Klerikaler sexueller Missbrauch: Die Schmerzensgeldklage von Jens Windel

Sachverhalt

Jens Windel wird 1983-1985 im Alter von 9 bis 11 Jahren in über 90 Fällen vom katholischen Pastor Christian S. – in ca. 30 Fällen schwer – sexuell missbraucht. Alle Missbräuche fanden unter Ausnutzung des priesterlichen Verhältnisses in der Pfarrei statt. Kennengelernt haben sich der damals 9-Jährige Jens Windel und sein späterer Peiniger, der damalige Pfarrer Christian S., im Rahmen des Religionsunterrichts in der Grundschule in Sorsum, dort gewann S. Jens Windel für die Messdienerschaft. In diesem Zusammenhang kam es zu den Taten.

Jahrzehnte später kommen die Erinnerungen bei Windel zurück, und er erleidet eine Retraumatisierung, die ihn für einige Jahre arbeitsunfähig macht, was naturgemäß zu erheblichen Einkommenseinbußen führte. Windel kämpft sich zurück ins Leben und vor allem in einen Beruf – wenngleich nicht mehr seinen ursprünglichen als Pflegedienstleiter, was er sehr bedauert. Nach wie vor kämpft er mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung, schweren Depressionen und vielem mehr.

Sein Therapeut überzeugt ihn, beim Bistum Hildesheim einen Antrag auf Anerkennung seines Leids zu stellen. Mit Unterstützung des Therapeuten geschieht das. Kommentarlos überweist das Bistum an Windel 1.000 Euro. Jens Windel ist darüber entsetzt, bricht zusammen: "1000 Euro war ich wert!" – und er teilt seine Empfindung dem Bistum mit. Es folgt eine weitere Überweisung in Höhe von 6.000 Euro. Letztlich erhält Jens Windel 50.000 Euro im Rahmen des seitens der Deutschen Bischofskonferenz ins Leben gerufene sog. Verfahrens zur Anerkennung und Leid (UKA-Verfahren).

Das Thema lässt ihn nicht los, über die Medien ist er immer wieder mit Fällen klerikalen Missbrauchs und dem unempathischen Umgang der Kirche mit den Missbrauchsbetroffenen konfrontiert, weshalb er 2019 eine Betroffeneninitiative in Hildesheim gründet. 2020 wird er Mitglied im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz.

Im Laufe der Zeit stellt sich heraus, dass Christian S. Mehrfachtäter ist und bereits vor den Missbrauchstaten an Windel vor 1961 von Bischof Heinrich Maria Jansert versetzt worden war.

In einer Pressekonferenz am 14.09.2021 anlässlich der Übergabe der Studie zur sexualisierten Gewalt im Bistum Hildesheim würdigt Bischof Heiner Wilmer ausdrücklich den Kläger als Betroffenen und dankt ihm für die Gründung der Hildesheimer Betroffeneninitiative.

Im außergerichtlichen Vorverfahren aber, und das hat Jens Windel wiederum sehr getroffen, streitet das Bistum die Missbrauchstaten gleichwohl ab und weist den Kläger darauf hin, dass er für die Taten vollumfänglich beweispflichtig sei. Außergerichtliche Vergleichsverhandlungen werden vom Bistum abgelehnt.

Verfahrensstand

Am 27.05.2024 erhebt Jens Windel gegen das Bistum Hildesheim Klage vor dem Landgericht Hildesheim und beantragt, die Beklagte auf Zahlung von mindestens 400.000 Euro Schmerzensgeld zu verurteilen sowie auf Feststellung, dass auch zukünftige materielle und immaterielle Schäden ersetzt werden müssen. Vertreten wird der Kläger von Rechtsanwalt Christian Roßmüller, der bereits gemeinsam mit Kollegen im erfolgreichen Schmerzensgeldverfahren von Georg Menne den Prozess geführt hat.

