EGMR: Freiheitsstrafe für Journalisten wegen Religionskritik unzulässig

Das Urteil "Tagiyev und Huseynov gegen Aserbaidschan" (Az: 13274/08) betrifft die Verfolgung und Verurteilung zweier Journalisten wegen einer Veröffentlichung zur Rolle von Religion in der Gesellschaft. Der EGMR entschied einstimmig, dass die Beschwerdeführer durch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe durch ein aserbaidschanisches Gericht in ihrem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK verletzt worden waren.

Hintergrund

Tagiyev war ein bekannter Autor und als Kolumnist in der Landeshauptstadt Baku tätig. Huseynov lebt in Lankaran und war Chefredakteur bei der Kunst-Zeitung Sanat Gazet.

Tagiyev und Huseynov veröffentlichten 2006 einen gemeinsamen Artikel mit dem Titel "Europa und Wir", der nach Feststellung des EGMR westliche und östliche Werte verglich. Der Artikel führte in kurzer Zeit zu einer öffentlichen Verurteilung der Autoren durch verschiedene religiöse Führer und Gruppen aus Aserbaidschan und dem Iran und hatte eine Fatwa zur Folge, die den Tod der Autoren forderte. Die Autoren wurden sodann zum Ziel staatlicher Verfolgung. Die Anklage: Aufstachelung zu religiösem Hass und Feindseligkeit.

Die Ermittler, die für den Fall zuständig waren, gaben ein forensisch-linguistisches Gutachten in Auftrag. Dieses charakterisierte einige Passagen des Artikels als "Aufstachelung zu religiösem Hass und Feindseligkeit". Dieses Ergebnis bezog sich auf Bemerkungen zu Ethik im Islam, den Propheten Mohammed, Muslimen in Europa und östliche Philosophen.

Das aserbaidschanische Gericht billigte die Ergebnisse des Gutachtens und verurteilte die Angeklagten zu Freiheitsstrafen von drei bzw. vier Jahren. Alle eingelegten Rechtsbehelfe blieben erfolgslos. Erst im Dezember 2007, nach über einem Jahr der Haft, wurden Tagiyev und Huseynov durch eine Begnadigung des Präsidenten freigelassen.

Die Autoren beriefen sich gegenüber dem EGMR auf eine Verletzung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 10 EMRK.

2011 wurde Tagiyev bei einer Messerattacke vor seinem Haus tödlich verletzt. Die Tat ist Gegenstand eines getrennten Verfahrens beim EGMR.

Entscheidung des EGMR

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass unstreitig ein Eingriff in die Meinungsfreiheit vorgelegen habe, der auf Artikel 283 des aserbaidschanischen Strafgesetzes beruhe. Der Eingriff habe auf den Schutz von Rechten Anderer und auf die Vermeidung von Aufruhr abgezielt.

Die Regierung hatte im Verfahren argumentiert, dass die Verurteilung einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach und dass der Artikel als beleidigender Angriff auf den Islam religiöse Gefühle verletzt habe.

Dieser Beurteilung schloss sich das Gericht nicht an. Aus dem Gesamttext des Artikels ergebe sich eindeutig, dass hauptsächlich östliche und westliche Werte verglichen worden seien. Der Artikel sei daher nicht nur in einem religiösen Kontext zu beurteilen gewesen, sondern auch als Gegenstand des öffentlichen Interesses, insbesondere in Hinblick auf die Rolle von Religion in einer Gesellschaft.

Es sei den aserbaidschanischen Gerichten nicht gelungen, relevante und hinreichende Gründe für das Urteil anzuführen. Die Gerichte seien vielmehr nur den Ergebnissen des Gutachtens gefolgt, jedoch ohne darzulegen, warum die vereinzelt herausgesuchten Textpassagen als Anstachelung zu religiösem Hass und Feindseligkeit anzusehen seien.

Das Gutachten habe letztlich eine rechtliche Charakterisierung der infragestehenden Bemerkungen vorgenommen und sei damit weit über die Untersuchung sprachlicher und religiöser Fragen hinausgegangen.  Der EGMR sah dieses Vorgehen als nicht akzeptabel an und betonte, dass rechtliche Fragen ausschließlich von den Gerichten aufzuklären waren.

Des Weiteren hätten die Gerichte nicht den Kontext der Äußerungen beachtet und weder die dahinterstehenden Intentionen noch das öffentliche Interesse in Erwägung gezogen. Eine Abwägung der Redefreiheit der Autoren mit dem Recht religiöser Menschen auf Respekt gegenüber ihrem Glauben sei nicht vorgenommen worden.

Abschließend betonte der EGMR, dass es für die Freiheitsentziehung keine Rechtfertigung gegeben habe. Eine so schwerwiegende Maßnahme könne die Presse davon abbringen, die Rolle von Religion in der Gesellschaft öffentlich zu diskutieren und habe einen generellen Abschreckungseffekt auf die Freiheit der Meinungsäußerung in Aserbaidschan.  

Der Gerichtshof stellte fest, dass die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 10 EMRK verletzt worden waren. Tagiyevs Ehefrau und Huseynov wurden jeweils 12.000 Euro als Entschädigung für immaterielle Schäden sowie 850 Euro als Kostenerstattung zugesprochen.