Hamed Abdel-Samads Plädoyer für einen aufgeklärten Säkularismus

In seinem Buch "Aus Liebe zu Deutschland: Ein Warnruf" (dtv, 2020) bietet Hamed Abdel-Samad (gbs-Beirat) ein starkes, konzises Plädoyer für den Säkularismus als "vermutlich die beste und einzig friedliche Voraussetzung für das Zusammenleben unterschiedlicher religiöser und nichtreligiöser Gruppen" (S. 201-202). Damit untermauert er das Kernanliegen unserer Arbeit im ifw, wie wir es 2017 in unserem Leitbild gefasst haben: Im Grundgesetz ist das Gebot des Säkularismus, der Neutralität des Staates in Fragen der Weltanschauung (religiöser wie nichtreligiöser Art), fest verankert. Es wird jedoch in Politik, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung vielfach missachtet. Hamed Abdel-Samad:

Für einen aufgeklärten Säkularismus

"Ein aufgeklärter Säkularismus ist vermutlich die beste und einzig friedliche Voraussetzung für das Zusammenleben unterschiedlicher religiöser und nichtreligiöser Gruppen. Nur wenn der Staat die gleiche Distanz zu allen Gruppen wahrt und keiner mehr Privilegien einräumt als der anderen, ist die Gleichberechtigung garantiert. Religiöse Gruppen und Institutionen sind wichtig für die eigenen Anhänger und auch für das Gleichgewicht in der Gesellschaft. Doch wenn diese im Namen der Religionsfreiheit mehr Einfluss in Bildung, in den Medien, in der Wirtschaft und im Gesundheitswesen erlangen, wird das Gleichgewicht gestört – auf Kosten der Neutralität des Staates und auf Kosten der Individuen, die oft unter den Machtstrukturen einer religiösen Institution oder Gruppierung leiden.

Die unvollendete Säkularisierung Deutschlands bietet eingewanderten wie einheimischen religiösen Institutionen Schutzräume, in denen die Errungenschaften der Aufklärung untergraben werden können. Viele demokratisch freiheitliche Werte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf Abtreibung, Gewissens und Meinungsfreiheit, Pluralismus und religiöse Toleranz wurden in der Vergangenheit auch gegen den Widerstand der Kirchen durchgesetzt. Diese Werte dürfen heute im Namen der Toleranz und des Multikulturalismus weder relativiert noch infrage gestellt werden. Die Vermischung von Religion und Staat hat in der Vergangenheit Deutschland und bis heute viele islamische Staaten zu Orten des Fanatismus und der Intoleranz gemacht. Für ein gelungenes Zusammenleben verschiedener Religionen auf deutschem Boden ist eine konsequente Säkularisierung unverzichtbar. Die Ermächtigung der Individuen gegen die Machtstrukturen der religiösen Institutionen verstößt nicht gegen das Gebot der Religionsfreiheit, denn Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums sind die Voraussetzung für alle anderen Freiheiten. Nicht zuletzt kann ein unfreier Mensch niemals ein guter Gläubiger sein."

LINK zum Buch

Hamed Abdel-Samad, Aus Liebe zu Deutschland: Ein Warnruf, dtv Verlagsgesellschaft, München, 2020, 224 Seiten, ISBN 978-3423282475, EUR 20,-