Klerikaler Missbrauch in zwei Fällen - wie wird das LG Köln entscheiden?

Im Fall der Melanie F., die als Kind und Jugendliche von dem seinerzeitigen Priester und gleichzeitigen Pflegevater Hans Ue. nicht nur jahrelang schwer sexuell missbraucht wurde, sondern darüber hinaus wurde bei ihr unter dem Vorwand einer gynäkologischen Untersuchung heimlich ein Schwangerschaftsabbruch von einem Frauenarzt vorgenommen, wird morgen, am 25.03.2025 weiterverhandelt. Das Erzbistum Köln sieht sich weiterhin nicht in der Haftung.

Im September letzten Jahres kam es in dem Verfahren zu einer überraschenden Wendung. So erläuterte der Vorsitzende der zuständigen Kölner Zivilkammer in der mündlichen Verhandlung am 2. Juli 2024 noch, warum aus vorläufiger Sicht des Gerichts kein Zusammenhang zwischen dem Klerikeramt und den Sexualstraftaten und damit keine Amtshaftung des Erzbistums bestehe: Eine Pflegevaterschaft sei Privatsache des Priesters, und die Sexualstraftaten habe der Pflegevater im privaten Bereich (Pfarrhaus) begangen. Den im September anberaumten Verkündungstermin hat das Gericht dann aber überraschend aufgehoben und davon abgesehen, bereits ein Urteil zu sprechen. Hiernach haben die Prozessbevollmächtigten der Klägerin noch einmal umfassend vorgetragen und insbesondere auch dargelegt, dass die Leitungsebene des Bistums von Übernachtungsbesuchen der Klägerin bei Ue. wusste. Gleichzeitig haben sie betont, dass es darauf nicht ankommt, weil Ue. sich in seiner Eigenschaft als Diakon und Priester das Vertrauen des Kindes erschlichen hat.

Heftige Kritik an der seinerzeitigen Auffassung des Gerichts wurde von kirchenrechtlicher Seite ausdrücklich im Hinblick auf die Aufspaltung in Priester und Privatperson geübt.

Zu den Kritikern gehörte Norbert Lüdecke, der mit Stephan Rixen Ende August 2024 im Verfassungsblog freilegte:

"Das Erzbistum Köln hält von dieser Unterscheidung zwischen Priester und Privatperson viel, weil es ihm (von Fragen der Verjährung abgesehen) die Haftung erspart. Und doch muss es erstaunen, dass der Vorsteher eines Erzbistums, das nicht ohne Grund als "Rom am Rhein" gilt, nicht auf die Beachtung des kirchenamtlich gebotenen Verständnisses vom Priesteramt dringt, obwohl er sonst für eine besonders lupenreine Lesart des römischen Selbstverständnisses eintritt. Dass die Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses aus staatlich-rechtlicher Sicht bei der Auslegung von § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB ("Amtspflicht") geboten ist, folgt aus dem sog. kirchlichen (genaugenommen: religionsgesellschaftlichen) Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 GG)."

In einem Interview mit dem General-Anzeiger am 02.12.2024 macht Lüdecke deutlich, dass die Position des Erzbistums "skurril" ist und illustriert seine Bewertung:

"Stellen Sie sich vor: Ein mit Erlaubnis von Erzbischof Joseph Kardinal Höffner zum Pflegevater einer 13-Jährigen bestellter Diakon, später Priester, hat diese jahrelang missbraucht. Und das wird nun als dessen Privatsache abgetan, mit der der erlaubende Erzbischof nichts zu tun gehabt haben soll? Also: Eben noch Priester, steigt der Mann mit dem Mädchen in die Badewanne, um sie dort als Privatmann zu missbrauchen. Mit dem amtlichen Verständnis vom katholischen Priester hat das nichts zu tun. Hier wird die Wahrheit verschleiert und etwas konstruiert, um sich der Verantwortung zu entziehen."

In dem Vorgehen der deutschen Bischöfe meint Lüdecke Gemeinsamkeiten in Form der "Flucht vor rechtlicher und damit finanzieller Verantwortung" zu sehen.

