Eckpunkte einer Reform des Schwangerschaftsabbruchs
Ein Aufsatz von ifw-Beirat Prof. Dr. Hartmut Kreß.
Der Beitrag rückt ins Licht, dass und in welcher Hinsicht die derzeitigen Rechtsnormen zum Schwangerschaftsabbruch in der Bundesrepublik Deutschland substanziell reformiert werden sollten. Er gibt das Referat wieder, das der Verfasser am 13. November 2024 zu diesem Thema in Berlin auf einer Veranstaltung des Humanistischen Verbands Deutschlands und der Humanistischen Akademie Deutschland gehalten hat.
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1. Zum aktuellen Diskussionsstand
Seit einigen Jahren wird in der Bundesrepublik Deutschland rechtspolitisch über den Schwangerschaftsabbruch diskutiert. Im Jahr 2022 hat der Humanistische Verband Deutschlands ein weitreichendes Reformpapier veröffentlicht.[1] Seit April 2024 liegt ein Papier mit Reformvorschlägen vor, das eine Kommission der Bundesregierung vorgelegt hat.[2] Die Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, die das Papier veranlasst hatte, hat sich vor einer Woche, am 6. November 2024, allerdings aufgelöst. Davon abgesehen ist vor einem Monat, am 17. Oktober 2024, von drei Professorinnen ein interessanter Gesetzentwurf vorgelegt worden, den 26 Organisationen unterstützen – von der Gewerkschaft ver.di bis zur Giordano-Bruno-Stiftung.[3] Die gesellschaftliche Debatte zu dem Thema ist polarisiert. So lehnt die römisch-katholische Kirche jede Liberalisierung ab. Ihre höchste Lehrautorität Papst Franziskus bezeichnet Schwangerschaftsabbrüche permanent als Auftragsmord. Ganz gegensätzlich lautet die Einschätzung, die das dem säkularen Humanismus nahestehende Institut für Weltanschauungsrecht in die Debatte eingebracht hat: Schwangerschaftsabbrüche sind uneingeschränkt für zulässig zu erklären, und zwar bis zum neunten Monat.[4]
Meinerseits werde ich im Folgenden mehrere Punkte nennen, die mir für eine Reform zentral erscheinen.[5] Vorab ist das Thema des Schwangerschaftsabbruchs jedoch normativ einzuordnen.
2. Der normative Konflikt: Lebensschutz des Fetus versus Selbstbestimmungsrecht der Frau
Beim Schwangerschaftsabbruch liegt ein normativer Gegensatz vor: der Schutz von vorgeburtlichem Leben einerseits und die Rechte der Frau andererseits. Die beiden Pole seien kurz erläutert.
Im sog. christlichen Abendland stand der Lebensschutz des Fetus fast zwei Jahrtausende lang einseitig im Vordergrund. Abtreibungen wurden abgelehnt und als schwere Sünde bezeichnet. Das jahrhundertelange Nein galt auf jeden Fall für Abbrüche nach dem dritten Monat. Bis zum 19. Jahrhundert vertraten die katholische Kirche und – ihr folgend – die weltliche Obrigkeit den Standpunkt, dass Abtreibungen, die nach dem dritten Schwangerschaftsmonat erfolgen, drakonisch zu bestrafen seien. Denn vom 90. Tag an sei die Leibesfrucht ein schützenswerter Mensch, weil ihr von diesem Zeitpunkt ab eine geistige Seele innewohne, die sie zum Menschen mache.
Von dieser Spätbeseelungslehre hat sich die katholische Kirche im 19. Jahrhundert getrennt. Seit 1869 vertritt sie die Auffassung, der Embryo erhalte schon am ersten Tag von Gott eine Seele, sodass sie seitdem jeden Abbruch, auch frühe Abbrüche in den ersten drei Monaten, einen "Mord" nennt.
Auf Aspekte des vorgeburtlichen Lebensschutzes werde ich wiederholt zurückkommen.
Jetzt blicke ich zunächst auf den anderen normativen Pol beim Schwangerschaftsabbruch, auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau.