Zum Missbrauchssachverhalt werden in Windels Klage die Ausführungen, die im Anerkennungsverfahren gemacht wurden, wiederholt und die Beklagte wird daran erinnert, dass sie das Leid des Klägers bereits rechtlich verbindlich durch die Zahlungen an den Kläger und die öffentliche Bezeichnung von ihm als Betroffener anerkannt habe. Vorgreiflich wird auch dargelegt, warum ein etwaiges Berufen auf die Einrede der Verjährung aufgrund der perfiden Vorgehensweise von Täter und Kirche rechtsmissbräuchlich wäre. Die katholische Kirche hat nämlich systematisch Vertuschung betrieben und der Täter hat seinem Opfer das Schweigen sakral auferlegt.

In der Replik im August 2024 beantragt das Bistum, die Klage abzuweisen.  

Zunächst widerspricht die Beklagte dem Kläger in seiner Einschätzung, dass sie die erlittenen Missbräuche bereits rechtlich verbindlich durch ihre Zahlungen anerkannt habe. Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Zahlungen alle freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht erfolgt seien und verweist diesbezüglich auf einen Passus aus der "Verfahrensordnung zur Anerkennung es Leids".

Die Ablehnung einer außergerichtlichen Vergleichsverhandlung begründet die Beklagte damit, dass dadurch das UKA-Verfahren beschädigt und entwertet würde.

Darüber hinaus bestreitet sie, dass die seitens des Klägers behaupteten Missbrauchssachverhalte ausschließlich im kirchlichen Kontext erfolgt seien und führt aus, dass entscheidend sei, ob die Taten im kirchlichen Kontext oder im Rahmen einer schulischen Tätigkeit stattgefunden haben. Hintergrund dieses Einwands ist, dass der Kläger von Christian S. im Religionsunterricht in der Grundschule unterrichtet wurde.

Ferner bestreitet sie, dass der Kläger den Sachverhalt verdrängt habe, und hinsichtlich der vom Kläger mitgeteilten Diagnosen und Einschränkungen und insbesondere auch eine Ursächlichkeit der Missbrauchstaten.

In rechtlicher Hinsicht negiert sie einen Amtshaftungsanspruch, da sie in dem Verhalten des Priesters kein hoheitliches Handeln in Ausübung eines öffentlichen Amts erblickt. Außerdem hält sie die Forderung in Höhe von 400.000 Euro für die behaupteten Taten für "übersetzt" und bringt zum Ausdruck, dass es auch die ausgeurteilte Summe des LG Köln von 300.000 Euro im Fall Menne für zu hoch hält.

Abschließend erhebt sie die Einrede der Verjährung und argumentiert unter Bezug auf eine Entscheidung des LG Aachen, dass dieses Prozessverhalten nicht treuwidrig sei. Sie hebt insbesondere hervor, dass die Kommission, die die Anerkennungszahlungen bewilligt hat, ein unabhängiges und weisungsfreies Gremium sei und daher auch keine rechtsverbindlichen Erklärungen für die Beklagte abgeben könne.

Im Oktober 2024 repliziert der Kläger. Dort betont er u.a., dass die jahrelange öffentliche Bezeichnung des Klägers als Betroffener dazu führt, dass die Beklagte ihm die Opfereigenschaft nicht mehr aberkennen könne. Ferner geht er auf das pauschale Bestreiten der Beklagten ein und legt dar, dass eine Auszahlung von 50.000 Euro nur erfolgt, wenn die Tatschilderungen objektiven Tatsachen nicht widerspricht und im Übrigen bei Würdigung aller Umstände eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für ihre Richtigkeit spricht, weshalb die Beklagte, so der Kläger, nur qualifiziert bestreiten könne. Die erlittenen Schäden sieht er mittels bereits im Rahmen des UKA-Verfahrens vorgelegen Attesten als bestätigt an.

