Klage auf Entschädigung nach OEG wegen Missbrauch in katholischem Heim

Gegenstand der Klage

Die 1948 geborene Klägerin bezieht eine nur sehr geringe gesetzliche Rente, da sie seit ihrer Kindheit mit gesundheitlichen Problemen sowohl somatischer als auch psychosomatischer Art zu kämpfen hat, die eine Erwerbsarbeit viele Jahre lang unmöglich machen. Die Klägerin führt ihre Probleme hauptsächlich auf die Zeit ihres Aufenthalts in einem katholischen Kinderheim von 1954 bis 1958 zurück, in welcher sie von Ordensschwestern psychisch gedemütigt und von zwei Priestern sexuell missbraucht worden war. Die Klägerin begehrt eine Versorgung nach §§ 1, 10a Opferentschädigungsgesetz (OEG) aufgrund der Gewalttaten im katholischen Heim.

Sachverhalt

Die Klägerin führt aus, dass sie - wie alle anderen Kinder - der psychischen und körperlichen Gewalt und der Willkür der in dem katholischen Kinderheim lebenden Nonnen ausgeliefert war. Sie durfte nicht reden, musste körperlich schwere Arbeiten verrichten, durfte keinen Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen, wurde zum Essen gezwungen und hatte sich unterzuordnen. Sie hatte nur zu schweigen, zu beten, zu essen und zu arbeiten. Regelverstöße wurden mit Schlägen, Isolation, stundenlangem Stehen (zum Teil barfuß) in der Besenkammer oder auf dem dunklen Dachboden oder der Bodentreppe und mit Schlafentzug geahndet. Darüber hinaus musste sie Strafarbeiten und schwere Hausarbeiten  verrichten. In der Schule, die sie besuchte, durfte sie keine Freund­schaften schließen und nichts über das Kinderheim erzählen. Nach der ,,Erstkommunion" und die daran anschließende Beichtpflicht wurde die Klägerin wiederholt von einem Priester sexuell missbraucht. Dieser Priester wurde sodann von einem anderen Priester abgelöst, der die Klägerin ebenfalls wiederholt sexuell missbrauchte.

Verfahrensstand

Ab dem Jahr 2009 erlangt die Klägerin aufgrund der Medienberichterstattung Kenntnis über das Schicksal westdeutscher Heimkinder zwischen 1949 und 1975. Dies veranlasste sie, über die sexuellen Übergriffe durch die katholischen Priester zu reden und 2012 einen Antrag nach §§ 1, 10a OEG an das Versorgungsamt des Landes Brandenburg zu stellen. Der Antrag wird im Mai 2013 abgelehnt.

Gegen die Ablehnung des OEG-Antrags legt die Klägerin Widerspruch ein.

In Reaktion auf den Widerspruch der Klägerin lässt das beklagte Versorgungswerk eine versorgungsärztliche Stellung­nahme (Dezember 2016) sowie ein Glaubhaftigkeitsgutachten nach Aktenlage (also ohne jeh mit der Klägerin direkt kommuniziert zu haben) von Prof Dr. S. (Juni 2017) sowie eine weitere versorgungsrechtliche Stellungnahme (Juli 2017) ausarbeiten und weist den Widerspruch im August 2017 zurück. Die Zurückweisung wird unter Bezug auf das Glaubhaftigkeitsgutachten damit begründet, dass unter Betrachtung der Aussageentstehung und der Aussageperson (der Kläge­rin) von einem hohen Suggestionspotential auszugehen sei. Der Gutachter habe nachweisen können, dass die Klägerin unbewusst Kenntnisse anderer Betroffener übernommen habe. Die intensive Beschäftigung der Klägerin mit den Themen der Heimerziehung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie die hohe Parallelität in den Aussagen der Klägerin mit den Aussagen einer weiteren Zeugin würden den Verdacht auf Suggestion stützen. Die Erlebnisse der Klägerin in dem Heim zwischen 1954 und 1958 seien daher nicht als erlebt sondern als durch Suggestion erzeugte Erinnerungen anzusehen.