Die Position, Schwangerschaftsabbrüche in diesem Licht zu sehen, hat sich erst seit ca. 100 Jahren langsam durchgesetzt. Geistesgeschichtlich war es ein Durchbruch, dass der Jurist und SPD-Politiker Gustav Radbruch in einem Gutachten für die SPD im Jahr 1921 schrieb, Abtreibungen seien "eine Gewissensfrage, die nicht wohl von jemand anderem als der Mutter selbst entschieden werden kann. […] Selbst dem Ehemanne kann in dieser intimsten Frage des körperlichen und seelischen Lebens der Frau ein Mitentscheidungsrecht nicht eingeräumt werden".[6]
Mit seinem Satz war Radbruch ein früher Vertreter der Einsicht, dass das Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau den Ausschlag zu geben hat. Noch heute wird diese Sicht bestritten. Sie musste und muss gegen paternalistische Standpunkte durchgesetzt werden. Für eine gesetzliche Reform des Schwangerschaftsabbruchs, die inzwischen überfällig ist, wird es der springende Punkt sein, das Selbstbestimmungsrecht der Frau hinreichend zur Geltung zu bringen. Hiervon ausgehend sind eine ganze Reihe von Bestimmungen zu revidieren, die in Deutschland gegenwärtig gelten.
3. Herausnahme des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafrecht
Zurzeit ist ein Schwangerschaftsabbruch per se strafbar (§§ 218–219 StGB). Nur dann darf von einer Strafe abgesehen werden, wenn eine Frau ihre Schwangerschaft in den ersten drei Monaten abbricht und wenn sie eine Pflichtberatung absolviert hat, die ihr den Lebensschutz des Ungeborenen nahezubringen hat. Insofern gilt bei uns zurzeit ein strafrechtliches Verbot mit einer Ausnahmeklausel. Unter definierten Voraussetzungen verzichtet der Staat darauf, Anklage zu erheben und die Frau oder weitere Beteiligte zu bestrafen. Weil die Frauen sich in Deutschland an die staatlich vorgegebenen Auflagen halten, finden durchgängig keine Strafverfahren statt. Hiervon bleibt aber unberührt, dass der Staat Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich als einen Straftatbestand fasst und er sie auch dann, wenn er von der Strafe absieht, als "rechtswidrig" einstuft, also kriminalisiert. Dies ist nicht länger haltbar – aus Gründen, die ich jetzt ausschnitthaft anspreche.
a) Die aktuelle Strafbarkeitsregelung geht auf das Bundesverfassungsgericht zurück, dem zufolge der Staat das ungeborene Leben so nachdrücklich wie irgend möglich zu schützen hat. Diese Position ist unplausibel. Denn die naturwissenschaftliche Forschung hat aufgezeigt, dass das vorgeburtliche Leben sich erst langsam, nach und nach zu einem Menschen entwickelt. In den ersten Tagen seiner Existenz ist der Embryo noch gar kein Individuum, da er sich noch zu teilen vermag und eineiige Zwillinge entstehen können. Die Organe eines späteren Menschen bilden sich erst im Lauf der Schwangerschaft aus, und die Strukturen des Gehirns, die für das Menschsein charakteristisch sind, entstehen schrittweise in einem monatelangen Prozess. Erst ganz spät, im dritten Drittel der Schwangerschaft, kommen die neuronalen Verschaltungen zustande, die dazu führen, dass Schmerzen bewusst wahrgenommen werden können.
