EGMR: Russland muss Religionsfreiheit im Strafvollzug beachten

In der Entscheidung "Korostelev gegen Russland" (Aktenzeichen Nr. 29290/10) vom 12.05.2020 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einem Strafgefangenen muslimischen Glaubens recht. Dieser hatte sich auf eine Verletzung seiner Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK berufen, nachdem ihm sein nächtliches Gebet durch ein russisches Gefängnis untersagt worden war.

Hintergrund

Korostelev war 2009 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe in einem russischen Straflager verurteilt worden. 2011 wurde er vorubergehend in ein Untersuchungsgefängnis verlegt und in Einzelhaft untergebracht sowie videoüberwacht. Für alle Gefangenen galt ein strikter Tagesplan, der eine Nachtruhe und Schlafenszeit zwischen 22 und 6 Uhr vorschrieb.

Als praktizierender Moslem sah Korostelev es als seine religiöse Pflicht, mindestens fünf Mal am Tag und zu bestimmten Zeiten zu beten ("Salāt"). Als er nachts aufstand, um nach islamischem Ritus zu beten, wurde er vom Gefängnispersonal zunächst angewiesen, an seinen Schlafplatz zurückzukehren. Korostelev verweigerte diese Aufforderung und bestand auf die Durchführung des Gebets.

Der Gefängnisgouverneur reagierte auf das Handeln Korostelevs mit einem Verweis; eine im russischen Recht vorgesehene Disziplinarmaßnahme, die - wie das Gericht betonte - die Aussichten auf vorzeitige Entlassung und andere Hafterleichterungen gefährden kann.

Argumentation der Parteien

Korostelev berief sich gegenüber den russischen Autoritäten auf seine Religionsfreiheit und betonte die Wichtigkeit des Rituals für seine Glaubensausübung. Er erklärte zudem, dass es sich bei der nächtlichen Schlafenszeit um ein Recht, keine Pflicht handele.

Die Autoritäten argumentierten dagegen, dass ein Nichteinschreiten bei Verletzung der Gefängnisregeln die Ordnung und Sicherheit der Anlage gefährden könnte.

Zwei russische Gerichte gaben einer Beschwerde des Gefangenen nicht statt, sondern stützten den Vorrang der Gefängnisregeln.

Entscheidung des EGMR

Der EGMR entschied einstimmig, dass Korostelev durch die Maßnahme in seiner Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK verletzt wurde.

Das Gericht musste dafür klären, ob die Einschränkung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und verhältnismäßig ist. Dabei rügte der EGMR die nicht ausreichende Abwägung zwischen dem Recht auf Religionsfreiheit und den Interessen des Strafvollzugs.

Insbesondere da Korostelev in Einzelhaft untergebracht war und das leise Gebet den Tagesablauf nicht beeinträchtigte, hätten keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Ordnung oder Sicherheit vorgelegen. Von Seiten der Autoritäten habe zudem kein Handlungsbedarf bestanden, um dem Wunsch Korostelevs zu entsprechen.

Der augenscheinlich einzige Grund der Maßnahme sei die formelle Durchsetzung der Gefängnisregeln gewesen, sowie der davon ausgehende Abschreckungseffekt auf andere Gefangene. Obwohl die Wichtigkeit der Gefängnisdisziplin anzuerkennen sei, könne die Nichtbeachtung der individuellen Umstände und der widerstreitenden Interessen nicht akzeptiert werden.

Für Korostelev hätte die Disziplinarmaßnahme hingegen die Aussichten auf eine vorzeitige Entlassung und andere Hafterleichterungen beeinträchtigt. Zudem sei die Erfüllung seiner religiösen Pflichten für ihn von besonderer Wichtigkeit gewesen, nicht zuletzt während des Ramadans.

Der EGMR kam daher zu dem Ergebnis, dass keine korrekte Abwägung der widerstreitenden Interessen vorgenommen worden war. Das Gericht stellte fest, dass Korostelev in seiner Religionsfreiheit verletzt worden war und sprach ihm eine Entschädigung in Höhe von 2600 Euro für immaterielle Schäden sowie die Erstattung von 2000 Euro Anwaltskosten zu.