Gegen die Zurückweisung ihres Widerspruchs erhebt die Klägerin im September 2017 Klage, 2018 wird die Klagebegründung mit anwaltlicher Vertretung und Begleitung durch das ifw nachgereicht. Mit Urteil vom 04.03.2020 weist das Sozialgericht Berlin die Klage ab. Nach Auffassung des Gerichts sind die geschilderten körperlichen und sexuellen Gewalttaten während des Aufenthaltes im Heim in den Jahren 1954 bis 1958 nicht glaubhaft. Zwar geht die Kammer nicht von unwahren Äußerungen aus, wohl aber von "Pseudoerinnerungen und suggestiven Einflüssen". Ihre Angaben seien durch eine psychische Erkrankung geprägt. Die Tatsache, dass das Glaubwürdigkeitsgutachten rein nach Aktenlage und ohne ein persönliches Gespräch zwischen Gutachter und Klägerin erstellt worden war, wird seitens des Gerichts überhaupt nicht problematisiert. Die Klägerin legt gegen das Urteil Berufung ein. Dort werden durch das Landessozialgericht noch zwei weitere Gutachten in Auftrag gegeben.

Reaktion der katholischen Kirche

Im März 2014 teilt das Erzbistum Berlin der Klägerin mit, dass die Zentrale Koordi­nierungsstelle beim ,,Büro für Fragen sexuellen Missbrauchs  Minderjähriger im kirchlichen Bereich" den sexuellen Missbrauch, den die Klägerin erfahren musste, als schwerwiegenden Härtefall einschätzte und aufgrund  dessen  auf  ihren  Antrag hin  eine  freiwillige Leistung ohne Anerkennung  einer Rechtspflicht i.H.v. 8.000 EUR gezahlt werde.

Rechtliche Problematik

Die Ablehnung des Antrags auf Entschädigung stützt sich wesentlich auf ein aussagepsychologisches Gutachten nach Aktenlage. Insofern ist die Frage, ob das konkrete Gutachten bzw. aussagenpsychologische Gutachten im Allgemeinen bei Missbrauchsfällen im Kontext des OEG herangezogen werden können, von entscheidender Bedeutung. Im Folgenden finden sich wesentliche Argumente der Klagebegründung in zusammengefasster Form.

Gemäß  §§ 1, 10a Abs. 1 OEG hat derjenige, der im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieses Angriffs einen Anspruch auf Opferentschädigung. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß  § 6 Abs. 3 OEG anzuwen­den ist, sind bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung (also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff) im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Bei dem "Glaubhafterscheinen" iS. des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernst­lich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 128 Rdn 3d mwN), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Obergewicht zukommen. 

In der Klagebegründung wird dargelegt, dass die Zurückweisung des Antrags der Klägerin unter Berufung auf das aussagepsychologische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. unbegründet ist:

  1. Glaubhaftigkeitsgutachten gemäß der von Prof. S. vorgeschlagenen Methode sind per se wissenschaftlich fraglich, da deren Gütekriterien und Fehleranfälligkeit nicht gut beschrieben sind. Der aus der Inferenzstatistik stammende Begriff der ,,Nullhypothese" suggeriert, die Entscheidung für oder gegen diese Hypothese basiere auf einem Hypothesen überprüfenden inferenzstatistischen Verfahren wie bei einem Signifikanztest. Bei dieser Art der Glaubhaftigkeitsbegutachtung handelt es sich jedoch nicht um ein statistisches Testverfahren, sondern um einzelfallorientierte Entscheidungen durch persönliche Einzelexpertise, beruhend auf qualitativem Material (siehe auch Fegert/Gerke/Rassenhofer: Enormes professionelles Unverständnis gegenüber Traumatisierten, Nervenheilkunde 2018, BL 525 ff bzw. Malte Meißner in "Die Kriminalpolizei"). Der Bundesgerichtshof hat am 30.07.1999 festgehalten, dass Sachverständige in Verfahren zu sexuellem Missbrauch ausschließlich methodische Mittel anwenden sollen, die dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Die Methoden der Aussagepsychologie entsprachen laut Meißner schon zur Zeit des Urteils des BGH vom 30.07.1999 nicht dem Stand der Wissenschaft, und tun dies noch viel weniger angesichts des Erkenntnisfortschritts der Psychologie, insbesondere der Traumatologie, der letzten 20 Jahre. Es ist nach Meißner zu befürchten, dass sich die aussagepsychologische Methodik vor Gericht verfälschend auswirken kann und ihre Anwendung ein Vorgehen nach dem Stand der Wissenschaft verhindert: "Die Anwendung aussagepsychologischer Methodik in Gerichtsverfahren ,,muss zu Fehlern führen, die sich u.A. auf Grund des Negationsprinzips oder der einseitigen Bewertung von Suggestionen und Zeugenmerkmalen vorrangig zu Lasten der Opferzeugen auswirken werden" (link).
  2. Glaubhaftigkeitsgutachten nach dem Ansatz von Prof. S. sind zumindest für Fälle traumatisierenden sexuellen Missbrauchs nicht geeignet, da diese Art von Gutachten mit und für Nichttraumatisierte entwickelt wurde und der ganze Ansatz, von Anfang an von der Nichtglaubwürdigkeit der Klägerin auszugehen, allenfalls für Strafsachen geeignet ist (hier nicht der Fall). Glaubhaftigkeitsgutachten sind im sozialen Entschädigungsrecht grundsätzlich nicht geeignet, einen Nachweis der erlittenen sexuellen Gewalt in der Kindheit zu erbringen. In der Psychotraumatologie liegen Forschungsergebnisse vor, die belegen, dass eingeschränkte Gedächtnisleistungen in der Folge von schweren Missbrauchserfahrungen eintreten können und diese auch neurobiologisch erklärbar sind. Klinische und neuropsychologische Befunde zu Gedächtnisleistungen nach kindlicher Traumatisierung implizieren, dass gerade für Menschen, die fortgesetzte chronische Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen gemacht haben, die Anwendung der kriterienbasierten aussagepsychologischen Begutachtung nicht angemessen ist. Strukturelle Veränderungen im Nervensystem und der Stressachse führen zu Einschränkungen der Gedächtnisleistung, die es in Kombination mit häufig zusätzlich vorliegenden komplexen psychischen Traumafolgestörungen unmöglich machen, einzelne, zumeist lange zurückliegende Ereignisse als distinkte Einzeltaten zu beschreiben (Fegert a.a.O.). Die Erinnerungen von Betroffenen schwerer fortgesetzter Missbrauchstaten sind durch das fortgesetzte Geschehen geprägt; sie erinnern sich weniger an einzelne Details von Abläufen. Ihre Aussagen beschreiben eher ein Gesamterleben und das emotionale Ausgeliefertsein (Fegert u.a., a.a.O.). Darüber hinaus ist die im Strafrecht gebotene Ausrichtung auf maximale Spezifität und Verhinderung von falsch positiven Feststellungen in anderen Rechtsgebieten inadäquat.
  3. Das Gutachten leidet an erheblichen konkreten Mängeln. Das aussagepsychologische Gutachten hätte nicht rein nach Aktenlage ergehen dürfen. Der Sachverständige hätte die Klägerin vielmehr persönlich anhören müssen, um eine Gesamtwürdigung der Aussagen treffen zu können. Da diese nicht stattgefunden hat, ist das Gutachten unzureichend. Hätte eine solche stattgefunden, hätten die Feststellungen zur Aussagegenese viel umfassender ausfallen müssen, insbesondere ist die im Sachverhalt geschilderte Entwicklung, die zum OEG-Antrag der Klägerin führte, plausibel und Aussagen darüber fehlen im Gutachten völlig.

Zudem wird eine Suggestion der Klägerin durch Frau H., die ähnliche Erlebnisse schilderte, angenommen, ohne dass der Gutachter die Möglichkeit berücksichtigt, das eine Beeinflussung, sollte es diese gegeben haben, auch andersherum erfolgen kann, also Frau H. von der Klägerin beeinflusst war. Ähnliche Schilderungen von Erlebnissen können auch darauf beruhen, dass tatsächlich Ähnliches erlebt wurde.

