Liberale Rechtstheorie
(Neutralitätsliberalismus)
I. Philosophie für moderne Demokratien
Es geht hier nicht um spezielle Positionen einer politischen Partei, sondern um eine fundamentale rechts- und staatsphilosophische Theorie und ihre Bedeutung für moderne Demokratien, insbesondere den Staat des GG. Nicht gemeint ist auch die heute selbstverständliche liberale Forderung nach individueller Freiheit und Demokratie. Die Liberale Rechtstheorie hat allerdings mit der Entstehung des politischen Liberalismus zu tun und befasst sich mit der Frage, wie die individuell verschiedenen Vorstellungen vom Guten auf staatlicher Ebene in Einklang gebracht werden sollen.
II. Historische Voraussetzungen
Eine wesentliche Bedingung für die Entstehung moderner Staaten war es nach den verheerenden Religionskriegen, eine Art neutraler Haltung gegenüber den Religionsparteien einzunehmen (s. Religionsfreiheit) Der so aus Zweckmäßigkeitsgründen säkularisierte Staat ist besser in der Lage, durch Einbindung r-w Minderheiten den inneren Frieden und Stabilität zu gewährleisten. Eine deshalb duldende Toleranz ist aber nur ein Liberalismus der Furcht. Volle allgemeine Gleichberechtigung war mit einem solchen sich immerhin allgemein-christlich verstehenden Staat nicht verbunden. Je zahlreicher und stärker die pluralistischen Vorstellungen gegenüber einer bisher privilegierten Mehrheitskultur (konkret: Christentum) werden, desto schwieriger sind auf bloße duldende Toleranz aufgebaute Gesellschaften und Staaten zu integrieren. Ein nur die Mehrheitskultur voll berücksichtigender ideologischer Grundkonsens benachteiligt immer zahlreichere und stärkere Minderheiten, die Gleichheitsdefizite werden immer größer. Hier setzt die Liberale Rechts- und Staatstheorie an.
III. Säkularer Grundkonsens aller Staatsbürger auf Gleichheitsbasis
1. Auch der nicht religiös oder weltanschaulich definierte Staat, dessen Zweck allein auf die Sicherung größtmöglicher individueller Freiheit bei gleichzeitiger Wahrung der gleichen Rechte Aller, sozialer Gerechtigkeit usw. beschränkt ist, bedarf eines Grundkonsenses, der grundsätzlich von allen anzuerkennen ist. Dieser Basiskonsens muss, wenn er die verschiedensten – auch untereinander unvereinbaren – Vorstellungen über das gute Leben zulassen soll, gerecht sein. Der Vorrang des allgemein akzeptierbaren Rechten vor dem Guten ist Kennzeichen jeder liberalen Rechtstheorie. Die Zuerkennung gleicher Rechte bedarf eines Bezugspunktes, einer Basis, von der aus die unterschiedlichen ethisch-spezifischen Vorstellungen (zu Familie, Sexualität, Medizinethik usw.) neutral, d. h. unparteilich, gewährleistet werden können. Daraus ergibt sich die Frage nach den Leitprinzipien, gewissermaßen der Ideologie des GG. In vieler Hinsicht geben die Grundprinzipien des GG aber keine klare Direktive, wenn etwa in Fragen der Bioethik zwangsläufig zwischen verschiedenen ethischen Positionen entschieden werden muss. Ein konsequenter Neutralitätsliberalismus verlangt dabei immer, dass staatlich-normative Werturteile über bestimmte Konzeptionen des Guten vermieden werden.