Legt man den heutigen naturwissenschaftlichen Wissensstand zugrunde, kann man daher nicht behaupten, das vorgeburtliche Leben sei von Anfang an bereits ein Mensch im vollen Sinn des Wortes, der unter dem Schutz der Menschenwürde zu stehen hätte. Nun ist das Strafrecht das – wie es immer heißt – "schärfste Schwert" des Staats, von dem er nur als letztes, äußerstes Mittel Gebrauch machen darf (ultima ratio-Prinzip). Weil der Fetus noch kein vollgültiger Mensch ist, ist es verfehlt, wenn der Staat ausgerechnet per Strafrecht durchzusetzen versucht, dass schwangere Frauen vorgeburtliches Leben tatsächlich austragen. Dies gilt auf jeden Fall für das erste und für das zweite Drittel der Schwangerschaft. Denn in den ersten 24 Wochen ist der Fetus noch nicht eigenständig lebensfähig und er ist noch nicht in der Lage, bewusst Schmerzen zu empfinden. Daher sollte ganz im Sinn der Äußerung Gustav Radbruchs aus dem Jahr 1921 der Staat es der Frau selbst überlassen, ob sie den Fetus austrägt oder ob sie die Schwangerschaft abbricht. Der Staat hat einen rechtswertungsfreien Raum zu akzeptieren – zugunsten des eigenen Entscheidungsrechts der Frau.[7]
b) Es sprechen noch weitere Argumente dafür, die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen aus dem Strafrecht herauszunehmen. Hierzu ist an eine Besonderheit der deutschen Strafrechtsdogmatik zu erinnern, die sich bei uns auch im Alltagsbewusstsein niederschlägt. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet Strafe als eine "sozialethische Unwerterklärung". Insofern fasst man in Deutschland Strafe und schon die Androhung von Strafe zugleich als eine moralische Verurteilung auf. Nun waren Schwangerschaftsabbrüche im sog. christlichen Abendland jahrhundertelang moralisch abgelehnt und als Sünde verworfen worden. Es wäre fatal, dieses frühere religiös-moralische Verdikt künstlich wachzuhalten, indem der Staat den Abbruch weiterhin als strafbar und damit gleichzeitig als moralisch verwerflich einstuft.
c) Ein Weiteres kommt hinzu: Solange der Staat den Schwangerschaftsabbruch für prinzipiell strafbar erklärt, hält er Ärztinnen und Ärzte davon ab, Abbrüche durchzuführen. Frauen haben jedoch ein Anrecht darauf, dass ihre Schwangerschaft beendet wird, falls sie es wünschen. Um die ärztliche Versorgung zu verbessern, ist es erforderlich, den Abbruch vom Stigma der Strafbarkeit zu befreien. Soweit zu Abbrüchen rechtlicher Klärungsbedarf besteht, kann dies zivilrechtlich erfolgen, etwa im Schwangerschaftskonfliktgesetz oder im Bürgerlichen Gesetzbuch.
Im Ergebnis heißt dies, dass Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden sollten. Dieses Anliegen hat auch die Regierungskommission vertreten, als sie im April 2024 ihren Abschlussbericht vorlegte. Aber es greift zu kurz, sich hierauf zu beschränken. Reformbedürftig ist noch anderes.
4. Ausweitung der Frist für Schwangerschaftsabbrüche
Es ist zu durchdenken, bis zu welchem Zeitpunkt eine Schwangerschaft rechtmäßig abgebrochen werden darf. In der Bundesrepublik Deutschland gilt zurzeit ein halbherziger Kompromiss: Abbrüche sind per se strafbar. Sofern sie in den ersten 12 Wochen realisiert werden und die Frau bestimmte Bedingungen beachtet, werden sie zwar nicht bestraft, bleiben aber rechtswidrig.
Diese Dreimonatsfrist kann nicht überzeugen – und zwar deshalb, weil es für sie keinen plausiblen Sachgrund gibt. Die drei Monate bzw. 90 Tage waren eine Idee der älteren Geistesgeschichte gewesen. Sie entstammen antiken Naturspekulationen und dem christlichen Mittelalter. Damals meinte man, das vorgeburtliche Leben erhalte nach 90 Tagen bzw. nach drei Monaten eine Seele, eine sog. Geistseele, durch die es zum Menschen werde. Katholisch wurde behauptet, es sei Gott, der dem Fetus diese Seele einstifte.
In der Gegenwart können und dürfen solche Spekulationen für den säkularen Staat keine Rolle mehr spielen. Er hat stattdessen die heutigen naturwissenschaftlichen Einsichten über das Werden des Menschen zu berücksichtigen. So betrachtet kommt das vorgeburtliche Leben erst sehr spät einem geborenen Menschen nahe, nämlich im dritten Drittel der Schwangerschaft. Ein wichtiger Einschnitt ist erreicht, sobald ein Fetus außerhalb des Mutterleibs überleben kann, was mit technischer Hilfe heute ab ca. der 22. Schwangerschaftswoche möglich ist. Mir selbst scheint vor allem noch ein zweiter Wendepunkt wichtig zu sein, der in der angelsächsischen Medizinethik und in den USA stark beachtet wird, wohingegen er in den deutschen Debatten bislang zu wenig Aufmerksamkeit findet. Es geht um den Zeitpunkt, von dem ab der Fetus bewusst Schmerzen zu empfinden vermag. Die Reaktion des Ungeborenen auf äußere Impulse und seine Wahrnehmung von Schmerzen stellen eine "werdende Funktion" dar, die sich während der Schwangerschaft viele Monate lang ausbildet. Für die bewusste Wahrnehmung von Schmerzen müssen im Gehirn der Thalamus und der Neokortex vernetzt sein, was nach heutigem Wissensstand in der 28./29. Woche der Fall ist.