Das Hauptargument des Sachverständigen für seine Behauptung, die Aussage der Klägerin beruhe auf Auto- bzw. Fremdsuggestion, begründet er mit dem Engagement der Klägerin zur Aufklärung des den Heimkindern in kirchlichen Einrichtungen erlittenen Unrechts und Leids und der damit in Zusammenhang stehenden Rehabilitation. Die Möglichkeit, dass die Klägerin sich deshalb so engagiert, weil sie selbst die geschilderten traumatischen Erfahrungen erlebt hat, zieht der Sachverständige nicht in Betracht. Dieser Möglichkeit kommt durch die Ergebnisse des Runden Tisches Heimerziehung sowie durch die zahlreichen publizierten autobiographischen Berichte ehemaliger Heimkinder eine hohe Wahrscheinlichkeit zu.

Der Sachverständige vermisst bei den vorgenommenen Feststellungen zum Aussageinhalt zeitnahe Angaben über körperliche und sexuelle Gewalterfahrungen im Kindesalter, die mehr als 50 Jahre zurückliegen. Damit ignoriert er Hauptergebnisse der Traumaforschung über Erkenntnisse über die Abspaltung existenzbedrohender Gewalterfahrungen im Kindesalter und ihrer Reaktivierung und Vergegenwärtigung im vorgeschrittenen Lebensalter, sowie die solche Prozesse auslösenden Faktoren, zu denen u.a. auch die Aufhebung bzw. Überwindung der gesellschaftlichen Tabuisierung sexueller Gewalt an Kindern in häuslichen und institutionellen Einrichtungen (insbesondere auch kirchlichen) gehört. Gerade der Erfahrungsaustausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen in ähnlichen Kontexten gemacht haben, ist ein wirksamer Schutz gegen dieses Risiko und eine große Ermutigung, den Weg der Selbstaufklärung weiter zu gehen und nicht im Schweigen und in Resignation zu versinken. Eben diesen Erfahrungsaustausch benutzt der Sachverständige gegen die Klägerin, in dem er ihr unterstellt, sie habe mit konstruierten Erinnerungen und deren manipulativer Verwendung Leistungen nach dem OEG erschleichen wollen.

Ergänzend wird auf die Veröffentlichung des Forschungsprojekts ,,Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" - MHG-Studie") am 24. September 2018 verwiesen, wonach vieles an den Schilderungen der Klägerin ,,typisch" für Fälle sexuellen Missbrauchs schutzbefohlener Kinder in kirchlichen Einrichtungen, insbesondere in Heimen ist. In dieser Studie sind mehrere Aspekte als typisch oder häufig für Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen dargestellt, die auch auf die Klägerin zutreffen. Die Parallelität zu anderen Fällen kann schlicht daran liegen, dass der Fall der Klägerin in vielerlei Hinsicht ,,typisch" ist etwa im Hinblick auf den Tatort, die Tathäufigkeit, das Alter des Opfers und weiterer Umstände und es insofern zu erwarten ist, dass auch andere Opfer ähnliche Erlebnisse schildern. Die statistischen Erkenntnisse aus der MHG Studie zeigen, dass die von der Klägerin geschilderten Ereignisse in vielerlei Hinsicht ,,typisch" sind für Kinder, die in kirchlichen Einrichtungen sexuell missbraucht wurden. Sie belegt außerdem, dass die ,,Parallelität" zu anderen Fallen kein Hinweis auf Suggestion ist, sondern für ,,typische Fälle" statistisch schlicht zu erwarten ist. Dass Prof. Dr. S. diesen Umstand nicht als alternative Erklärung für ,,Parallelität" zu anderen Fällen in Betracht zieht, lässt an der Qualität des Gutachtens im konkreten Fall zweifeln.

Zudem scheint die Gefahr der Befangenheit des Gutachters Prof. S. zu bestehen. Prof. S prüfte schon mehrfach im Auftrag der katholischen Kirche katholische Geistliche, die des Missbrauchs beschuldigt wurden. Ausgewählt für diese Gutachtertätigkeit wurde Prof. S. von dem Psychiater, römisch-katholischen Theologen und Vatikanberater Manfred Lütz.