Fällt der bayerische Kreuzerlass von 2018? Zum Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 27.5.2020

Einführung

Mit diesem im Juni veröffentlichten Beschluss erlangte das VG München viel Aufmerksamkeit, erntete aber wenig Kritik. Das lag auch daran, dass der Pressesprecher des Gerichts betont hatte, es handele sich nur um die prozessrechtliche Frage, ob die einschlägige neue Vorschrift der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern (§ 28 AGO) nur behördeninterne Bedeutung habe oder ob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) über die generelle Gültigkeit der Vorschrift als Rechtsnorm mit Außenwirkung zu entscheiden habe. Letzteres sei der Fall, so dass die Sache an den BayVGH verwiesen wurde. 

Anlass des Rechtsstreits ist die vom bayerischen Kabinett im April 2018 mit der Qualität einer lediglich internen Verwaltungsvorschrift einstimmig beschlossene Verfügung, im Eingangsbereich jeder bayerischen Behörde sei gut sichtbar ein Kreuz anzubringen. Das wurde selbst von Teilen der katholischen Kirche als Missbrauch des religiösen Symbols im Hinblick auf die bevorstehende Landtagswahl angesehen. Die Anordnung wurde vom Großteil der Bevölkerung wohl nicht recht ernstgenommen, wie es im Hinblick auf das zentrale Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität aber der Fall  sein müsste. Immerhin hatte das Bundesverfassungsgericht immer wieder eindringlich das Gebot der Gleichbehandlung der verschiedenen Religionen betont. Die Staatsregierung ruderte im Hinblick auf die Kritik und den fehlenden Nutzen bald zurück und verkündete, eine Kontrolle der Einhaltung der Vorschrift werde nicht erfolgen.

In welchem Umfang die Behörden das Gebot des § 28 AGO beachtet bzw. missachtet haben, ist nicht bekannt. Viele Behörden sollen schnell reagiert haben.[1] Wenn z. T. sogar Gerichte wie das Amtsgericht Wolfratshausen sogleich ein übergroßes Kreuz erstmals angebracht haben, ist das beschämend, gilt doch das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität in ganz besonderer Weise für Gerichte. Diese sind zwar auch Behörden (Gerichtsverwaltung), aber doch nur im Hinblick auf einen dem Hauptzweck, der Rechtsprechung, dienenden Nebenzweck: Gerichte im eigentlichen Sinn sind keine Behörden und Richter keine Beamte.

Der Bund für Geistesfreiheit München, der von Bayern und 25 weitere Kläger, darunter viele Kulturschaffende und Politiker, haben sich das Verdienst erworben, gegen § 28 AGO vor das VG München zu ziehen. Das war heikel, denn § 28 AGO ist nur an Staatsbehörden, nicht aber an die Bürger adressiert und zunächst nur von verwaltungsinterner Bedeutung. Zu Recht hat das VG aber den hauptsächlichen Antrag auf Aufhebung des § 28 AGO als Antrag auf Durchführung eines Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle nach § 47 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gesehen.

Allgemeine rechtliche Situation

Die Frage, ob das VG dabei gehalten war, zu prüfen, ob eine untergesetzliche "Rechtsvorschrift" im Sinn des § 47 I 2 VwGO vorlag, bevor es die Sache an das für Normenkontrollanträge zuständige Gericht, den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH), verwies, mag problematisch sein. Bei Annahme einer Prüfpflicht besteht die Leistung des VG München aber darin, dass es zur Überzeugung kam, bei Anwendung der angefochtenen Bestimmung seien die Antragsteller in ihren Rechten verletzt bzw. würden in absehbarer Zeit in ihren Rechten verletzt werden.

1995 hatten anlässlich des berühmten Kruzifix-Beschlusses des BVerfG mehrere Rechtsgelehrte (insbesondere Josef Isensee) sogar die kühne Ansicht vertreten, trotz der ständigen Einwirkung des Kreuzsymbols im Klassenzimmer falle das Kreuz nicht einmal unter den Schutzbereich der Glaubensfreiheit (Art. 4 GG), und selbst heute noch sind Juristen teilweise der Ansicht, es liege in den Schulfällen wegen der Geringfügigkeit der Beeinträchtigung kein rechtserheblicher Grundrechtseingriff vor. In einer umfangreichen Abhandlung zum Kreuzerlass von Ende 2018 (in der renommierten juristischen Fachzeitschrift ZevKR) wird zunächst festgestellt, der Erlass sei rechtspolitisch verheerend. Er verstoße aber nicht gegen das Neutralitätsgebot und bedeute keinen Eingriff in die Glaubensfreiheit. Selbst bei Annahme eines Eingriffs sei dieser aber gerechtfertigt. Bei Berücksichtigung dieser juristischen Gesamtsituation und der tatsächlichen Präsenz des Kreuzes  in bayerischen Schulen und Ratssälen ist die Überzeugung des VG vom Vorliegen eines nicht gerechtfertigten Grundrechtseingriffs auch 25 Jahre nach dem Kruzifix-Beschluss des BVerfG eine beachtliche Leistung, zumal die Konfrontation mit dem behördlichen Kreuzsymbol stets nur vorübergehender Natur ist.