Vor diesem Hintergrund ist zu sagen: Ein Schwangerschaftsabbruch sollte auf jeden Fall straffrei und rechtmäßig sein, bevor der Fetus diese vorgeburtlichen Wendepunkte erreicht hat. Daher ist die Dreimonatsfrist aufzuheben. Stattdessen sollten Abbrüche bis zur 22. oder 24. Woche zulässig werden. Ein derartiger Reformschritt – Ausweitung der Befristung für den zulässigen Schwangerschaftsabbruch bis zur 22. oder 24. Woche – wäre im Übrigen keine Revolution. Hiermit würde die Bundesrepublik Deutschland nur zu den Regelungen aufschließen, die in anderen Staaten bereits seit Langem gelten, namentlich in den Niederlanden oder in Großbritannien. Aktuell verstärken sich überdies in vielen weiteren Ländern die Bemühungen, die Frist für rechtmäßig durchführbare Schwangerschaftsabbrüche deutlich auszuweiten. So ist z.B. im nördlichen Nachbarland Dänemark im Jahr 2024 eine 18 Wochen-Frist beschlossen worden; im westlichen Nachbarstaat Belgien wird dies politisch zurzeit geplant.
Allerdings bricht an dieser Stelle noch ein weiteres Thema auf, das in den derzeitigen deutschen Debatten zu sehr beiseitegeschoben wird. Wie sind Schwangerschaftsabbrüche zu beurteilen, die erst spät im letzten Drittel der Schwangerschaft, nach der 24. Woche, stattfinden, weil das Kind geschädigt ist?
5. Klärungsbedarf zu späten Abbrüchen nach pränataler Diagnostik
Konkret geht es im Folgenden um Abbrüche in den letzten Schwangerschaftswochen, weil an einem Fetus eine Behinderung, eine Krankheit oder eine genetische Schädigung festgestellt worden ist. Entsprechende Feststellungen erfolgen mithilfe der heutigen pränatalen Diagnostik. Im europäischen Ausland sind Abbrüche wegen Schäden beim Kind in der Regel bis zur 22. oder 24. Woche zulässig. Man bezeichnet sie als Abbrüche aufgrund genetischer, eugenischer, kindlicher oder fetopathischer Indikation. Genauso verhielt es sich in Deutschland bis zum Jahr 1995. Im Jahr 1995 wollte der Deutsche Bundestag aber nicht mehr im Gesetzestext erwähnt haben, dass eine Schwangerschaft wegen kindlicher Schäden beendet werden darf. Man wollte derartige Abbrüche begrifflich verschweigen und sie trotzdem zulassen. Dies geschah mit einem verschleiernden Winkelzug. Der Deutsche Bundestag subsumierte Spätabbrüche, die wegen Schädigung des Fetus, des ungeborenen Kindes stattfinden, unter die medizinische Indikation. Seit 1995 sind solche Abbrüche gemäß medizinischer Indikation bis zum neunten Schwangerschaftsmonat zulässig, obwohl unter der medizinischen Indikation eigentlich etwas anderes zu verstehen ist: Sie bezieht sich darauf, dass das Leben und die Gesundheit der Frau bedroht sind.
