Reinhard Merkel im Interview: Ethische Grundsatzfragen, Sterbehilfe und Strafrechtsreform

In einem Interview mit der "Zeitschrift für Rechtspolitik" spricht Prof. Dr. Reinhard Merkel unter anderem über Strafrechtsreformen, die aktuellen Entwicklungen zur Sterbehilfe, seine Erfahrungen im Ethikrat sowie die ethischen Herausforderungen der Corona-Pandemie. Reinhard Merkel ist Professor Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, Beirat im Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) und war zwischen 2012 und 2020 Mitglied im Deutschen Ethikrat.

Neuerungen der Strafrechtsreform

In dem Interview begrüßt Reinhard Merkel zunächst die Bestrebungen der neueren Strafrechtsreformen, einen besseren Schutz von vulnerablen Gruppen im Sexualstrafrecht zu gewährleisten. Vor allem die Vorschriften zum Menschenhandel, zur Zwangsprostitution und zur Zwangsarbeit sowie der verbesserte Kinderschutz seien als gelungene Beispiele anzuführen. Ebenso der verstärkte Fokus auf das Rechtsgut der persönlichen Freiheit.

Allerdings schieße der Gesetzgeber an anderen Stellen über das Ziel hinaus. Merkel warnt vor einer sittenrechtlichen Bevormundung durch Ausweitung der Sexualdelikte. Es gebe eine neue Tendenz im gesellschaftlichen Mainstream politischer Korrektheit, sexuelle Dinge, die einem suspekt sind, für verwerflich zu erklären. Solchen gesellschaftlichen Entwicklungen solle jedenfalls der Strafgesetzgeber nicht folgen.

§ 217 StGB und Sterbehilfe

Zufrieden zeigt sich Reinhard Merkel über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, den § 217 StGB (Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) für verfassungswidrig zu erklären. In der Begründung des Ergebnisses setze er jedoch noch einen anderen Akzent:

"Meines Erachtens war die Prämisse des Gesetzgebers ganz unplausibel, speziell und nur bei Sterbehilfeorganisationen, aber offenbar nicht bei laienhaften Angehörigen, bestehe die Gefahr, es werde verkannt, dass der Entschluss des Sterbewilligen nicht freiwillig sei."

Damit habe der Gesetzgeber eine abstrakte Gefährdung durch Geschäftsmäßigkeit erfunden. Wer aber keine abstrakte Gefahr schaffe, dürfe nicht wegen abstrakter Gefährdung bestraft werden. Deshalb verstoße § 217 StGB auch gegen das Schuldprinzip, so Merkel. Das allerdings habe das Verfassungsgericht nicht so gesehen.

Mit dem Kritikpunkt konfrontiert, das BVerfG habe das Schutzbedürfnis vulnerabler Personengruppen nicht ausreichend berücksichtigt, kehrt Reinhard Merkel den Vorwurf um: "Eine vulnerable Gruppe, die dieses Urteil jetzt schützt, sind die Patienten, die ihr Leben aus verständlichen Gründen nicht mehr ertragen können und die deshalb einen möglichst sanften Weg suchen, es zu beenden. Diesen Weg zu blockieren, indem man den Umkreis, der einem solchen Menschen beim Suizid helfen möchte, mit Strafe bedroht, ist die Missachtung einer ganz besonders vulnerablen Gruppe. Die anderen vulnerablen Suizidwilligen, deren Entschlüsse gar nicht freiverantwortlich sind, waren dagegen immer schon vom Strafrecht geschützt und werden dies auch weiterhin sein."

Bezüglich eventueller Neuregelungen zur Sterbehilfe plädiert Merkel für Lösungen außerhalb des Strafrechts. Im Vereinsrecht könnten Suizidhilfegesellschaften unter strikte Aufsicht gestellt werden und schon eine nachlässige Handhabung mit Vereinsverboten oder Bußgeldern geahndet werden. Durch genaue Dokumentation, Vorlagepflichten und dem Erfordernis von psychologischen Gutachten könne die Autonomie des Suizidentschlusses gewährleistet werden.

Merkel weist im Hinblick auf den Regelungsbedarf aber auch darauf hin, dass es vor der Einführung des § 217 StGB im Jahr 2015 keine Entwicklung zu gesellschaftlicher Normalität der Selbsttötung gegebenen hatte. Beihilfe oder Anstiftung zu nicht-freiverantwortlichen Suiziden seien damals wie heute als Tötungsdelikt oder zumindest fahrlässige Tötung strafbar.

Eine Abschaffung des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) hält Merkel für unwahrscheinlich und spricht sich auch dagegen aus. Die Norm stelle eine Handlung unter Strafe, die sich durch die Tatherrschaft über das Sterben eines anderen manifestiere. Das sei im Grundtypus etwas anderes als einer anderen Person bei ihrem frei verantwortlichen Suizid zu helfen.

Einige Ausführungen der Verfassungsrichter hält Merkel dennoch für problematisch: "Das Urteil erklärt für allein maßgeblich, dass die Entscheidung zum Suizid frei verantwortlich sei und die Motive dazu im Übrigen keine Rolle spielten. Das ist in der Praxis nicht frei von Risiken. Wenn jemand sich das Leben nehmen will, weil er zum ersten Mal verzweifelten Liebeskummer erlebt, sollte ihm bitte niemand dabei helfen. Wir wissen, dass solche Sterbemotive vorübergehend sind. Jemandem mit einem biografisch so flüchtigen Motiv beim Suizid zu helfen, wäre jedenfalls moralisch inakzeptabel."

