Hartmut Kreß: Warum die evangelische Kirche ihrer ethischen Verantwortung nicht gerecht wird

In dem vom ifw unterstützten Rechtsstreit des Gynäkologen Prof. Dr. Joachim Volz kommentiert ifw-Beirat Prof. Dr. Hartmut Kreß in der (Online)-Zeitschrift "zeitzeichen" kritisch das Urteil des Arbeitsgerichts Hamm und das Verhalten der evangelischen Kirche.

In dem Beitrag stellt Kreß zunächst den Gegenstand des Rechtsstreits sowie den Verfahrensstand dar. Das (klageabweisende) Urteil des Arbeitsgerichts Hamm überzeugt ihn nicht. Insbesondere betont Kreß, dass der Kirche zwar ein Selbstverwaltungsrecht zukomme, dieses aber unter dem klaren Vorbehalt stünde, dass sie sich an die "für alle geltenden Gesetze" halte. Weiter führt Kreß aus : "Ein solches Gesetz ist die Erlaubnis des Schwangerschaftsabbruchs nach medizinischer Indikation in Paragraf 218a Absatz 2 Strafgesetzbuch. Daher sind die Schwangerschaftsabbrüche gesetzeskonform und rechtmäßig, die die neue Klinikleitung in Lippstadt verboten hat und die sie dem Arzt symbolisch auch für seine Bielefelder kassenärztliche Praxis untersagt hat."

Ferner verweist er darauf, dass sich die katholische Kirche zudem widersprüchlich verhält: "Die Klageschrift des Chefarztes Volz hat Beweismaterial bereitgestellt, das belegt, wie verschiedene katholische Kliniken das ihnen auferlegte Verbot umgehen. Anders gesagt: Die katholische Kirche in Deutschland hält in den von ihr getragenen Einrichtungen die Verbotsnorm, für die sie sich auf die katholische Moraldoktrin beruft, nicht durch. Sie verhält sich also selbstwidersprüchlich."

Sodann erinnert der Sozialethiker die evangelische Kirche an ihre Verantwortung und weist darauf hin, dass es es sich bei dem Lippstädter Fall um einen "Wiederholungsfall" handle. Denn bereits 2019 habe sich die evangelische Kirche dem katholischen Diktat gebeugt. Auch dort sei nach einer Fusion mit einer katholischen Klinik der Schwangerschaftsabbruch verboten worden.

Kreß erläutert, dass nach dem Bundesverfassungsgericht die Pflichten, "die bei kirchlichen Beschäftigungsverhältnissen gelten sollen, den Beschäftigten nicht von einer einzelnen Einrichtung auferlegt werden dürfen. Sie müssen vielmehr von der verfassten Kirche festgelegt werden." Das Gleiche müsse dann, so Kreß, aber auch gelten, wenn eine evangelische Einrichtung auf ihren evanglischen Standpunkt verzichtet und sich die katholische Position zu eigen mache.

Das Arbeitsgericht Hamm habe nicht nachgeprüft, ob die leitenden Organe der Evangelischen Kirche von Westfalen mit der Übernahme der katholischen Doktrin über den Schwangerschaftsabbruch tatsächlich einverstanden gewesen seien.

Abschließend hält Kreß fest:

"Für die Glaubwürdigkeit der evangelischen Kirche in der Öffentlichkeit ist erheblicher Schaden entstanden. Schon in der Vergangenheit war immer wieder zu beobachten gewesen, dass sich die evangelische Kirche zu biomedizinischen Fragen letztlich der katholischen Auffassung angeschlossen hat, obwohl sie die katholische theologische Begründung eigentlich nicht teilt. Ein Beispiel ist die pauschale Ablehnung der Präimplantationsdiagnostik, die die Evangelische Kirche in Deutschland im Jahr 2011 ausgesprochen hat. Was Schwangerschaftsabbrüche gemäß medizinischer Indikation anbelangt, wären die evangelischen Kirchen besser beraten, wenn sie dabei blieben, das Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und ihr Recht auf gesundheitliche Versorgung zu respektieren. Wenn sie sich heute mit katholischen Einrichtungen zusammenschließen, verlassen sie diese Linie. Hiermit tragen sie selbst dazu bei, dass das evangelische Profil erodiert, die Reputation der evangelischen Kirche in der Öffentlichkeit weiter abnimmt und Menschen wegen der katholischen Kirche und deren Lehre aus der evangelischen Kirche austreten."