Nun kann ich zu dem Thema hier keine Einzelheiten entfalten. Aber im Grundsatz möchte ich sagen, dass es an der Zeit ist, begrifflich und sachlich wieder ehrlich zu werden. Man sollte späte Abbrüche, die wegen Behinderung und Schäden des noch nicht geborenen Kindes erfolgen, nicht verschleiern und sie nicht unter die klassische medizinische Indikation fassen, die etwas anderes meint, sondern sie beim Namen nennen. Dabei ist mit zu bedenken, dass solche Abbrüche zwiespältig sind. Denn die Feten sind sehr weit entwickelt und können sogar schon lebensfähig sein. Bei entsprechenden Abbrüchen werden sie vom Arzt im Mutterleib durch Kaliumchlorid aktiv getötet.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin nicht der Meinung, dass solche späten Abbrüche verboten werden sollten. Sie sollten rechtmäßig bleiben – schon allein deshalb, weil auch hier das Selbstbestimmungs- und das Entscheidungsrecht der Frau der springende Punkt ist. Aber für solche späten Abbrüche sollte wieder eine eigene Indikation geschaffen und neben der herkömmlichen medizinischen eine medizinisch-soziale bzw. eine fetopathische Indikation vorgesehen werden. Korrekt formuliert geht es um einen Schwangerschaftsabbruch, weil "die körperliche oder geistige Gesundheit des Kindes geschädigt ist".[8] Näherhin sollte dann im Vordergrund stehen, dass die betroffenen Frauen nicht nur medizinisch, sondern auch psychosozial beraten werden. In den Beratungsgesprächen könnte u.a. angesprochen werden, dass in manchen Fällen theoretisch eine Alternative vorstellbar ist, nämlich die palliative Geburt. Auch in Zukunft sollte es der Frau möglich bleiben, notfalls einen späten Abbruch durchführen zu lassen. Unter Umständen könnte sie den Fetus aber auch austragen, um das Kind nach seiner Geburt im Sinn passiver Sterbehilfe palliativ begleitet sterben zu lassen. Über eine solche Alternative sollte sie in der Beratung informiert werden, um dann selbst eigenverantwortlich eine Entscheidung zu treffen.
Diesen schwierigen Punkt habe ich jetzt nur andeuten können. Ebenso kann zum folgenden Aspekt hier nur ein kurzer Problemhinweis gegeben werden. Sachlich liegt er ganz anders:
6. Aufhebung der Sonderrolle kirchlich getragener Kliniken
Es ist gut bekannt, dass die Versorgungslage für Schwangerschaftsabbrüche in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt unzureichend ist. Nun sind mehrere Hebel vorhanden, um Abhilfe zu schaffen, damit Frauen, die dies möchten, eine Schwangerschaft ohne weitere Hürden tatsächlich abbrechen können. Ich erwähne hierzu jetzt nur einen ganz bestimmten Sachverhalt, der im Inland offenbar immer noch ein Tabu darstellt. Die Politik klammert ihn aus. In Deutschland werden sehr viele Kliniken mit gynäkologischen Abteilungen von den Kirchen getragen. Insbesondere die katholische Kirche lehnt Schwangerschaftsabbrüche kategorisch ab; es handele sich um "Mord". Daher können sich Frauen, die an einen Abbruch denken, an solche Kliniken nicht wenden. Für ihr Nein zu Schwangerschaftsabbrüchen berufen sich die Kliniken auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirche.[9]
Dieser Standpunkt kirchlich getragener Kliniken ist nicht haltbar. Die betreffenden kirchlichen Kliniken sind offiziell ein Bestandteil der öffentlichen Gesundheitsversorgung und werden refinanziert. Ethisch und grundrechtlich ist zu unterstreichen, dass das individuelle Selbstbestimmungsrecht der Frauen, die einen Abbruch beabsichtigen, vor dem institutionellen religiösen Selbstverständnis der Kirchen den Vorrang besitzt. Daher hat der Staat gesetzlich ausdrücklich dafür zu sorgen, dass in kirchlichen einschließlich katholischer Kliniken, die der öffentlichen Versorgung dienen, Abbrüche durchgeführt werden, wenn eine Frau dies wünscht. Bedauerlicherweise wird dieses Anliegen auch in den aktuellen Reformpapieren gar nicht oder lediglich verdeckt und undeutlich zur Sprache gebracht.[10]
7. Zum Schluss: Revisionsbedarf auch beim Bundesverfassungsgericht
