Klerikalismus

I. Begriff
Klerikalismus wird im öffentlichen Leben als abwertende Bezeichnung für religiöse, gesellschafts- und machtpolitische Ansprüche insbesondere der kath. Kirche und ihre Folgen verwendet. Es geht um Bestrebungen im politischen Raum, unmittelbar und mittelbar politischen Einfluss auszuüben mit dem Ziel einer unangemessenen Dominanz über andere Richtungen, über normale pluralistische Interessenvertretung hinaus. Ursprünglich ist „klerikal“ ein Begriff des katholischen Kirchenrechts, wonach der Klerikerstand Geistliche ab der Diakonatsweihe umfasst und traditionell mit zahlreichen Privilegien verbunden war. Innerkirchlich bedeutete Klerikalismus eine ungerechtfertigte Entmündigung der Laien, die im Verlauf des 2. Vat. Konzils 1964/65 und durch das kirchliche Gesetzbuch (CIC) von 1983 (s. Kirchenrecht) merklich gemildert wurde, soweit nicht geistliche Ämter betroffen sind.

II. Adenauer-Ära
In Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik spielte der Klerikalismus eine bedeutende Rolle während der Adenauer-Ära (1949-1963). Die starke politische Prägung der Nachkriegszeit durch die katholisch dominierten christlichen Parteien, eine wesentliche Voraussetzung des Klerikalismus, setzte ein entsprechendes Umfeld voraus. Aus dem Zusammenbruch 1945 mit seinem Vakuum ging vor allem die katholische Kirche (trotz ihrer starken Verstrickung mit der NS-Herrschaft und ihrer abgründigen Judenfeindschaft) als organisatorisch intakt gebliebene Ordnungsmacht gestärkt hervor, was durch die stärkere Verbreitung des Katholizismus in den Westzonen Deutschlands noch betont wurde. Der Katholizismus war in der Lage, enormen Druck auf den Parlamentarischen Rat auszuüben. Die ideologischen Gegensätze traten bei den GG-Beratungen schroff zutage, und an den weltanschaulichen Gegensätzen drohte die Verfassung zu scheitern. Obwohl sich ein christlicher oder gar katholischer Staat nicht durchsetzen ließ, ergab sich nach den ersten Bundestagswahlen 1949 unter der konservativen Bonner Regierung ein besonders für den politischen Katholizismus günstiges Klima. Schon zuvor rief die Geistlichkeit unter scharfer Kritik insbesondere an der SPD zur Wahl „christlicher Politiker“ auf, etwa: „Kann und darf ein Christ, ein Katholik, einer solchen Partei seine Stimme schenken?“ Viele katholische Bischöfe stellten ihre gesamte diözesane Infrastruktur in den Dienst des Wahlkampfes, mit Hirtenschreiben, Kundgebungen, Flugschriften, Großveranstaltungen, und die katholischen Verbände stellten zahlreiche Wahlkampfredner.

III. Beispiele
Klassische Beispiele für politischen Klerikalismus sind neben der aktiven kirchlichen Wahlpropaganda (durch Hirtenbriefe, Predigten, Gemeindearbeit, kirchliche Presse) die Einflussnahme auf Einzelentscheidungen des Staates und die Personalpolitik. Ein ständiger Informationsfluss zwischen Staat und Kirchen erfolgt auf allen Ebenen. Der Klerikalismus ist verbunden mit einer Politisierung der Kirche und Moralisierung von Parteien. Das zeigte (und zeigt) sich deutlich in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs und der Sterbehilfe, die z.T. langfristig das politische Klima gestört, ja vergiftet haben. Teilweise wurden auch den C-Parteien Diskussionen und Positionen aufgedrängt, die sie gar nicht mehr wollten.

