BVerfG: Keine Entscheidung zur Teilnahmepflicht eines Schülers am Moscheebesuch

Weil sie ihren Sohn an dem Tag aus dem Unterricht nahmen, an dem ein Schulausflug in eine nahegelegene Moschee geplant war, wurden die Eltern eines Siebtklässlers zu einem Bußgeld von je 25 € verurteilt. Die Rechtsbehelfe der Eltern gegen die Entscheidung scheiterten, zunächst vor dem Oberlandesgericht, nun auch vor dem Bundesverfassungsgericht (Az. 1 BvR 1070/19). Die Gründe lagen allerdings im Prozessrecht. Über die Rechtmäßigkeit einer entsprechenden Teilnahmepflicht für Schüler entschied keines der höheren Gerichte. Eine Darstellung von Marcus Licht.

Vorgeschichte

Die Eltern des Siebtklässlers erfuhren erstmals im Januar 2016 von einem Mitte des Jahres geplanten Schulausflug, zu dem in der 5. und 6. Schulstunde im Rahmen des Erdkundeunterrichts eine nahegelegene Moschee besucht werden sollte. Die Eltern wendeten sich dagegen an die Schule und versuchten, eine Freistellung ihres Sohnes vom Moscheebesuch zu erreichen.

Als Atheisten beriefen sie sich auf ihre negative Religionsfreiheit und ihre Weltanschauungsfreiheit. Moscheen, Synagogen, Kirchen, Klöster oder Tempel seien Sakralbauten und für die Religionsgemeinschaften Orte der Gottesverehrung. Niemand dürfe gezwungen werden, einen bestimmten Sakralbau zu betreten, wenn ihm sein Gewissen oder seine Weltanschauung dies verbieten, so die Argumentation der Eltern. Im Ausflug würden zudem Inhalte der Religion Islam vermittelt, weshalb es sich der Sache nach um Religionsunterricht handele.

Ausschlaggebend sei außerdem das konkrete Ausflugsziel. Bei der zu besuchenden Moschee handele es sich um die Centrum-Moschee Rendsburg, deren Träger die "Islamische Gemeinschaft Milli-Görüş e. V." (IGMG) sei.[1] Die Moscheegemeinde sei zudem Mitglied im "Bündnis der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland" (BIG), das dem IGMG zugerechnet wird.[2]

Die namensgebende, staatenübergreifend aktive "Milli-Görüş"-Bewegung zählt nach den Verfassungsschutzberichten mehrerer Länder und des Bundes zu den Vertretern des sogenannten legalistischen Islamismus. Ziel der "Milli-Görüş"-Bewegung sei es demnach, zwar nicht mit Gewalt, aber langfristig durch legalistische Mittel, die "menschengemachten" Regeln der westlichen Zivilisationen durch eine göttliche "Gerechte Ordnung" zu ersetzen, die sich letztlich auch gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richte. Bei der in Deutschland ansässigen IGMG seien jedoch, in unterschiedlicher regionaler Intensität, ein schwächer werdender Extremismusbezug und eine Verlagerung der Aktivitäten in den religiösen Bereich zu verzeichnen, so die Verfassungsschutzberichte des Bundes von 2015[3] und von 2019[4].

Eine unkritischere Bewertung enthielt der Verfassungsschutzbericht des Landes Schleswig-Holstein aus dem Jahr 2014. Dort stand die IGMG ebenfalls schon mehrere Jahre unter Beobachtung, wobei "maßgebliche Reformbewegungen" festgestellt wurden. Hinsichtlich der Aktivitäten des BIG in Schleswig-Holstein lasse sich eine "Zuordnung zur ‚Milli-Görüş‘-Bewegung und damit in Gänze zum Extremismus nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit belegen", so der Bericht. Verfassungsfeindliche Bestrebungen könnten in der BIG nicht mehr festgestellt werden.[5]

Die Eltern bezweifelten eine solche Bewertung. In der IGMG sahen sie weiterhin eine verfassungsfeindliche Einstellung und lehnten den Besuch auch aus diesem Grund ab. Der Schule legten sie eine Liste islamistischer Terroranschläge vor. Keine andere Religion sei in den letzten Jahren so sehr durch religiös motivierte Gewalt in Erscheinung getreten wie der Islam, teilten die Eltern der Schulleiterin mit.