Der Reformbedarf zum Recht des Schwangerschaftsabbruchs ist erheblich; ich habe soeben nur einige ausgewählte Punkte ansprechen können. Das Parlament sollte sich dem Thema stellen, selbst wenn es in der Gesellschaft Kontroversen auslöst. Die Austragung von Konflikten gehört zu den Markenzeichen einer Demokratie. Außerdem sollten sich die Reformkräfte im Parlament nicht davon beeindrucken lassen, dass die derzeitige Gesetzlage auf Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts beruht. Die aktuellen Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch sind Strafnormen, die den Lebensschutz von Feten überbetonen und die dem Selbstbestimmungsrecht von Frauen nicht gerecht werden. Es liegt am Parlament, dies zu korrigieren – wenn nicht in dieser, dann in der nächsten Legislaturperiode. Es mag sein, dass zu einem Reformgesetz dann eine Verfassungsbeschwerde eingelegt wird, sodass in Karlsruhe hierüber erneut verhandelt werden würde. Es ist aber auch dem Bundesverfassungsgericht zuzumuten und von ihm zu erwarten, dass es sich von seinen älteren Urteilen verabschiedet und das Selbstbestimmungsrecht von Frauen umfassend respektiert.[11]
Postscriptum aus aktuellem Anlass (verfasst am 19.11.2024)
Der Vortrag, der voranstehend wiedergegeben wurde, ist am 13.11.2024 gehalten worden. Am nachfolgenden Tag publizierte eine beträchtliche Gruppe von Abgeordneten (Carmen Wegge/SPD, Ulle Schauws/Bündnis 90/Die Grünen, u.a.) einen Gesetzentwurf, der darauf abzielt, die derzeitige strafrechtsbasierte Regelung des Schwangerschaftsabbruchs sehr zügig doch noch in der derzeitigen verkürzten Legislaturperiode zu revidieren.[12]
Unter dem Aspekt der demokratischen Kultur ist es überaus begrüßenswert, wenn das Parlament von sich aus derartige Initiativen ergreift – dies erst recht, sofern die Regierung ihrerseits untätig bleibt. Konkret stellt der Gesetzentwurf freilich einen Kompromiss dar, der wesentliche Reformanliegen ausklammert. Z.B. sieht er keine Ausweitung der Dreimonatsfrist vor. Überdies hält er – immerhin zumindest mit einer modifizierten, modernisierten Begründung – am jetzigen Modell fest, dass eine Frau, die einen Abbruch plant, eine Pflichtberatung hinter sich bringen muss.
Dennoch wäre es ein bemerkenswerter Fortschritt, wenn der Deutsche Bundestag dem Gesetzentwurf in den kommenden Wochen zustimmen würde. Im Kern möchte er Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafrecht herausnehmen und sie entkriminalisieren, sodass sie – wie oben in Abschnitt 3 dargelegt wurde – auch nicht mehr unter das Verdikt eines "sozialethischen Unwerturteils" fallen würden. Auf dieser Basis ließe sich zugleich die Versorgungslage für Frauen, die an einen Abbruch denken, in der Bundesrepublik Deutschland nennenswert verbessern.[13] Käme die Reform zustande, wäre dies ein gewichtiger Durchbruch zugunsten der Rechte von Frauen, an den weitere Reformschritte später gut anknüpfen könnten.
[1] HVD, Humanistische Positionen und Argumente gegen die jetzigen Strafbestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch, 10.12.2022, online https://humanismus.de/wp-content/uploads/2023/01/Positionen-des-HVD-zum-... (Abruf 19.11.2024. Dieses Datum gilt auch für die weiteren Internetverweise). Zur Veranstaltung des HVD vom 13.11.2024, auf der das hier wiedergegebene Referat gehalten wurde: https://humanismus.de/aktuelles/pressemitteilung/2024/07/save-the-date-f.... Der Vortrag ist für die schriftliche Fassung geringfügig erweitert und um Belegangaben ergänzt worden.
[2] Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, online https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Download....
[3] Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, online https://www.frauenrat.de/wp-content/uploads/2024/10/Gesetzentwurf-Schwan....
[4] Vgl. ifw, Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs: ifw-Stellungnahme bei der Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin eingereicht, 10.10.2023, online https://weltanschauungsrecht.de/meldung/neuregelung-des-schwangerschafts..., sowie ifw, Die vollständige Legalisierung des selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruchs als konsequente rechtliche Lösung, 25.8.2024, online https://weltanschauungsrecht.de/meldung/vollstaendige-legalisierung-des-....