Thomas Ellwein, bedeutender Politologe der Nachkriegszeit, hat in seiner Streitschrift zum K. aus dem Jahr 1955 resümiert: „Die Entwicklung der letzten zehn Jahre im konfessionellen Bereich und im Verhältnis von Staat und Kirchen gibt zu großen Besorgnissen Anlaß“ (Ellwein 1955, Vorwort). Gepaart war der K. mit einem paritätischen Konfessionalismus (Proporzdenken), bei dem für weltanschauliche Minderheiten kein Raum blieb. Es herrschte ein Kulturkampfklima, in dem der Kampf um die Schule thematisch im Mittelpunkt stand. Im Volksschulbereich waren die klar dominierenden Konfessionsschulen (Bekenntnisschulen) mit konfessioneller Lehrerbildung verbunden (bis Mitte der 60 er Jahre). Religionsfreiheit war selbst für die Rspr. eine nahezu unbekannte Größe. Mit großer Kraft stemmte sich die katholische Kirche gegen die rechtliche Gleichstellung der Frau. Erheblich war das gegenseitige Misstrauen und die Gegnerschaft der großen Kirchen, wobei der vehemente Kampf der katholischen Kirche gegen die christliche Mischehe mit erforderlichenfalls Unterwerfung des evangelischen Teils bezüglich der Kindererziehung eine Rolle spielte. Freie Demokraten und Sozialdemokraten wurden vielfach als Irrende und Sünder, wenn nicht Handlanger des Antichrist dargestellt. Die kurzfristige Vierer-Koalition in Bayern (Ende 1954-1957, unter Ausschluss der CSU) wurde von Bistumsblättern als marxistisch-liberal und antikirchlich verunglimpft, obwohl sie einen parteipolitisch neutralen Katholiken zum Kultusminister und den Präsidenten der evangelischen Landessynode zu seinem Staatssekretär machte. Wenn kritikwürdige Auswirkungen von Konfessionalismus und Klerikalismus kritisiert wurden, sprachen C-Parteien und Kirchen meist von „Konfessionshetze und Brunnenvergiftung“. Zu erwähnen sind auch Bestrebungen zu kulturpolitischen Zensurmaßnahmen.

III. Integralismus
Innerhalb der C-Parteien wurde die Rede vom „christlich-abendländischen Kulturkreis“ zur wichtigsten Integrationsformel (s. Abendland, christliches), und ein angestrebtes einiges Europa konnte man sich nur als dezidiert christlich vorstellen. Die integralistischen Tendenzen wurden unterstützt durch Papst Pius XII. Dieser wiederholte 1954 einen Satz des von ihm heiliggesprochenen Pius X., wonach alle Handlungen des Menschen in Bezug auf ihre Qualifikation als sittlich gut oder böse dem Urteil und Rechtsspruch der Kirche unterstehen. Den Satz: „Die Autorität gilt nur so viel wie ihre Gründe“ lehnte Pius XII. im Hinblick auf die Gehorsamsverpflichtung ab. Berühmt-berüchtigt ist sein Satz aus der sog. Toleranzansprache von 1953 zum Ideal des katholischen Staats: „Was nicht der Wahrheit und dem Sittengesetz entspricht, hat objektiv kein Recht auf Dasein, Propaganda und Aktion. Nicht durch staatliche Gesetze und Zwangsmaßnahmen einzugreifen, kann trotzdem im Interesse eines höheren und umfassenderen Gutes gerechtfertigt sein.“ Erst die grundstürzende Konzilserklärung über die Religionsfreiheit von 1965 bereitete dieser Intoleranzdoktrin (Wahrheit vor Freiheit) das Ende, und etwa um diese Zeit endete auch der Klerikalismus und Konfessionalismus als staatstragendes politisches Prinzip Westdeutschlands.