Neben dem Umstand, dass es sich um "Messdienerfälle" handelt, die das LG Köln dem Amtshaftungsrecht zugeschlagen hat, begründet der Kläger die Amtshaftung zudem mit der eigenen Pflichtverletzung durch die Leitungsebene des Bistums. Denn diesem sei die pädophile Neigung des Christian S. bereits – und zwar nicht nur gerüchteweise – bekannt gewesen, wie der Kläger ausführlich darlegt. Er schildert einen Missbrauchsfall von 1961, der dem Bistum bekannt geworden ist. Wären dort Vorkehrungen getroffen worden, so der Kläger, wäre die gesamte Tatserie auch zu seinem Nachteil unterblieben. In der Unterlassung entsprechender Vorkehrung erblickt der Kläger eine Dauerpflichtverletzung der Leitungsebene des Bistums Hildesheim.

Im Hinblick auf die angebliche Verjährung betont der Kläger, dass sich die Treuwidrigkeit der Erhebung aus dem Gesamtbild ergebe. Das Bistum verhalte sich widersprüchlich, in dem es mehrfach und immer wieder den Kläger als Missbrauchsopfer würdigt und mit ihm sogar Werbung für die kirchliche Aufarbeitungsarbeit mache und anderseits aber die Einrede der Verjährung erhebe. Abschließend weist der Kläger noch darauf hin, dass der Rechtsträger der UKA der Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) ist und erläutert diesen Umstand – und dass die Bistümer das offenbar verschleiern wollen – umfassend.

Durch die Anerkennung seitens der UKA, so der Kläger, habe die VDD mit Wirkung für die Beklagte noch im Jahr 2023 ein Anerkenntnis gegeben, wodurch die Verjährung unterbrochen worden und daher schon gar keine Verjährung eingetreten sei. Ferner sei die Verfahrensordnung als AGB zu verstehen und der Passus, dass es sich um freiwillige Leistungen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht handle, sei unwirksam, weil sie den Kläger unangemessen benachteilige.

Hierauf erwidert die Beklagte am 06.11.2024 und wiederholt und vertieft im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen. Ausdrücklich bestreitet die Beklagte nunmehr auch die Schilderungen des Klägers zu einzelnen Missbrauchsgeschehnissen, die dieser bereits im UKA-Verfahren vorgetragen hat. Sie beantragt zudem gegenbeweislich für die seitens des Klägers behaupteten Schäden ein Sachverständigengutachten einzuholen. Außerdem betont die Beklagte, dass es sich bei dem VDD um eine eigenständige Rechtspersönlichkeit handle, die personenverschieden von dem beklagten Bistum sei. Die Verfahrensordnung des VDD sei keine AGB und selbst wenn, so die Beklagte, läge jedenfalls keine unangemessene Benachteiligung vor.

In der mündlichen Verhandlung vom 08.11.2024 beschließt das Landgericht, dass die Parteien mit ihrem Einverständnis für den Versuch einer gütlichen Einigung an einen Güterichter des Landgerichts Hildesheim verwiesen werden. Ferner wurde das Ruhen des Verfahrens angeordnet.

Rechtliche Würdigung

Die Argumente des Klägers überzeugen. Das Verhalten des Bistums ist widersprüchlich iSd § 242 BGB. Einerseits werden in einem auch vom Bistum ins Leben gerufene streng formalen UKA-Verfahren Leistungssummen festgelegt und andererseits wird behauptet, mit einer Zahlung – in dem Fall in Höhe von 50.000 Euro – sei keine Anerkennung im rechtlich verbindlichen Sinne verbunden. Berücksichtigt man, dass die Kirche verpflichtet ist, ihre Gelder pflichtgemäß zu verwalten, liegt auf der Hand, dass derartige Summen nicht ohne einen entsprechenden Rechtsanspruch ausgeschüttet werden können, ohne sich in die Gefahr zu begeben, ggf. den Straftatbestand der Untreue zu erfüllen. Im Fall von Jens Windel kommt hinzu, dass das Bistum den Kläger mehrfach medienwirksam gerade als Betroffenen und Opfer der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Mithin hat die Beklagte den Kläger in ihre Öffentlichkeitsarbeit im Hinblick auf ihre angeblichen Aufklärungsbemühungen eingebunden. Nunmehr bestreitet sie aber jegliche Missbrauchssachverhalte in der Sache und negiert so die Betroffeneneigenschaft und Opferstellung des Klägers. Widersprüchlicher kann man sich kaum verhalten. Daher ist dem Grunde nach von einem Anerkenntnis auszugehen, das heißt, die Ansprüche sind schon gar nicht verjährt. Selbst wenn man das anders sehen würde, wäre das Berufen auf eine etwaige Verjährung aber aus den vom Kläger dargelegten Gründe rechtsmissbräuchlich.

