Katholische Kirche und Moderne

I. Begriff
Wenn man heute von Moderne spricht, ist meist – ungeachtet der politischen Restauration nach 1815 – die Epoche nach der Französischen Revolution gemeint, die durch fortschreitende Rationalisierung und Verweltlichung (Säkularisierung) aller Lebensbereiche, Vernunft und „Fortschritt“ sowie die Entstehung des politischen Liberalismus mit allmählicher Etablierung des Menschenrechtsgedankens gekennzeichnet ist. Zu diesen Bestrebungen stand vor allem die kath. Kirche in fundamentalem Widerspruch.

II. Neuzeitliche Vorgeschichte
Knapp drei Jahrzehnte nach Ausbruch der Reformation und noch zu Luthers Lebzeiten eröffnete Papst Paul III. 1545 das Konzil von Trient (Tridentinum). Es ist in Wahrheit kein Ökumenisches Konzil, sondern ein päpstliches, obwohl der päpstliche Primat nicht diskutiert wurde. Die Reformgruppe konnte sich dabei nicht durchsetzen, vielmehr begann die Gegenreformation. Ein zentraler Verhandlungsgegenstand war der Kampf gegen den Protestantismus. Wie nie zuvor wurden Glaube, Theologie, Liturgie und Kirchenrecht in einem Konfessionalisierungsprozess vereinheitlicht. Ein römisch-katholisches Bollwerk wurde errichtet, die Zentralisierung vorangetrieben, die freie Entwicklung des Geistes und der empirischen Naturwissenschaften möglichst unterdrückt.

Ausdruck dieser Unterdrückung war – nach 1542 erfolgter Neubegründung der römischen Inquisition unter Leitung des Sanctum Officium (heute: Glaubenskongregation) – der 1564 erstmals veröffentlichte (tridentinische) Index Romanus. Er wurde erst 1966 indirekt abgeschafft, aber 1983 durch moderatere Vorschriften des Codex Iuris Canonici zur Bücherkontrolle (ohne Indexierung; Can. 822-832 CIC) ersetzt. Religiös blieb die römische Kirche nach dem tridentinischen Konzil mittelalterlich geprägt. Sie tat sich daher besonders schwer mit dem modern-aufgeklärten Paradigma und seiner Veränderung der Staatsauffassung, Philosophie und Naturwissenschaften, denn die Auswirkungen auf Theologie und Ethik waren gewaltig. Der moderne Zeitgeist mit Beendigung des Feudalismus, allmählicher Entwicklung von Bürger- und Menschenrechten, Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Religionsfreiheit blieb der römischen Kirche fremd, ja verhasst. Schon den Westfälischen Frieden von 1648, Abschluss eines 30-jährigen Mordens, erklärte Papst Innozenz X. in seiner Bulle „Zelus Domini“ für null und nichtig, weil den Protestanten Rechte zuerkannt wurden (Letztere kritisierten aber ihrerseits die den Reformierten gewährten Rechte).

III. Neunzehntes Jahrhundert
Den Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – bezeugte Papst Johannes Paul II. 1980 in Frankreich zwar Achtung: es seien im Grunde christliche Ideen. Papst Pius VI. freilich hatte 1791 in seinem Breve „Quod aliquantum“ diese Leitgedanken für unvereinbar mit Vernunft und Offenbarung erklärt und von einer absurden Freiheitslüge gesprochen. Sie laufe auf eine Vernichtung der katholischen Religion hinaus. Scharf verurteilte er insbesondere Rede-, Presse- und Religionsfreiheit. Pius VII. beklagte 1814 die allgemeine Kult- und Gewissensfreiheit: „Dadurch, dass man allen Konfessionen ohne Unterschied die gleiche Freiheit zugesteht, verwechselt man die Wahrheit mit dem Irrtum und stellt die heilige und makellose Braut Christi, die Kirche, ohne die es kein Heil geben kann, auf die gleiche Stufe wie die häretischen Sekten oder die treulosen Juden…“ Gegen die liberale und demokratische Bewegung baute das Papsttum im 19. Jh. „eine eindrucksvolle lehramtliche Bastion auf und umgürtete sie mit vielen Schutzwällen“ (J. Isensee). Herausragend war die Enzyklika „Mirari vos“ Gregors XVI., der mit Hilfe Metternichs gewählt worden war und regierte. In seinem Kirchenstaat herrschte Justizwillkür. 1838 etablierte Gregor wieder das römische Judenghetto mit scharfen Restriktionen und bußgeldbedrohten Zwangspredigten für alle über 12 Jahre alten Juden. In der genannten, 1832 ergangenen Enzyklika hieß es: „Wir verurteilen die abscheuliche Frechheit und Bosheit jener, die schäumend in verworfener, zügelloser Gier nach ungehemmter Freiheit ganz darin aufgehen, alle Rechte der Obrigkeiten ins Wanken zu bringen und zu zerreißen…“.

Mindestens so spektakulär war die Enzyklika „Quanta cura“ des 2000 selig gesprochenen Pius IX. aus dem Jahr 1864 mit ihrem berüchtigten Anhang, dem „Syllabus errorum“. Dort wurden in Form eines Bannfluchs nochmals 80 liberale Irrtümer angeprangert, darunter in Nr. 15 die individuelle Religionsfreiheit, in Nr. 45 die staatliche Schule, in Nr. 67 die staatliche Ehescheidung, in Nr. 77 die Anerkennung einer anderen als der katholischen Religion als ausschließliche Staatsreligion und in Nr. 80 die Ansicht, der Papst müsse sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Kultur aussöhnen und verständigen. Und noch Leo XIII., der durch seine Sozialenzyklika „Rerum novarum“ von 1891 bekannt ist und in Vielem aufgeschlossen war, sah im menschlichen Autonomiebegehren eine Rebellion gegen Gott.