Das Bildungsministerium Schleswig-Holsteins äußerte sich später in einem SHZ-Interview zu den Vorwürfen.[6] Die Moschee sei schon 2015 nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachtet worden. Die Schule habe davon ausgehen können, dass es keine Bedenken des Verfassungsschutzes gebe. Mit dem Besuch der Moschee im Rahmen des Geographieunterrichts habe die Schule dem grundlegenden pädagogischen Ziel aus § 4 Abs. 6 S. 1 des Schulgesetzes Schleswig-Holsteins entsprochen: "Die Schule soll die Offenheit des jungen Menschen gegenüber kultureller und religiöser Vielfalt, den Willen zur Völkerverständigung und die Friedensfähigkeit fördern".

Auch die Schulleiterin teilte die Argumentation der Eltern seinerzeit nicht. Demensprechend wurde der Vorschlag, das Kind für die Dauer das Ausflugs an einer Parallelklasse teilnehmen zu lassen, abgelehnt. Nachdem ihnen von der Schule mitgeteilt wurde, dass ihr Sohn dem Moscheebesuchs nicht fernbleiben dürfe, behielten die Eltern ihn schließlich für den gesamten Tag des Ausflugs zuhause.

In Reaktion darauf leitete die Schulleitung ein Bußgeldverfahren ein. Wegen Verhinderung der Teilnahme am Unterricht wurde schließlich ein Bußgeld von 150 € pro Elternteil zuzüglich Verwaltungsgebühren verhängt, insgesamt 357 €. Zur Begründung wurde angeführt, es habe sich nicht um Religionsunterricht, sondern um eine rein informative Schulveranstaltung gehandelt. Den Eltern habe es daher nicht zugestanden, ihr Kind vom Besuch fernzuhalten. Des Weiteren hätten diese vorsätzlich gehandelt und keine entlastenden Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht.

Daraufhin ersuchten die Eltern erstmals gerichtlichen Rechtsschutz. Nach der Argumentation ihres anwaltlichen Vertreters habe die Schulleitung ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Die Schulleiterin hätte verkannt, dass die Einleitung eines Bußgeldverfahrens wegen Nichtbefolgung der Teilnahmepflicht eine Ermessensentscheidung darstelle und nach dem Gesetzeszweck vor allem darauf angelegt sei, wiederholte oder dauernde Schulverweigerung zu unterbinden. Nach den Gründen, die die Eltern in diesem Fall vorgebracht hätten, sei die Versäumung des Unterrichts in dieser Hinsicht nicht sanktionswürdig gewesen. Im Übrigen hätten die Eltern in angemessener Weise gehandelt, um eine Grundrechtsverletzung ihres Kindes abzuwenden und seien daher freizusprechen.

Verfahrensgang

Als erste gerichtliche Instanz hatte das Amtsgericht Meldorf über den Fall zu entscheiden. Dieses reduzierte zwar das Bußgeld, dennoch wurden die Eltern wegen Verhinderung der Teilnahme ihres Sohnes am Unterricht zu einer Geldbuße in Höhe von jeweils 25 Euro verurteilt. Dabei setzte sich das Amtsgericht in der Urteilsbegründung ausführlich mit der verfassungsrechtlichen Problematik auseinander. Das Bußgeld sei sowohl wegen des verpassten Moscheebesuchs als auch wegen der vorausgehenden verpassten Unterrichtsstunden gerechtfertigt. Der Ausflug sei Teil der regulären Unterrichtsveranstaltung im Fach Erdkunde, es habe sich dabei nicht um Religionsunterricht gehandelt. Nach den konkreten Umständen habe das religiöse Erziehungsrecht der Eltern daher keinen Vorrang gegenüber dem staatlichen Bestimmungsrecht über das Schulwesen gehabt.