Zur Frage, ob unheilbar kranken Patienten staatlicherseits der Zugang zu einem Betäubungsmittel für eine Selbsttötung verwehrt werden dürfe, zieht Merkel einen Schluss aus dem Urteil zur Sterbehilfe:

"Das Verfassungsgericht hat betont, dass jemand, der einen frei verantwortlichen Suizidentschluss gefasst hat, nicht durch das Strafrecht blockiert werden darf, diesen autonomen Entschluss zu verwirklichen. Daraus wird man folgern dürfen, dass die Hilfe zu dem sanftesten Weg des Sterbens bestimmt nicht blockiert werden darf."

Überdies betont er, dass das Bundesverwaltungsgericht 2017 hier eine profunde und richtige Entscheidung getroffen hat, indem es unter Verweis auf die Grundrechte eine Art Notstandsausnahme zuließ.

Embryonenschutzgesetz

Zum dreißigsten Jubiläum des Embryonenschutzgesetzes fällt Merkel ein scharfes Urteil. Der Gesetzgeber solle das Gesetz "kassieren" und dann Forschungs- und Fortpflanzungsfragen getrennt regeln. Zwar gebe es Regelungsbedarf, "aber nicht mit dem moralisierenden Überschuss des Jahres 1990". Viele Dinge, die das Embryonenschutzgesetz noch verbiete, seien mittlerweile reguläre Methoden der Fortpflanzungsmedizin in nahezu allen liberalen Rechtsstaaten. Die insgesamt sehr rigide Regelung des Embryonenschutzes sei moralisch nicht gerechtfertigt.

Selbst nach der Lockerung des Verbots der Präimplantationsdiagnostik seien dessen Restriktionen noch unhaltbar. Dazu betonte Merkel, dass jemand mit einer christlich fundierten Moral dies wohl anders sehen würde, eine solche Auffassung in einer liberalen Verfassungsordnung aber nicht zwangsrechtlich verbindlich gemacht werden könne.

Verboten bleiben sollte nach dem Strafrechtler das Klonen von Menschen.

Ethikrat

2020 endete Reinhard Merkels Mitgliedschaft im deutschen Ethikrat. Zu dessen Einfluss zieht er ein gemischtes Resümee. Auf der einen Seite gebe es eine Art argumentative Unterstützungswirkung, wenn der Ethikrat Positionen formuliere, die einer Seite in kontroversen politischen Debatten gut gefallen. Kompromisse seien auch schon mit großem Beifall im Parlament aufgenommen worden. Auf der anderen Seite seien die Wirkungsmöglichkeiten sehr begrenzt, wenn eine Idee der Politik nicht gefalle. In solchen Fällen würden Stimmen laut, man müsse über den Fortbestand des Ethikrats nachdenken. Dies sei etwa bei den Empfehlungen geschehen, den einvernehmlichen Inzest unter Geschwistern nicht mehr mit Strafe zu bedrohen.

Ethische Grundsatzfragen der Corona-Pandemie

Zuletzt sorgte die Corona-Pandemie für dringende und äußerst kontroverse ethische Fragen. Vor allem Antworten zur sogenannten Triage - der Auswahl von Patienten bei unzureichenden medizinischen Ressourcen - mussten von einer kleinen Gruppe des Ethikrats, darunter auch Merkel, unter höchstem Zeitdruck erarbeitet werden. Eine Stellungnahme, die unter normalen Umständen ein halbes Jahr gebraucht hätte, wurde so innerhalb nur einer Woche produziert, wie Merkel berichtet.

Merkel erkennt die Schwierigkeit von Ärzten in der extremen Stresssituation der Triage an. Betont aus verfassungsrechtlicher Sicht aber klar das Verbot, einem alten Menschen das Beatmungsgerät wegzunehmen, um eine junge Mutter zu retten. Das verstieße gegen die Menschenwürde, das Lebensgrundrecht und den Gleichheitssatz des Grundgesetzes.

Neben der Triage äußerte sich Merkel auch zu den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie: "Ich denke, wir werden eine gewisse Ausweitung der tolerierten sozialen Risiken erleben. Es werden weitere Pandemien kommen und wir werden sie als Teil des allgemeinen Lebensrisikos akzeptieren müssen, ohne jedesmal einen neuen Lockdown anzuordnen. Die Politik steht hier vor einer schwierigen Aufgabe. Man wird solchen Pandemien künftig nur mit moderaten Maßnahmen wie Abstandhalten und Schutzmaskenpflicht begegnen können, um nicht noch einmal einen solchen substanziellen ökonomischen Lockdown zu erzeugen mit hohen Kollateralschäden, die ja auch Leib und Leben betreffen."

Weitere Änderungen im Strafrecht?

Zuletzt gab das Interview noch Gelegenheit für Reinhard Merkel, eigene Wünsche für Strafrechtsreformen zu äußern. Dabei sprach er sich gegen weitere Neukriminalisierungen aus.

Ändern würde Merkel vor allem den Mordparagrafen: Empfehlen würde er die Streichung der "Heimtücke" und der "sonstigen niedrige Beweggründe", stattdessen "Rassismus" und "Hass auf Minderheiten" zu den Mordmerkmalen hinzufügen. Auch solle Mord nicht länger zwingend die lebenslange Freiheitsstrafe vorschreiben. Die Wahrscheinlichkeit für eine solche Änderung sei aber erfahrungsgemäß gering.

Streichen sollte man aus Sicht des Strafrechtlers den Inzestparagrafen und das missratene Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Grob anstößige Werbung solle zwar verboten bleiben, gehöre aber ins Ordnungswidrigkeitenrecht.

Das vollständige Interview ist zu finden in der "Zeitschrift für Rechtspolitik" (ZRP 5/2020, S. 162).