Fall Egenberger - die Grenzen des kirchlichen Arbeitsrechts

Im Fall "Egenberger" (hier und hier) hat das Bundesverfassungsgericht nach sechs Jahren über die Verfassungsbeschwerde des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung entschieden. Die Diakonie hatte das Urteil des Bundesarbeitsgerichts angefochten, das der konfessionsfreien Bewerberin Vera Egenberger eine Entschädigung wegen Diskriminierung zugesprochen hatte. Zuvor hatte das Bundesarbeitsgericht den Fall dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde zwar statt (Beschl. v. 29.09.2025, Az. 2 BvR 934/19), allerdings sei das, so ifw-Beirat Prof. Dr. Bodo Pieroth, "keineswegs ein Erfolg auf ganzer Linie". Pieroth hatte gemeinsam mit Prof. Dr. Tristan Barczak ein unions- und verfassungsrechtliches Gutachten zur Verfassungsbeschwerde der Diakonie erstellt. Das Gutachten wurde von Egenberger zusammen mit ihrer Stellungnahme beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.

Der Staatsrechtler Pieroth erläutert seine Bewertung wie folgt:

"Das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung hat nämlich in ihrer Verfassungsbeschwerde in erster Linie die dem jetzt aufgehobenen Urteil des Bundesarbeitsgerichts zugrunde liegende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs und damit dessen einschlägige Rechtsprechung insgesamt angegriffen, die dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht nicht das gleiche große Gewicht zuerkennt, wie es das Bundesverfassungsgericht bisher getan hat.

Dieser Angriff, der dem Europäischen Gerichtshof einen ausbrechenden Rechtsakt im Sinne der Ultra-vires-Dogmatik und einen Verstoß gegen die als integrationsfest geschützte Verfassungsidentität im Sinne der Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG vorgeworfen hat, ist vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen worden. Es hat sich im Gegenteil ausdrücklich als an das Unionsrecht 'in der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union' gebunden erklärt. Deshalb ist es auch 'zu einer Konkretisierung' bzw. 'Konturierung', sprich Modifikation der bisherigen verfassungsgerichtlichen Maßstäbe gekommen.

Nur im Bereich der ,Gesamtabwägung' hat das Bundesverfassungsgericht dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht gegenüber der Nichtdiskriminierung ein höheres Gewicht als das Bundesarbeitsgericht gegeben. Berücksichtigt man, dass die ausgeschriebene Stelle, um die es in dem Fall ging, auch die ,'Projektbezogene Vertretung der Diakonie Deutschland gegenüber der Politik, der Öffentlichkeit und Menschenrechtsorganisationen' umfasste, ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts immerhin nachvollziehbar. Wichtig ist es festzuhalten und zu betonen, dass eine Verallgemeinerung des Ergebnisses dieses besonderen Falls auf die weiten Bereiche der Tätigkeit der Diakonie, namentlich im Gesundheitsbereich, nicht zulässig ist."

Das ifw gab seinerzeit zudem ein theologisches und rechtshistorisches Gutachten zu der Verfassungsbeschwerde der Diakonie in Auftrag. Erstellt hat das Gutachten der heutige ifw-Beirat Prof. Dr. Hartmut Kreß

Der renommierte Kirchenrechtsexperte betrachtet den Beschluss "zwiespältig" und führt aus:

"Immerhin: Das BVerfG lehnt sich nicht wieder – wie in seinem EZB-Urteil vom 5. Mai 2020 – gegen den Europäischen Gerichtshof auf. Stattdessen hat es im Sinne des EuGH seine eigene Rechtsprechung zum kirchlichen Arbeitsrecht deutlich korrigieren müssen. Ganz anders als die evangelische Diakonie es in ihrer Verfassungsbeschwerde gewollt hatte, bleibt es bei dem, was der EuGH im Jahr 2018 entschieden hat: Im Streitfall dürfen bzw. müssen staatliche Gerichte kirchliche Personalentscheidungen umfassend überprüfen. Dabei haben sie auf den Schutz der individuellen Grundrechte von Arbeitnehmer*innen zu achten; und es kommt auf die konkrete Arbeitstätigkeit an. Deshalb ist es nicht mehr möglich, dass die Kirche ohne präzise, sachlich durchschlagende Begründung von Stellenbewerber*innen eine Kirchenmitgliedschaft verlangt.

Allerdings ist es irritierend, dass das BVerfG den Fall an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen hat, weil das BAG seine eigene Sicht an die Stelle des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gesetzt habe. Es wird interessant sein, was das BAG zu diesem Vorwurf sagen wird. Der Beschluss des BVerfG hat eine bedenkliche Schlagseite. Nach wie vor stellt das BVerfG den Kirchen eine Art Freibrief, einen Blankoscheck aus, sich auf ihr Selbstbestimmungsrecht zu berufen und zu erklären, was sie hierunter verstehen – gegebenenfalls zulasten von Beschäftigten. Der Zweite Senat des Gerichts hat seine alte Standardformel wiederholt, bei den Streitfragen des kirchlichen Arbeitsrechts komme dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht 'besonderes Gewicht' zu. Auf diese Weise hat das BVerfG persönliche Grundrechte von Arbeitnehmer*innen unter der Hand dann doch wieder in die zweite Reihe verwiesen.

Demgegenüber hat das übergeordnete Gericht, der EuGH, im Jahr 2018 einen anderen Akzent gesetzt, auf dem der EuGH sicherlich auch künftig beharren wird. Der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, auf die Stellenbewerber*innen und Beschäftigte gegenüber der Kirche als Arbeitgeber einen Anspruch haben, hat das BVerfG mit seinem Beschluss keinen guten Dienst erwiesen."

Gegenüber Legal Tribune Online gaben die ifw-Beiräte und BAG-Richter a.D. Dr. Ulrike Brune und Christoph Schmitz-Scholemann ebenfalls eine Einschätzung zum Beschluss ab:

"'Auf den ersten Blick sieht es nach einem Erfolg für die Kirche aus'", schätzt Dr. Ulrike Brune, Richterin am BAG i.R., die Entscheidung auf LTO-Anfrage ein. 'Bei näherem Zusehen ist es ein Eigentor für die Kirchen: Anders als bisher müssen sie nun Gründe dafür angeben, wenn sie besondere Loyalitätsforderungen an Arbeitnehmer stellen. Religionszugehörigkeit dürfen sie nur verlangen, wenn die betreffende Arbeit es für den religiösen Sendungsauftrag erfordert. Und das können die staatlichen Gerichte jetzt im Einzelnen überprüfen. Das hätte das BVerfG vor ein paar Jahren noch als Aufruhr und Ketzerei betrachtet.'

Für Christoph Schmitz-Scholemann, ebenfalls Richter am BAG i.R., ist 'die Entscheidung auf jeden Fall ein schönes Zeichen für den in Karlsruhe eingekehrten europafreundlichen Geist. Während sich das Verfassungsgericht noch vor wenigen Jahren nicht scheute, dem Europäischen Gerichtshof Nachhilfe in juristischer Methodenlehre zu erteilen, erkennt es jetzt den Vorrang der europäischen Grundrechte ausdrücklich an und nutzt dies, um das deutsche Verfassungsrecht praktischer, lebendiger und verständlicher zu machen.'"