Ähnlich sieht das ifw-Direktor Jörg Scheinfeld, der gemeinsam mit Rixen im März 2024 im Rechtsmagazin Legal Tribune Online kommentierte:

"In der Gesamtschau drängt sich der Eindruck auf, dass sich die deutschen Bischöfe darauf verständigt haben, außergerichtliche Vergleichsverhandlungen abzulehnen und so in der Konsequenz den von sexualisierter Gewalt Betroffenen Klageverfahren mit einem hohen Geld-, Zeit- und Kraftaufwand aufzubürden. Spekulieren sie darauf, dass nur wenige Betroffene ein anstrengendes und aufwühlendes Gerichtsverfahren auf sich nehmen?"

Die Methode der Bischöfe, zunächst "die Aufklärung durch Vertuschung, Verhinderung oder Verzögerung von wissenschaftlichen Untersuchungen" zu behindern und so, "zulasten der Opfer perfide auf Zeit" und jetzt "zunehmend die Verjährungseinrede" einzulegen, "mit dem Hinweis, die Betroffenen hätten ja auch rechtzeitig klagen können", bezeichnet Lüdecke in Kombination mit dem Vorgehen in dem Fall Melanie F. (Anwendung weltlichen statt kirchlichen Rechts), als "Gipfel des Zynismus". Er vermutet, dass nach dem Menne-Urteil im Juni 2023, die Bischöfe einen "finanziellen Aderlass" befürchten und deshalb eine "härtere Gangart" wählen.

Dass das Erzbistum auf das weltliche Recht abstellt und im Fall Melanie F. nicht das kirchliche Recht angewendet wissen will, kritisiert Lüdecke mit scharfen Worten. Er zeigt zunächst auf, dass die Kirche in arbeitsrechtlichen Verfahren auch immer auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht abstellt und bezogen auf den Fall stellt er klar:

"Nicht der Staat bestimmt, was einen Priester ausmacht, wann der im Dienst ist und wann nicht. Sondern das entscheidende Kriterium ist das kirchliche Selbstverständnis, wie es sich aus verbindlichen Lehraussagen ergibt. Und hier ist der Befund eindeutig: Ein Priester ist nicht nur dann Priester, wenn er Sakramente spendet oder predigt. Er ist es immer und überall. Als Pfarrer kann er im Urlaub sein, aber seine Pflichten als Priester pausieren nicht. Deswegen hat er als Seelsorger auch immer ansprechbar zu sein. Das sind eigentlich katholische Binsenweisheiten."

Für Lüdecke steht daher fest:

"Kardinal Höffner hat die Obhut für die Pflegetochter in den Seelsorgeauftrag seines Klerikers mit einbezogen, anschließend aber jegliche begleitenden oder kontrollierenden Maßnahmen unterlassen. Dadurch konnten die Verbrechen erst verübt werden und unbemerkt bleiben."

Völlig irrelevant sei, so Lüdecke, dass Ue. bei seinen ersten Sexualstraftaten noch Diakon (und noch nicht Priester) war, denn: "Mit der Diakonenweihe wird ein Mann Kleriker, unterliegt dem Klerikerrecht und allen Pflichten, die einen Kleriker binden." Zu ergänzen ist lediglich: Als zweite Säule der kirchlichen Amtshaftung tritt der Umstand, dass Ue. beide Klerikerämter (Diakon, Priester) zur Ermöglichung und Begehung seiner Taten ausgenutzt hat, was dem Bundesgerichtshof für eine Amtshaftung genügt. 

Abschließend bewertet der renommierte Kirchenrechtler das Vorgehen der Bischöfe als "moralische Bankrotterklärung" und meint, dass das aktuelle Gerichtsverfahren zeigen werde, "ob der Staat auch Katholiken als Bürger ansieht, die er notfalls gegen die Mammutorganisation Kirche schützen muss, oder ob die Strategie der Bischöfe aufgeht, ihr Gnadenregiment der ,Leistungen in Anerkennung des Leids' wie bisher weiterzuführen".