IV. Zwanzigstes Jahrhundert
1. Nur erwähnt werden können aus der Regierungszeit von Pius X. (1903-1914) die schlimmen Kapitel der Etablierung einer Art Kurial-Gestapo unter Umberto Benigni und das Dekret „Lamentabili sane exitu“ im Jahr 1907, mit dem 65 Sätze des berühmten französischen Theologen Alfred Loisy – Haupt der sog. Modernisten – verurteilt wurden. Fast gleichzeitig folgte die Antimodernistenenzyklika „Pascendi Dominici gregis“, mit der unorthodoxe Theologen dämonisiert wurden, was zur Durchschnüffelung des ganzen katholischen Europa führte. 1910 führte Pius X., (heiliggesprochen 1954) den berüchtigten Antimodernisteneid ein, den jeder Priester schwören musste und der eine geistige Entwürdigung darstellte (abgedruckt in: Glaubensbekenntnis und Treueid, s.u.). Inwieweit spätere und aktuelle Eidesformeln vom Gewissen her akzeptabel erscheinen, ist eine andere Frage. Es folgte Benedikt XV., der 1917 den „Codex Iuris Canonici“ approbierte. Dieser wurde erst durch denjenigen von 1983 abgelöst. Im Codex von 1917 kommt die oberste Gewalt des Papstes entsprechend den 1870 unter einzigartigen beschämenden Umständen (s. die Forschungen von A. B. Hasler, 1977) zustande gekommenen neuartigen (streitig) Dogmen vom Jurisdiktionsprimat und von der Unfehlbarkeit der ex-cathedra-Entscheidungen des Papstes zum Ausdruck. Jegliche Anklänge an demokratische Strukturen fehlen dabei. Pius XI. schloss die wichtigen Konkordate mit dem faschistischen Italien (1929) und NS-Deutschland (1933), und die katholischen Diktaturen Francos und Salazars billigte er.

2. In Pius XII. gipfelt das autoritäre zentralistische Papsttum der bisherigen Geschichte. Berühmt ist die Aussage Pius’ XII. aus seiner „Toleranzansprache“ von 1953: „Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein.“ [Hervorh. Cz.] Das wurde damals als Fortschritt angesehen, obwohl der Mensch als Person dabei zum Objekt eines abstrakten Wahrheitsbegriffs erniedrigt wurde. Das Naturrecht, das die Kirche in anderen Bereichen beharrlich geltend machte, wurde damit jedoch verkehrt. Alles hing von der Kirche als der über die „Wahrheit“ entscheidenden Instanz ab. Eine solche Theorie war aber „prinzipiell sozial unverträglich“ (E.-W. Böckenförde).

V. Umkämpfte freiheitliche Wende
Bis zur revolutionären Erklärung über die Religionsfreiheit des 2. Vat. Konzils von 1965 galt, was der mächtige Kardinalstaatssekretär Alfredo Ottaviani so formulierte: „In der Tat, man muss zweierlei Maß und Gewicht nehmen: eines für die Wahrheit, eines für den Irrtum.“ Diese Auffassung vertrat auch noch 1964 Klaus Mörsdorf, der damals bekannteste deutsche Kanonist, in seinem Lehrbuch des kath. Kirchenrechts. Damit hat die „Declaratio de libertate religiosa“ des 2. Vatikanums von 1965 ebenso radikal gebrochen wie mit der Judenfeindschaft. Der menschlichen Person als solcher wurde nun eindrucksvoll die Freiheit zuerkannt. Die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz sollte vom Staat „niemals offen oder verborgen um der Religion willen verletzt“ werden (Art. 6). Inwieweit die katholische Kirche aus diesem wirklich großartigen Dokument z. B. in Deutschland Folgerungen gezogen hat, ist eine ganz andere Frage. Nach wie vor strebt die katholische Kirche nach Dominanz in Staat und Gesellschaft und versucht, auch mit wichtigen Teilerfolgen, Andersdenkenden ihre spezielle Moral mittels der Gesetzgebung aufzunötigen (s. auch unter Privilegien). Der innerkirchliche Absolutismus ist nach wie vor ungebrochen.

Kirchenrecht; Menschenrechte; Privilegien; Säkularisierung.

Literatur:

  • Aubert, Roger: Das Problem der Religgggionsfreiheit in der Geschichte des Christegggntums, in: Lutz, Heinrich (Hg.), Zur Geschichte der Tolegggranz und Religionsfregggiheit, Darmstadt 1977, 422/ 436-454 (frz. Orig. 1969);
  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Einleitung zur Textausgabe der „Erklärung über die Religiongggsfreiheit“, in: Lutz, Heinrich (Hg.), Zur Geschichte der Tolegggranz und Religionsfgggreiheit, Darmstadt 1977, 401-421 (Original 1968);
  • Cornwell, John: Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat. München 1999; TB-Ausg. 2001, 560 S.;
  • Glaubensbekenntnis und Treuegggid. Klarstellungen zu den „neuen“ römischen Formeln für kirchliche Amtsträger. Mainz 1990 (mit Kommentaren von Gustave Thils und Theodor Schneider; Textdokumentationen);
  • Hasler, August Bernhard: Wie der Papst unfehlbar wurde, Frankfurt a. M. u. a. 1981 (mit Begleittexten von H. Küng und G. Denzler);
  • Isensee, Josef: Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menscggghenrechten als staatsphilosophisches Paradigma. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte (ZRG) Kan. Abt. 73 (1987), 296-336;
  • Küng, Hans: Das Christentum, München 1994, 564 ff.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)