[5] Vertiefende Begründungen sowie Belege zu den folgenden Darlegungen finden sich in: Hartmut Kreß, Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz – Selbstbestimmungsrechte – Rechtspolitik, 3. erw. u. überarb. Aufl., Stuttgart 2024, S. 214–257, sowie in: Hartmut Kreß, Reform der Rechtsnormen zum Schwangerschaftsabbruch: Eckpunkte und Anschlussfragen, in: Medizinrecht 41 (2023), 699–704, open access: https://link.springer.com/article/10.1007/s00350-023-6552-3.
[6] Gustav Radbruch, in: Alfred Grotjahn, Gustav Radbruch, Die Abtreibung der Leibesfrucht. Zwei Gutachten, Berlin 1921, S. 28 f.
[7] Prägnant hierzu bereits der Strafrechtslehrer Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. überarb. u. erw. Aufl., München 1997, S. 232 f.
[8] Dieser sachlich korrekte Wortlaut, den der Deutsche Bundestag in den Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch gezielt vermieden hat, ist zurzeit immerhin zumindest im Schwangerschaftskonfliktgesetz anzutreffen, dort § 2a Abs. 1 S. 1.
[9] Hierzu weitere Einzelheiten: Hartmut Kreß, Reform der Rechtsnormen zum Schwangerschaftsabbruch: Eckpunkte und Anschlussfragen, in: Medizinrecht 41 (2023), 699–704, hier 703, open access: https://link.springer.com/article/10.1007/s00350-023-6552-3. – Rechtsvergleichend von Interesse: Nachdem der Supreme Court die liberale Handhabung von Abbrüchen in den USA 2022 unterbunden hat, verschärft sich dort für Frauen, die einen Abbruch durchführen möchten, die Lage nochmals dadurch, dass katholische Kliniken Abbrüche verweigern. Die Problematik eskaliert zusätzlich, weil katholische Kliniken in den USA "aggressiv" zu expandieren versuchen, indem sie säkulare Kliniken übernehmen; KFF Health News, CA Catholic Hospital Under Fire After Abortion Refusal, 8.10.2024, online https://www.medscape.com/s/viewarticle/ca-catholic-hospital-under-fire-a....
[10] Der von drei Juristinnen konzipierte, von 26 Verbänden unterstützte Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vom 17.10.2024 erwähnt den Punkt wenigstens kurz auf S. 34 in seinem Erläuterungsteil, online https://www.frauenrat.de/wp-content/uploads/2024/10/Gesetzentwurf-Schwan....
[11] Ausführlicher zur Problematik der zurückliegenden Urteile des BVerfG Hartmut Kreß, Reform der Rechtsnormen zum Schwangerschaftsabbruch: Eckpunkte und Anschlussfragen, in: Medizinrecht 41 (2023), 699–704, hier 699 ff., open access: https://link.springer.com/article/10.1007/s00350-023-6552-3. Von sich aus ist das BVerfG an einer Revision seiner bisherigen Urteile zurzeit offenkundig nicht interessiert. Dies trat zutage, als es im Jahr 2023 die damals zu § 219a StGB anhängige Verfassungsbeschwerde unentschieden ließ und dies u.a. damit begründete, dem Themenkomplex komme keine "grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung" zu; BVerfG, Beschl. v. 10.5.2023, 2 BvR 390/21, Rdnr. 18.
[12] Kurzinformation hierzu: Neuer Gesetzesentwurf für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, 14.11.2024, online https://weltanschauungsrecht.de/meldung/neuer-gesetzesentwurf-fuer-legal.... Wortlaut der Gesetzentwurfs in der zurzeit verfügbaren Version: online https://www.lto.de/fileadmin/uploads/pics/GE-Neuregelung_Schwangerschaft....
[13] Hierzu ein weiterer eigener Gesetzentwurf: Versorgungslage von ungewollt Schwangeren verbessern, Deutscher Bundestag, Drucksache 20/13776, 14.11.2024, online https://dserver.bundestag.de/btd/20/137/2013776.pdf.