Der Fall Egenberger - neuer Zwiespalt für das kirchliche Arbeitsrecht und ein Pyrrhussieg der Kirche
Im Fall "Egenberger" (hier und hier) hat das Bundesverfassungsgericht nach sechs Jahren über die Verfassungsbeschwerde des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung entschieden. Die Diakonie hatte das Urteil des Bundesarbeitsgerichts angefochten, das der konfessionsfreien Bewerberin Vera Egenberger eine Entschädigung wegen Diskriminierung zugesprochen hatte. Zuvor hatte das Bundesarbeitsgericht den Fall dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Die stellv. ifw-Direktorin Jessica Hamed bewertet die Entscheidung in einem Kommentar beim hpd am 24.10.2025 als "Pyrrhussieg der Kirche". Sie meint: "Im Ergebnis hat das Bundesverfassungsgericht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum kirchlichen Arbeitsrecht und seinen Grenzen vollumfänglich bestätigt."
Auch ifw-Beirat Hartmut Kreß erkennt in dem Beschluss ein Zurückweichen des Bundesverfassungsgerichts vor dem Europäischen Gerichtshof. In seinem Gastbeitrag beim hpd vom 28.10.2025 konstatiert er:
"Daher hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss zum Fall Egenberger nun akzeptiert, was die evangelische Kirche mir ihrer Verfassungsbeschwerde hatte blockieren wollen: dass deutsche staatliche Arbeitsgerichte kirchliche Personalentscheidungen sachlich umfassend kontrollieren dürfen und müssen. Mehr noch: Das Bundesverfassungsgericht sah sich gezwungen, seine eigene frühere Rechtsprechung zum kirchlichen Arbeitsrecht radikal zu korrigieren. In seinem Beschluss vom 29. September 2025 kleidete es seine Selbstkorrektur gesichtswahrend in die Worte, es habe seine früheren Aussagen, die extrem kirchenfreundlich waren, 'geschärft' und 'konkretisiert'."
Geklärt ist damit dennoch nicht alles. In seiner ausführlichen Analyse stellt Kreß fest:
"In seinem neuesten Beschluss wiederholte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts seine alte Standardformel, dass bei Entscheidungen, die Gerichte zu Konflikten zwischen Kirchen und Arbeitnehmer*innen zu treffen haben, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht "besonderes Gewicht" besitze. [...]
Hiermit gestand das Bundesverfassungsgericht den Kirchen in seinem Beschluss vom 29. September 2025 dann doch wieder einen Freibrief oder einen Blankoscheck zu. Zugleich weichte es die Vorgabe des EuGH auf, der zufolge die Kirchen nur dann eine Kirchenmitgliedschaft verlangen dürfen, wenn die betreffende Person im engen Sinn (Predigt, Seelsorge) kirchlich-religiös tätig sein oder wenn sie geistliche Leitungsfunktionen ausüben oder die Kirche geistlich nach außen repräsentieren soll. Stattdessen entwickelte das Bundesverfassungsgericht eine Je-Desto-Formel: Je mehr eine bestimmte Tätigkeit kirchlich-religiös relevant sei, desto mehr könne und dürfe die Kirche auf der Kirchenmitgliedschaft bestehen."
Das Problem für die Praxis bringt der renommierte Sozialethiker auf den Punkt: "Mit dieser Je-Desto-Formel hat das Bundesverfassungsgericht eine Grauzone geschaffen und die Kirchen geradezu eingeladen, ihr Selbstbestimmungsrecht möglichst breit auszureizen."
Abschließen wagt der renommierte Wissenschaftler noch einen Blick in die Zukunft:
"Es wird interessant werden, wie das Bundesarbeitsgericht reagieren wird. Vermutlich wird es sein Urteil von 2018 bestätigen, weil es sich hierin auf die Normen und Kriterien des Europäischen Gerichtshofs gestützt hatte. Es mag sein, dass das Bundesarbeitsgericht dabei im Einzelnen neue Formulierungen finden oder zusätzliche Argumente beibringen wird. Theoretisch könnte die Sache auch noch einmal dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt werden.
Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. September 2025 ist das Fazit zu ziehen, dass er zwischen zwei Polen oszilliert. Einerseits beugte sich das deutsche Verfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof und korrigierte seinen eigenen älteren kirchennahen Standpunkt. Damit hat es die Position des Europäischen Gerichtshofs übernommen, der die Grundrechte kirchlicher Arbeitnehmer*innen gestärkt und die institutionelle Selbstbestimmung der Kirchen relativiert hat. Andererseits blieb der Beschluss aber auf der Linie der früheren sehr kirchenorientierten Entscheidungen aus Karlsruhe; denn er hob das korporative Selbstbestimmungsrecht der Kirchen rhetorisch stark hervor.
Als künftiges Rechtsfundament für Deutschland ist allerdings der erste Pol entscheidend, nämlich die Übernahme der Vorgaben aus Luxemburg und die Zurückweisung der kirchlichen Forderung, dass staatliche Gerichte kirchliche Personalentscheidungen nur eingeschränkt überprüfen dürfen. Hiermit hat das Bundesverfassungsgericht seine bisherige Rechtsprechung korrigiert. Hinter diese Selbstkorrektur wird das deutsche Staatskirchenrecht nicht mehr zurückfallen können.
Aufgrund der Luxemburger Rechtsprechung haben sich inzwischen übrigens auch die Kirchen selbst korrigieren müssen. In den zurückliegenden Jahren haben sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche ihre Bestimmungen geändert, mit denen sie die Einstellung und die Beschäftigung von Mitarbeitern regeln. Dabei haben sie manches liberalisieren müssen. Anders als früher nimmt die katholische Kirche es jetzt hin, wenn Beschäftigte von der katholischen Ehe- und Sexualmoral abweichen, indem sie nach einer Ehescheidung eine zweite Ehe eingehen oder in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben. Beide Kirchen bestehen auch nicht mehr so strikt wie früher darauf, dass alle Stellenbewerber*innen Kirchenmitglied sein müssen. Hierauf können sie ohnehin nicht beharren, weil sie sonst zahlreiche Einrichtungen mangels Bewerber*innen schließen müssten. Trotzdem geben sie bis heute zu verstehen, dass sie immer noch – auch für verkündigungsferne Stellen – gläubige Kirchenangehörige bevorzugen. Entsprechende dehnbare Formulierungen finden sich in der neuen Mitarbeitsrichtlinie der evangelischen Kirche und in der neuen Grundordnung der katholischen Kirche. Daher zögern sogar heute zum Beispiel Studierende der Medizin und angehende Ärzt*innen, aus der Kirche auszutreten, obwohl sie es ihrer persönlichen Überzeugung gemäß eigentlich tun möchten. Sie haben Sorge, in Schwierigkeiten zu geraten, wenn sie sich auf Stellen in einem der zahlreichen kirchlich getragenen Krankenhäuser bewerben.
Nun ist fraglich, ob sich die Kirchen selbst einen guten Dienst erweisen, indem sie auf Stellenbewerber*innen und Beschäftigte Druck ausüben, Kirchenmitglied zu bleiben oder in die Kirche einzutreten. Das mag hier dahingestellt bleiben. Zu bedauern ist indessen, dass auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem jüngsten Beschluss zweideutig blieb. Dem Anspruch von Arbeitnehmer*innen auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit ist es nicht gerecht geworden."