erhebliche Rolle in der Frage des islamischen Religionsunterrichts (s. dort). Wegen der inhaltlichen Ausrichtung und Besetzung der staatlich-islamischen Fakultäten (s. islamischer Religionsunterricht) muss auf die Literatur verwiesen werden.

2. In Deutschland gilt, abgesehen vom europäischen und internationalen Recht, ausschließlich Recht, das Bestandteil der deutschen staatlichen Rechtsordnung ist bzw. von dieser ausdrücklich zugelassen wird.
a) Für Muslime ist religionsrechtlich oft das Internationale Privatrecht (IPR) von Bedeutung. In Fällen mit Auslandsberührung ordnet das deutsche IPR an, welche von zwei oder mehreren in Frage kommenden Rechtsordnungen in einem Streitfall anzuwenden ist. Es handelt sich also um Kollisionsrecht. Im Vordergrund steht das islamische Familien- und Erbrecht, etwa wenn eine im Ausland geschlossene Ehe in Deutschland geschieden werden soll, oder bei der Frage, ob eine Witwenrente unter mehreren Frauen geteilt werden soll, oder ob das iranische Versprechen einer Morgengabe in Deutschland einen Rechtsanspruch begründet. Zu allem gibt es eine sehr reichhaltige Rechtsprechung. Wenn deutsches Recht auf die Anwendung ausländischen Rechts verweist, steht das aber stets unter dem Vorbehalt des ordre public. Das heißt, dass die ermittelte Norm nicht mit wesentlichen Grundsätzen unserer Rechtsordnung, insbesondere den Grundrechten, offensichtlich unvereinbar sein darf (Art. 6 EGBGB). Die Problemfälle sind sehr vielgestaltig.
b) Im Strafrecht kann in seltenen Ausnahmefällen die Unvermeidbarkeit eines Verbotsirrtums angenommen werden. In Mordfällen geht der BGH in der Frage der niedrigen Beweggründe von den deutschen Rechtsvorstellungen aus, eine abweichende Bewertung in anderen Volksgruppen spielt keine Rolle. Die Frage der Beschneidung wird in einem eigenen Artikel behandelt.

c) Ein erhebliches Problem ist die Existenz einer islamischen Paralleljustiz durch juristische Laien in Form der Schlichtung, des Strafverzichts gegen Geldentschädigung und von Selbstjustiz. Gerade schwere Straftaten (Familienehre, nicht religiöser Natur) führen oft nicht zu Verurteilungen wegen der Zeugnisverweigerungsrechte oder der Tatübernahme durch in der Bundesrepublik schuldunfähige minderjährige Männer (die nach gängigem islamischem Recht durchaus als „erwachsen“ und „strafmündig“ eingestuft würden). Der Deutsche Juristentag hat sich 2014 mit der „Hinterzimmer-Justiz“ islamischer Friedensrichter befasst und ihre staatliche Anerkennung im Grundsatz mit großer Mehrheit abgelehnt.[4]

d) Im öffentlichen Recht gilt zwar das auch ansonsten geltende Recht, insbesondere allgemeine Religionsverfassungsrecht. Aber der Is.lam bringt eine Fülle an auch gravierenden Streitfragen mit sich, die nur ihn betreffen. Da geht es um Schulfragen (Kopftuch, Gebet, Religionsunterricht, Unterrichtsbefreiung aus verschiedenen Gründen), aber auch Bestattungsrecht, Körperschaftsanerkennung, Lehrerausbildung, Islamische Fakultäten, konfessionelle Mischehen, Schächten. Hierzu wird auf die einschlägigen Artikel verwiesen.
 
Aufklärung; Beschneidung; Islamischer Religionsunterricht; Is.lam und Frauen; Isla.m und Menschenrechte; Kopftuch; Körperschaftsstatus; Unterrichtsbefreiung.

Literatur:

  • Abdel-Samad, Hamed: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland. München 2010.
  • Arsel, Ilhan: „Frauen sind eure Äcker“. Frauen im islamischen Recht. Aschaffenburg 2012.
  • Batz, Georg (Hg.): Islamismus. Sonderheft 13 von ”Aufkl.ärung und Kritik”, 2007. darin u. a. A. Pfahl-Traughber zur Islamismuskompatibilität des Islam, 62-78 (Link)
  • Bock, Wolfgang: Der Is.lam in der aktuellen Entscheidungspraxis des Öffentlichen Rechts, NVwZ 2007, 1250-1257.
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Muslimisches Leben in Deutschland (Im Auftrag der deutschen Islamkonferenz, Verf. Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs), Nürnberg o.D. (wohl 2008), (Link)
  • Bundeszentrale für politische Bildung: Is.lam und islamische Welt. APuZ B 48/2004), Bonn 2004.
  • Duncker, Anne: Menschenr.echte und Islam, bpb 2009 (Link)
  • Endreß, Gerhard. Einführung in die islamische Geschichte. München 1982.
  • Geus, Armin: Die Krankheit des Propheten. Ein pathographischer Essay. Marburg 2010.
  • Halm, Heinz. Der Isl.am – Geschichte und Gegenwart. München, 2011.
  • Harwazinski, Assia Maria: Aufsätze zum Is.lam. Berlin 2012 (Bonner islamwiss. Hefte).
  • Hennig, Wiebke: Muslimische Gemeinschaften im Religi.onsverfassungsrecht, 2010.
  • Heinig, Hans Michael: Islamische Theo.logie an staatlichen Hochschulen in Deutschland, ZevKR 2011, 238-261.
  • Horsch, Silvia: Frauen im Islam, Vortrag in Wittenberg am 13.09.2004. Die Verf. ist Muslima seit 1996. Veröff.: Link) .
  • Ibn Warraq: Warum ich kein Muslim bin, Berlin 2004, 528 S. (Pseudonym. Neuausgabe 2007).
  • Jansen, Hans: Mohammed – Eine Biographie. Der historische Mohammed – was wir wirklich über ihn wissen. München 2008, 491 S.
  • Kaddor, Lamya: Muslimisch, weiblich, deutsch. Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam. Beck, München 2010.
  • Kelek, Necla: Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland. Köln 2005, 270 S.
  • Kepel, Gilles: Die neuen Kreuzzüge. Die arabische Welt und die Zukunft des Westens. München 2004.
  • Kloepfer, Michael: Der Is.lam in Deutschland als Verfassungsfrage, DÖV 2006, 45-55.
  • Köster, Barbara: Der missverstandene Koran. Warum der Isl.am neu begründet werden muss, Berlin 2010.
  • Küng, Hans: Der Is.lam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. München, 2004.
  • Lewis, Bernhard: Stern, Kreuz und Halbmond. 2000 Jahre Geschichte des Nahen Ostens. München 2002.
  • Muckel, Stefan (Hg.): Der Is.lam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, Berlin 2008.
  • Nagel, Tilman: Mohammed. Leben und Legende. München 2008.
  • Oebbecke, Janbernd: Islamische Theolo.gie an deutschen Universitäten. Rechtspolitische Aspekte ZevKR 2011, 262-278.
  • Ohlig, Karl-Heinz: Zur Entstehung und Frühgeschichte des Islam, APuZ 26/27 v. 21.5.2007 (Link)
  • Pfahl-Traughber, Armin: Die Islamismuskompatibilität des Islam. Anknüpfungspunkte in Basis und Geschichte der Religion. In: Aufkl.ärung und Kritik, Sonderheft 13 Islam, 62-78, Nürnberg 2007 (Link)
  • Pfahl-Traughber, Armin: Antisemitismus in der islamischen Welt. Externe und interne Ursachen in historischer Perspektive. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 2004, 1251 bis 1261 (H. 10).
  • Reinsdorf, Clara und Paul (Hg.): Salam oder Dschihad? Isl.am und Islamismus aus friedenspolitischer Perspektive. Aschaffenburg 2003.
  • Rohe, Mathias: Islamisierung des deutschen Rechts?, JZ 2007, 801-806.
  • Rohe, Mathias: Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart. München 2009.
  • Spenlen, Klaus (Hg.): Gehört der I.slam zu Deutschland? Fakten und Analysen zu einem Meinungsstreit. Düsseldorf 2013.
  • Stumpf, Christoph: Die Freiheit des Religionswechsels als Herausforderung für das religiöse Recht des Is.lam und des Christentums, ZevKR 2003, 129 ff.
  • Tibi, Bassam: Die islamische Herausforderung. Religion und Politik im Europa des 21. Jh. Darmstadt 2007, 182 S.
  • Tibi, Bassam: Im Schatten Allahs. Der Isl.am und die Mensch.enrechte. Neuausgabe 2003 (Ullstein-TB, 623 S.).
  • Tibi, Bassam: Kreuzzug und Djihad. Der Is.lam und die christliche Welt. TB 2002.
  • Tibi, Bassam: Selig sind die Belogenen. Der christlich-islamische Dialog beruht auf Täuschungen. DIE ZEIT 29. 5. 2002 (Link)
  • Udink, Betsy: Allah & Eva. Der Is.lam und die Frauen. München 2007, 237 Seiten (Reportagen; „Für Frauen ist Pakistan die Hölle“).
  • Weber, Hermann: Zurückhaltende Abwehr, fürsorgliche Belagerung oder hereinnehmende Neutral.ität? Die Rechtslage des Is.lam in den unterschiedlichen europäischen Staaten. In: ZevKR 2007, 354 ff. (Zu Deutschland: S. 360-368; materialreich).
  •  ZEIT Online vom 29.1.2015 zu Deutschlands Muslimen (Link)
  • Quantara ist ein Dialogportal der Bundeszentrale für politische Bildung und anderer deutscher Institutionen (Link)
  • Zentralrat der Ex-Muslime (Link)
  • www.huda.de  (Netzwerk für muslimische Frauen; politisch und national unabhängig; Zeitschrift HUDA).
  • http://www.koran-auf-deutsch.de/ deutsche Koranausgabe (neben vielen anderen und recht unterschiedlichen)
 


  • [1] Koran 3/110
  • [2] A. A. zu Fuda freilich die Gelehrten der autoritativen al-Azhar-Universität; Hans Küng hat den genannten al-Ghazali jedoch, hoffentlich unwissend, zum Mitautor seines 1995 erschienenen Buchs „Ja zum Weltethos“ erkoren.
  • [3] Einen guten graphischen Überblick bietet ZEIT Online vom 29.1.2015, www.zeit.de/.../-muslime-in-deutschland  , auf der Grundlage der sehr detaillierten Studie des BAMF „Muslime in Deutschland“ o. D. (wohl 2008)
  • [4] Anders als teilweise in Großbritannien.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)