Gleichwohl beharrt das Erzbistum weiterhin darauf, dass Ue. die Taten in seiner "Freizeit" begangen habe und nicht in Ausübung seines Amts. Die Klägerin bezeichnet diese Ausführungen  als "Schwachsinn". Im Kölner-Stadt-Anzeiger wird weiter ausgeführt:

"Der Missbrauch im Pfarrhaus fand nach ihrer Schilderung 'immer samstags statt, zwischen Beichte und Abendmesse'. Freizeit? Anschließend nahm Ue. auch ihr die Beichte ab: Deine Sünden sind dir vergeben. 'Für mich', sagt Melanie F., 'war er immer Priester. Wir waren – die Kinder des Kaplans.'"

Kritische Worte findet auch einer der Prozessbevollmächtigten von Melanie F.:

"Für eine etwaige Bewertung der Missbrauchsvergehen als Privatangelegenheit des Täters, sagt F.s Anwalt Eberhard Luetjohann grimmig, müsste das Gericht schlüssig 'die logische Sekunde' bestimmen, in der die Privatperson Ue. in die Haut des Priesters Ue. schlüpfte – und umgekehrt.''

Das Gericht indes scheint bislang noch nicht von ihrer von rechtswissenschaftlicher Seite so scharf kritisierten Ansicht gänzlich abgerückt zu sein. Die Kammer möchte morgen nämlich durch die Einvernahme des Berliner Erzbischof Heiner Koch klären, ob er die Aussage der Klägerin, "dass sie schon im Priesterseminar in einem Zimmer mit Ue. übernachtet hat", bestätigen kann. Dabei kommt es darauf vor dem Hintergrund des maßgeblichen Amtsverständnisses der Kirche gar nicht an.

Unmittelbar vor dieser Verhandlung wird noch ein weiterer Fall sexuellen Missbrauchs verhandelt: Die Klägerin ist eine heute 38-jährige Frau und damaligen Messdienerin aus Köln. Sie hat in der Klageschrift dargelegt, dass sie von einem ehrenamtlichen Betreuer über vier Jahre lang missbraucht worden sei. Der Betreuer sei damals 18 Jahre alt gewesen sein und habe eine Gruppe von Kindern im Alter von sechs bis zehn Jahren betreut. Die Klägerin selbst sei zu Beginn der Taten sechs Jahre alt gewesen.

Mit Beschluss vom 27.01.2025, der dem ifw vorliegt, wies das Landgericht Köln darauf hin,  dass das beklagte Erzbistum Köln auch für das Handeln von ehrenamtlichen Mitgliedern als sog. Verwaltungshelfer haftet (hier, hier und hier).

Das Erzbistum wehrt sich gleichwohl auch in diesem Fall weiterhin anwaltlich gegen eine Haftung, wie der Kölner-Stadt-Anzeiger heute berichtet:

"Zum einen sei die Messdienerarbeit Sache der jeweiligen Gemeinden, nicht des Bistums. Klägerinnen-Anwalt Luetjohann nennt diese Trennung der Organisationsebenen 'absurd'. Zum anderen wollen die Anwälte des Bistums den Begriff 'Seelsorge' unter Zuhilfenahme einschlägiger Online-Lexika auf die persönliche geistliche Begleitung beschränkt wissen. Ein Messdienerleiter sei demzufolge kein Seelsorger. Und auch die Tätigkeit als Messdiener oder Messdienerin selbst falle nicht in den Bereich der Seelsorge. Auf der ganzen Welt hielten Priester regulär Gottesdienste ab, ohne dass Ministranten ihnen am Altar assistierten.

Wenn schon nicht den vom Bistum beauftragten Juristen, so müssten solche Argumente zumindest den verantwortlichen Theologen die Schamesröte ins Gesicht treiben. Die kirchenamtlichen Ausführungen auch aus dem Erzbistum Köln zur Ministrantenarbeit als Wesenselement katholischer Kinder- und Jugendseelsorge sind Legion."