Gegen das erstinstanzliche Urteil stellten die Eltern sodann Anträge auf Zulassung der Rechtsbeschwerde beim Oberlandesgericht Schleswig-Holstein, welches die Anträge jedoch verwarf. Für die Zulassung einer Rechtsbeschwerde gegen Bußgelder von unter 100 € sei erforderlich, dass die Nachprüfung des Urteils zur Fortbildung des Rechts geboten erscheine. Die aufgeworfenen Rechtsfragen müssten entscheidungserheblich, klärungsbedürftig und abstrakt von praktischer Bedeutung sein.

Insbesondere wegen mangelnder Entscheidungserheblichkeit seien die Anträge zu verwerfen. Dass dem Urteil eine weltanschauungsrechtliche Problematik zu Grunde lag sei nicht ausreichend. Denn das (moderate) Bußgeld lasse sich allein darauf stützen, dass die Eltern nicht nur die Teilnahme ihres Sohnes am Moscheebesuch in der 5. und 6. Schulstunde verhindert hätten, sondern den gesamten Schulbesuch einschließlich der davorliegenden vier Schulstunden. Die verfassungsrechtlichen Ausführungen des Amtsgerichts seien somit nur hypothetischer Natur, so die Begründung des OLG.

Verfassungsbeschwerde

In Reaktion auf die verworfene Rechtsbeschwerde legten die Eltern Verfassungsbeschwerde ein. Sie rügten dabei nicht nur eine Verletzung ihrer Religionsfreiheit und ihres Elternrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), sondern auch die "Willkür" der angegriffenen Entscheidungen und die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).

Das Bußgeld ließe sich entgegen der Argumentation des OLG nicht eigenständig auf die ersten Schulstunden stützen, weil das Kind nur so dem Moscheebesuch entzogen werden konnte, so die Beschwerdeführer. Ein eigenständiges, frühzeitiges Verlassen der Schule entgegen des erwarteten Widerstands der Lehrkräfte und des Gruppenzwangs sei dem Kind nicht zumutbar gewesen. Das OLG hätte sich daher mit den verfassungsrechtlichen Aspekten des Moscheeausflugs befassen müssen. Diese habe das Amtsgericht unzutreffend beurteilt und dadurch ihre Grundrechte verletzt.

Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Zulassung der Verfassungsbeschwerde mit nur kurzer Begründung ab: Es fehle an der Rechtswegerschöpfung durch die Beschwerdeführer. Demzufolge ist vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erforderlich, dass alle in Betracht kommenden Rechtsbehelfe ergriffen worden sind und somit keine andere Möglichkeit besteht, der behaupteten Grundrechtsverletzung unter Inanspruchnahme der Fachgerichte abzuhelfen.

Zwar konnten die Eltern gegen das einmal verhängte Bußgeld nur bis zum Oberlandesgericht vorgehen. Nach der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts wäre es aber im Vorfeld des Moscheebesuchs möglich gewesen, frühzeitig gegenüber der Schulleitung auf eine verbindliche Klärung der Beteiligungspflicht am Moscheebesuch zu drängen, um gegebenenfalls schon im Vorfeld verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen zu können und dadurch eine Freistellung des Kindes zu erlangen. Da die Eltern schon Anfang des Jahres über die Monate später stattfindende Veranstaltung Kenntnis erlangt hätten, sei ihnen die Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes weder unmöglich noch unzumutbar gewesen.

Ob eine Freistellung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten hätte erteilt werden müssen, oder ob sich zumindest das Oberlandesgericht mit dieser Frage hätte befassen müssen, behandelt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts dagegen nicht.

 


[3] Verfassungsschutzbericht des Bundes 2015, S. 205.

[4] Verfassungsschutzbericht des Bundes 2019, S. 226

[5] Verfassungsschutzbericht Schleswig-Holstein 2014 S.140 f.