2. Das lässt sich nur erreichen durch strikte Einhaltung folgender Regel: "Staatliche Regulierungen sowie Beschränkungen individueller Handlungsfreiheit sind nur auf der Grundlage solcher Argumente zulässig, die keine besonderen religiösen oder philosophischen Lehren voraussetzen. Mit anderen Worten: Freiheitsbeschränkungen, aber auch Fördermaßnahmen dürfen nur auf Grund solcher Rechtsgüter erfolgen, deren Vorrang im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit neutral begründet werden kann."[1] Die Auswirkungen solcher begründungsneutraler Regelungen sind freilich regelmäßig höchst unterschiedlich: Gleichheit differenziert, weil die neutralen Regelungen auf unterschiedliche Umfelder treffen: verschiedene Zahl der Betroffenen, unterschiedliche wirtschaftliche Stärke usw. Das ist auch nicht zu kritisieren, weil ethische Konzepte jenseits des für alle verbindlichen Grundkonsenses nicht unter Bestandsschutz gestellt werden, sondern um Akzeptanz werben müssen. Also: Begründungsneutralität, nicht Wirkungsneutralität.
IV. Gesetzgebungsprobleme
Gesetze, die einer speziellen, z.B. religiösen, Ethik entsprechen (z. B.: absolutes Abtreibungsverbot, weitgehender Embryonenschutz), dürfen nicht einfach mit der aktuellen Existenz einer entsprechenden parlamentarischen Mehrheit begründet werden. Denn: "Das staatliche Handeln und die politische Ordnung müssen prinzipiell gegenüber jedermann rechtfertigungsfähig sein." [2] Darauf kommt es an und nicht auf eine etwa zusätzlich vorhandene religiöse oder sonstige vorgegebene ideologische Motivation. Nur so kann man vermeiden, dass ein Teil der Bevölkerung allen anderen seine spezielle Moral oder r-w Überzeugung aufnötigen kann. Die z. T. offen vertretene Forderung nach einer christlichen Fundierung der deutschen oder europäischen Rechtsordnung steht in absolutem Widerspruch zum hier vertretenen Neutralitätsliberalismus und zum GG (s. im Folgenden). In verbleibenden Konfliktfällen zwischen liberal-neutraler Regelung und Sondermoral hilft letzterer die Gewissensfreiheit.
V. Liberale Rechtstheorie und Grundgesetz
In der Grundidee ist die L. klar und hoffentlich einleuchtend, in der praktischen Verwirklichung aber äußerst anspruchsvoll. Sie stimmt vollkommen mit dem deutschen GG zusammen und ergibt sich genau genommen schon aus diesem selbst (keine Staatsideologie jenseits der Zentralforderungen des nicht religiös fundierten GG, freier geistiger Prozess, Selbstbestimmungsrecht des Individuums; im Detail bestritten). Absolutes Gegenmodell des neutralitätsliberalen Staats ist die Diktatur eines Gottesstaats. Aber schon jede "zivilreligiöse" Fundierung des Staats trägt den Keim der Überzeugungsdiktatur in sich.
>> Gewissensfreiheit; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Recht, Moral und Religion; Neutralität; Religionsfreiheit; Säkularität; Toleranz; Zivilreligion.
Literatur:
- Brugger, W.: Zum Verhältnis von Neutralitätsliberalismus und liberalem Kommunitarismus, in: Brugger, Winfried/Huster Stefan (Hg.): Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998109 ff., insb. 140 ff. (alternativ zu Huster).
- Huster, Stefan: Staatliche Neutralität und schulische Erziehung, Neue Sammlung 2001, 399-424;
- Huster, Stefan: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. In: Brugger, Winfried/Huster Stefan (Hg.): Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, 69-108
- Huster, Stefan: Liberalismus, Neutralität und Fundamentalismus. Über verfassungsrechtliche und sozialphilosophische Grenzen rechtlicher Verbote und Regulierungen in der Gentechnologie und in der modernen Medizin. In: A. Brockmöller u. a. (Hg.), Ethische und strukturelle Herausforderungen des Rechts, (ARSP-Beiheft 66) Stuttgart 1997, 9 ff.
- Huster, Stefan: Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht, ZIF-Mitteilungen 3/1997 = http://www.uni-bielefeld.de/.../1997-3-Huster_Brugger.pdf
- Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates. Eine liberale Interpretation der Verfassung. Tübingen 2002 (darin: Grundlegung 5-124; insb. 93 ff.).
- Rawls, John: Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 1992, 364 ff.
© Gerhard Czermak / ifw (2017)