IV. Aktualität des Klerikalismus
1. Klerikale Tendenzen treten immer wieder zutage. Ein gutes Beispiel ist die generalstabsmäßig geplante Großdemonstration in München 1995 für das Kruzifix und gegen den Kruzifix-Beschluss des BVerfG (s. Kreuz im Klassenzimmer), bei der der ideologische Schulterschluss zwischen den höchsten Repräsentanten der Kirchen und des Staates nicht deutlicher hätte sein können. Schon zuvor hatten hochrangige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens offen zum Rechtsbruch aufgefordert und seitens der katholischen Kirche wurde eine nie da gewesene Protestwelle an die Adresse des BVerfG großflächig organisiert. Teile der Presse und sogar der etablierten Demoskopie beteiligten sich an den demagogischen und z.T. hetzerischen Umtrieben.[1]

2. Von zahllosen weiteren Beispielen sei nur das folgende herausgegriffen. Im Sommer 2008 forderte die Fraktion der Grünen im Bayerischen Landtag, angesichts der geänderten Verhältnisse sollten die beiden großen Kirchen ihre Bischöfe nunmehr selber zahlen und nicht mehr der Staat, wie in Konkordat und Kirchenvertrag von 1924 vorgesehen. Kurz zuvor hatten die Grünen im Hinblick auf eine muslimische Anfrage auf die geltende grundgesetzliche Rechtslage darauf verwiesen, in Schulen seien keine religiösen Symbole zu verwenden. Die CSU-Kritik war derart massiv, dass die Grünen schnell einen Rückzieher machten und versicherten, in den Volksschulen sollten die Kreuze bleiben. Zur Kritik an den Bischofsgehältern erregte sich damals der evangelische Ministerpräsident Beckstein, es handele sich um einen weiteren „frontalen Angriff auf die christliche Leitkultur und die gläubigen Christen“.[2] Weitere Beispiele s. unter Politik und Religion. Heute ist der staatlich-parteipolitische Kampf speziell gegen die „Ungläubigen“ und „Atheisten“ gerichtet, deren ethische Wertigkeit manche Kirchenfürsten und auch Politiker z. T. sogar offen in Frage stellen. Ihre gesellschaftlich-rechtliche Benachteiligung ist trotz der heutigen religionssoziologischen Situation etwas fast Selbstverständliches.
3. Ein Sonderkapitel ist der gigantische Kirchenlobbyismus, den Carsten Frerk ans Tageslicht gebracht hat (s. Lit.). Er weist im Detail nach, dass selbst heute noch der kirchliche Einfluss auf die Politik institutionalisiert und enorm ist. Er stellt einen speziellen Aspekt des Klerikalismus dar.

Abendland; Bioethik; Christentum und Grundgesetz; Grundgesetz, EntstehungsgeschichteKirchenrecht; Lobbyismus, kirchlicher; Privilegien; Statistik.

Literatur:

  • Ellwein, Thomas: Klerikalismus in der deutschen Politik, 2. A. München 1955, 305 S.
  • Frerk, Carsten: Kirchenrepublik Deutschland. Christlicher Lobbyismus. Aschaffenburg 2015.
  • Gauly, Thomas: Katholiken. Machtanspruch und Machtverlust. Bonn 1991 (insb. 127-178 zum Konfessionalismus und Klerikalismus in der Adenauer-Ära).
  • Lamprecht, Rolf: Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden 1996, 39 ff., 77 ff.
  • Rock, M./v. Rutenberg, J.: Kirchliche Interventionen in den politischen Prozeß: Hirtenbriefe zu Bundestagswahlen. In: H. Abromeit/G. Wewer (Hrsg.): Die Kirchen und die Politik, Opladen 1989, 263-277.
  • Simon, Helmut: Katholisierung des Rechtes? Zum Einfluß katholischen Rechtsdenkens auf die gegenwärtige Gesetzgebung und Rechtsprechung, Göttingen 1962 (Bensheimer Hefte), 53 S.

  • [1] S. die detaillierte und gut dokumentierte Darstellung bei Rolf Lamprecht a.a.O.
  • [2] vgl. z.B. Augsburger Allgemeine v. 23.8.2008 S. 5.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)