Es wäre wünschenswert, dass sich die Parteien im Wege der Güteverhandlung einigen. Auch sollte, worauf ifw-Direktor und Juraprofessor Jörg Scheinfeld gemeinsam mit seinem Kollegen Stephan Rixen eindringlich im März 2024 hingewiesen haben, die Kirchen zukünftig außergerichtliche Vergleichsverhandlungen führen, um den Betroffenen ein anstrengendes und aufwühlendes und zudem mit hohen Kosten verbundenes Gerichtsverfahren zu ersparen. In ihrem Beitrag in der Legal Tribune Online führen die beiden Rechtswissenschaftler u. a. aus:

"Das Verweigern außergerichtlicher Verhandlungen ist in den Fällen klerikaler Sexualstraftaten, die viele Bistümer in der Vergangenheit zu vertuschen bestrebt waren, als treuwidrig (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) zu qualifizieren. Dies folgt schon aus dem katholischen Kirchenrecht (Codex Iuris Canonici – CIC), das der außergerichtlichen Streitbeilegung den Vorrang einräumt: 

Canon 1446 — § 1. Alle Gläubigen, vor allem aber die Bischöfe, sollen eifrig bemüht sein, daß Rechtsstreitigkeiten im Gottesvolk ohne Beeinträchtigung der Gerechtigkeit nach Möglichkeit vermieden und baldmöglichst friedlich beigelegt werden.  

Unter der Überschrift "Abwendung von Gerichtsverfahren" heißt es zudem:  

Canon 1713 — Zur Vermeidung gerichtlicher Streitigkeiten ist es zweckmäßig, einen Vergleich, d. h. eine gütliche Beilegung herbeizuführen; der Rechtsstreit kann auch einem oder mehreren Schiedsrichtern übertragen werden. 

Die Kirche verhält sich widersprüchlich im Sinne des § 242 BGB, wenn sie außergerichtliches Verhandeln für den eigenen (kirchlichen) Rechtskreis verlangt, es aber ablehnt zu verhandeln, wenn es um Rechtsstreitigkeiten im staatlichen Rechtskreis geht – zumal die Streitigkeiten ihren Ursprung in der Verantwortungssphäre der Kirche haben. Zur Verdeutlichung: Wenn eine Person, die in der katholischen Kirche getauft wurde und somit nach kirchlichem Selbstverständnis unabänderbar zum Volk Gottes gehört (canon 204 § 1 CIC), einen kircheninternen Rechtsstreit führen müsste, dürfte sie sich auf den kirchenrechtlichen Vorrang außergerichtlicher Streitbeilegung berufen. Das soll aber nicht mehr gelten, wenn es um einen rechtlichen Konflikt geht, der dem staatlichen Rechtskreis zugeordnet ist, obgleich sich dieselben Parteien gegenüberstehen.  

Richtigerweise gilt der Vorrang außergerichtlicher Streitbeilegung auch hier: Den von sexualisierter Gewalt Betroffenen würde ansonsten die Chance genommen, sich vor erwartbaren Traumatisierungen zu schützen, die in einem öffentlichen Gerichtsverfahren vor einem staatlichen Gericht leicht eintreten können. Die außergerichtliche Streitbeilegung hilft, solche (Re-)Traumatisierungen zu vermeiden."