Der Verweisungsbeschluss des VG München

Das VG vertrat den Standpunkt, die AGO sei formal nur eine Verwaltungsvorschrift, greife aber mit § 28 in das Grundrecht des Art. 4 I GG ein. Entscheidend sei die hier vorliegende unmittelbare rechtliche Außenwirkung. Wer eine Behörde besucht, weil er das muss oder von seinem Bürgerrecht Gebrauch macht, wird gleich eingangs zwangsweise und demonstrativ von Staats wegen mit einem speziellen religiösen Symbol konfrontiert. Die mittelbar-faktische Wirkung dieses Umstands komme einem Grundrechtseingriff gleich. Das wird näher ausgeführt: Die Situation sei ganz anders als bei religiösen Aktivitäten im gesellschaftlichen Bereich, da dort anders als beim Staat unterschiedliche Vorstellungen von Grundrechtsträgern aufeinanderstoßen. Bei jedem Behördengang nehme die Flüchtigkeit der Kreuzwahrnehmung dieser nicht den Charakter eines zwangsweisen Eingriffs. Die Regelung führe dem Bürger zielgerichtet vor Augen, dass der Staat vom Kreuz geprägt sei. Daran ändert nichts, dass Viele am Behördenkreuz keinen Anstoß nehmen. Zu der Aussage des § 28 AGO, das Kreuz sei Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns, meint das VG unter Bezugnahme auf das BVerfG zu Recht, das Kreuz sei in erster Linie das religiöse Symbol des Christentums. Es erwecke den Eindruck einer engen Verbundenheit mit christlichen Vorstellungen (so auch das BVerfG).

Der Grundrechtseingriff ist, so das VG, unmittelbar auf § 28 AGO zurückzuführen. Auch im Fall des Kruzifix-Beschlusses des BVerfG von 1995 habe das BVerfG die maßgebliche Passage der damaligen Rechtsverordnung aufgehoben, weil sie unmittelbar zum Grundrechtseingriff führe. Mit dieser Frage habe sich der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner (nur Landesrecht betreffenden) Entscheidung vom 3. 4. 2020, mit der er eine Popularklage betreffend das Behördenkreuz als unzulässig abgewiesen hatte, gar nicht auseinandergesetzt. Die Annahme eines Eingriffs in ein Grundrecht des GG durch das VG ist, wie gesagt, die wichtigste Erkenntnis des VG. Denn die (vom VG nicht zu erörternde) Konsequenz ist, dass selbst jeder kleine Grundrechtseingriff einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Eine solche ist aber weit und breit nicht zu sehen. Grundrechte Anderer sind nicht betroffen (kein persönlicher Anspruch auf ein Behördenkreuz) und der krasse Verstoß gegen das Neutralitätsgebot ist offensichtlich. Bei Annahme eines Grundrechtseingriffs im Rahmen des Normenkontrollverfahrens wird der BayVGH bei voller bundesrechtlicher Prüfung den § 28 AGO aufheben müssen, wenn er sich nicht unredlich verhalten will.

Ergänzende Überlegungen

Je intensiver und umfassender sich jemand auf offen-kritische Weise mit dem Gesamtphänomen Christentum, seiner Geschichte, Lehren, Widersprüche und gesellschaftlichen Wirkungen in aller Welt befasst, umso weniger wird er mit dem Symbol dieses schillernden Phänomens positiv anfangen können. Wenn er zudem ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und staatsbürgerliches Bewusstsein hat und ihm die Religionsfreiheit und persönliche Glaubensfreiheit etwas bedeutet, kann er das Kreuz (nur) dann nicht akzeptieren, wenn es ihm von Staats wegen aufgedrängt wird. Das staatliche Kreuz verstößt krass gegen das GG, degradiert Andersdenkende und greift sie in ihrem Selbstverständnis an, mag er noch so sehr Anderes behaupten. Wenn ein Kritiker wie beschrieben denkt, so liegt im demonstrativen Behördenkreuz für ihn sogar ein erheblicher Grundrechtseingriff vor. Trotz der nur kurzfristigen Konfrontation mit dem Kreuzsymbol wird die gesamte Behördentätigkeit mit dem Kreuz assoziiert. Der Staat demonstriert dabei, dass es ihm nicht um Religionsfreiheit geht, sondern um eine machtpolitische Aktion, die je nach Opportunität aus Sicht der jeweils Dominierenden begonnen und beendet werden kann. Das ist ein verheerendes Signal, das staatsbürgerliche Erziehung eindrucksvoll konterkariert.

Der Grundrechtseingriff ist für jeden dezidierten Nichtchristen mehr oder weniger stark, besonders wenn er mit Behörden viel zu tun hat oder gar in ihnen arbeitet. All das sollte der BayVGH bedenken, wenn er im Normenkontrollverfahren entscheidet.

Ergänzend wird zur Problematik der Kreuze in Amtsräumen auf https://weltanschauungsrecht.de/Kreuz-in-Amtsraeumen verwiesen.