EGMR: fehlender Zugang zum Ethikunterricht in Polen menschenrechtswidrig

Mit Urteil vom 15. Juni 2010 (Aktenzeichen 7710/02) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache Grzelak gegen die Republik Polen entschieden, dass der fehlende faktische Zugang zum Ethikunterricht an polnischen Schulen und das Fehlen einer entsprechenden Benotung im Zeugnis einen diskriminierenden Charakter hat. Die besagte Praxis führt zu einer ungerechtfertigten Stigmatisierung der betroffenen Schüler und verletzt deren Recht, die eigene Religion oder Weltanschauung nach Artikel 9 EMRK nicht zu offenbaren.

Begründung

Nationales Recht, das eine Benotung für "Religion/Ethik" in Schulzeugnissen vorsieht, kann als solches nicht als Verstoß gegen Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 9 angesehen werden, solange die Benotung neutrale Informationen darüber enthält, dass ein Schüler einen der an einer Schule angebotenen Wahlkurse besucht hat. Eine solche Regelung muss aber auch das Recht der Schülerinnen und Schüler respektieren, nicht einmal indirekt gezwungen zu sein, ihre religiösen Überzeugungen oder deren Fehlen offenzulegen.

Bei der Überprüfung der Frage einer Note für "Religion/Ethik" auf Schulzeugnissen war das Verfassungsgericht von der Annahme ausgegangen, dass jeder interessierte Schüler in einem der beiden betroffenen Fächer einer Klasse besuchen könne, und stellte fest, dass ein externer Beobachter daher nicht in der Lage sein würde, festzustellen, ob ein Schüler einer Klasse das Fach Religion oder das Fach Ethik besucht habe. Diese Annahme greift aber nicht in der Situation des dritten Klägers, die in der Praxis auftreten kann. Das Fehlen einer Note für "Religion/Ethik" würde von jeder vernünftigen Person als Hinweis darauf verstanden werden, dass der dritte Kläger keinen allgemein zugänglichen Religionsunterricht besucht hat und daher wahrscheinlich als Person ohne religiösen Glauben angesehen wird. Diese Erkenntnis in einem Land wie Polen, in dem die große Mehrheit der Bevölkerung einer bestimmten Religion angehört, sehr relevant. Darüber hinaus waren ab September 2007 nach der neuen Regel Noten für den Religionsunterricht oder den Ethikunterricht in die Berechnung der "Durchschnittsnote" einzubeziehen, die ein Schüler in einem bestimmten Schuljahr und am Ende einer bestimmten Schulstufe erhält. Die Regel kann sich nachteilig auf die Situation von Schülern auswirken, die trotz ihres Teilnahmewunsches keinen Ethikkurs absolviert haben. Diese Schüler könnten es schwerer haben, ihre Durchschnittsnote zu erhöhen, oder sie könnten sich - gegen ihr Gewissen - unter Druck gesetzt fühlen, einen Religionsunterricht zu besuchen, um ihre Durchschnittsnote zu verbessern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Fehlen einer Note für "Religion/Ethik" auf den Schulabschlüssen des dritten Klägers während der gesamten Dauer seiner Schulzeit eine Form der ungerechtfertigten Stigmatisierung war. Unter diesen Umständen war das Gericht nicht davon überzeugt, dass die unterschiedliche Behandlung von Nichtgläubigen, die Ethikunterricht besuchen wollten, und von Schülern, die Religionsunterricht besuchen, objektiv und angemessen gerechtfertigt war und dass eine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen den verwendeten Mitteln und dem verfolgten Ziel bestanden hatte. Der Ermessensspielraum des Staates wurde in dieser Angelegenheit überschritten , da der Kern des Rechts des dritten Antragstellers, seine Religion oder seine Überzeugungen nach Artikel 9 nicht zu offenbaren, verletzt worden ist.

Schluss: Es liegt eine Verletzung von  Artikel 2 des Protokolls Nr. 1 EMRK vor.

Fall

In Polen wurden Religionsunterricht und Ethik parallel organisiert. Beide Fächer waren freiwillig und die Wahl hing von den Wünschen der Eltern oder Schüler ab, mit der Maßgabe, dass eine bestimmte Mindestanzahl von Schülern daran interessiert ist, eines der beiden Fächer zu besuchen. Die ersten beiden Antragsteller bezeichnen sich als Agnostiker und sind Eltern des dritter Antragstellers. In Übereinstimmung mit dem Wunsch seiner Eltern, hat der dritte Antragsteller während seiner Schulzeit nicht am Religionsunterricht teilgenommen. Seine Eltern haben systematisch die Schulbehörden aufgefordert, für ihren Sohn einen Ethikkurs zu organisieren. Allerdings wurde während seiner gesamten Schulzeit in der Primar- und Sekundarstufe kein solcher angeboten, weil es nicht genügend interessierte Schüler gab. Seine Schulzeugnisse enthielten eine gerade Linie anstelle einer Note für "Religion/Ethik".