Rezension zu Elias Bornemann: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates
Elias Bornemann, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, Tübingen 2020
Rezension von Dr. Gerhard Czermak, Friedberg/Bayern
Die in der Reihe Jus Ecclesiasticum bei Mohr Siebeck kürzlich erschienene Dissertation verdient die Aufmerksamkeit des Fachpublikums. Vorangegangen sind die einschlägigen Monografien von Klaus Schlaich (1972), vor allem Stefan Huster (2002) und Elmar Busse (2013). Daneben bedeutsam ist auch die Untersuchung von Joost-Benjamin Schrooten zum Thema "Gleichheitssatz und Religionsgemeinschaften" (2015), denn das Gleichheitsgebot ist wohl der Kern der religiös-weltanschaulichen Neutralität (Einführung in den Neutralitätsbegriff: https://weltanschauungsrecht.de/neutralitaet).
Bornemann trägt insoweit zur Klärung einer insgesamt sehr verworrenen Diskussion bei, weil er die vielfältigen juristischen Aussagen und teilweise recht konträren Konzepte darstellt, kritisch analysiert und dabei auch die vielen Erörterungen der letzten Jahre berücksichtigt. Der speziell daran Interessierte mag die recht instruktiven rechtshistorischen Ausführungen bis zur Kruzifix-Entscheidung des BVerfG von 1995 überschlagen (S. 21-54). Als Überlegungen im Vorfeld sind die Positionen der politischen Philosophie (S. 54-90) nützlich und gut zu lesen, aber zur juristischen Erörterung verzichtbar. Etwas enttäuscht haben den Rezensenten die - zudem schwer lesbaren - "Rechtswissenschaftlichen Annäherungen" und "dogmatischen Vorüberlegungen" (S. 90-122). Als Ziel der Arbeit wird überraschend angegeben, es solle kein eigenes Neutralitätskonzept vorgelegt werden. Vielmehr solle zunächst die Deutungsoffenheit des Neutralitätsbegriffs durch Erfassung und Ordnung des Spektrums der Konzepte abgemildert werden. Die theoretischen Hintergründe und Einflüsse der Neutralitätskonzepte sollen klargestellt werden. Die ebenfalls angekündigte Erörterung auch unzulässiger außerverfassungsrechtlicher Einflüsse ist aber leider nicht erfolgt. Bornemann versteht die religiös-weltanschauliche Neutralität als "Schlüsselbegriff" des Religionsverfassungsrechts. Dass man diesen inhaltlich an das gesamte Religionsverfassungsrecht anbinden müsse und nicht nur an die vom BVerfG seit 1965 ständig zitierte Normenkette, leuchtet dem Rezensenten nicht ein. Dies schon deswegen nicht, weil der Verfasser dann einen eigenen zumindest vorläufigen Begriff von Neutralität haben müsste. Man kann nicht über vielfältige Probleme eines Rechtsbegriffs sprechen, ohne diesen wenigstens ansatzweise zu definieren (zum Ganzen S. 100). S. 106 behauptet Bornemann im Zusammenhang mit dem normtheoretischen Charakter des Neutralitätsgrundsatzes, anhand des Neutralitätsbegriffs werde das Verhältnis von Staat und Religion bzw. Weltanschauung bestimmt. Es verhält sich aber, wie ich meine, genau umgekehrt. Eine Folge der begrifflichen Unentschiedenheit Bornemanns ist es wohl, wenn er zu Art. 4 GG als Freiheitsrecht erklärt, die Neutralität stelle eine Grenze dar, bis zu welcher der Staat "objektive" Anforderungen stellen dürfe. Was aber der von Bornemann erörterte Schutzbereich und die Eingriffsintensität mit dem wie auch immer verstandenen Neutralitätsbegriff zu tun haben können, erschließt sich mir nicht.
Der Hauptteil der anspruchsvollen Arbeit befasst sich auf den S. 123-250 sehr informativ mit zahlreichen juristischen Konzepten zur religiös-weltanschaulichen Neutralität. Ca 50 S. sind der "klassischen" Unterscheidung zwischen negativer und positiver Neutralität gewidmet. Zu Recht bezeichnet Bornemann für die Zeit um die Jahrtausendwende Ludwig Renck als "Zentralgestalt negativer Neutralitätsverständnisse". Er beschreibt Rencks Gemeinsamkeiten und Abweichungen im Verhältnis zu anderen Vertretern negativer Neutralitätsverständnisse. Aufgestoßen ist mir die Passage, an Erwin Fischer erinnere Rencks Unterscheidung zwischen religionsfeindlichem Laizismus und einer "angeblichen Laizität" des Grundgesetzes (S. 142). Zum einen ist unverständlich, wieso das GG nicht der Laizität verpflichtet sein soll (es statuiert ja keine insgesamt strikte Trennung von Staat und Religion), zum anderen bezieht Bornemann damit (unklar) Position, was seine Arbeit ansonsten erklärtermaßen vermeidet.
Erfreut nimmt der Rezensent zur Kenntnis, dass Bornemann seinem Neutralitätsverständnis eine "dogmatische Neustrukturierung" in Absetzung von Fischer und Renck bescheinigt (S. 145) und es als "kohärentes dogmatisches Modell" bezeichnet (S. 147). Es sei auch "durchaus komplex" (S. 149). Alle negativen Neutralitätskonzepte seien nach dem GG im Grundsatz (bei einigen Ausnahmen) möglich, aber nicht ausreichend leistungsfähig. So könnten sie die Kritik am kirchlichen Arbeitsrecht nicht mit einem negativen Neutralitätsverständnis begründen. Entsprechendes gelte für Ausnahmen von staatlichen Ge- und Verboten, beim Schutz vor säkularen staatlichen Maßnahmen wie Schächtverbot oder Zwang zum Sexualkundeunterricht. Diese Kritik verfängt aber nicht. Denn zu all diesem braucht man nicht zwingend einen Neutralitätsbegriff: es geht beim Selbstverwaltungsrecht um die Kompetenz-Kompetenz des Staats, ansonsten um die Religionsausübungsfreiheit. Auch in der religionsoffenen Schulproblematik vermag ich kein Leistungsdefizit zu erkennen. Beim staatlichen Schulkreuz reicht der allen Neutralitätsentwürfen eigene Hinweis auf das Identifikationsverbot, bei Fördermaßnahmen reicht der Hinweis auf das Gleichheitsgebot. Das Problem liegt vielmehr darin, dass sich Bornemann selber nicht darüber im Klaren zu sein scheint, welche Funktion der Neutralitätsbegriff erfüllen soll.
Der folgende Abschnitt behandelt die hauptsächlich vertretene, in sich unterschiedliche, "positive Neutralität". Die Gegenüberstellung von positiver und negativer Neutralität suggeriere eine umfassende Frontstellung, die es so nicht gebe. Das bei den Vertretern der positiven, offenen Neutralität offenbar große Bedürfnis, zu erklären, was religiös-weltanschauliche Neutralität nicht ist, möge dadurch zu erklären sein, dass die juristische Debatte stark durch außerjuristische Debatten beeinflusst werde. Es gehe bei der Unterscheidung der beiden Hauptrichtungen hauptsächlich darum, wie weit Religion in den öffentlichen bzw. staatlichen Raum hineinwirken und dabei vom Staat unterstützt werden darf. Bei der positiven Neutralität unterscheidet Bornemann drei Grundtendenzen. Als Beispiel für ein moderates Verständnis hebt er das Werk von Hermann Weber hervor, dessen Ansatz starke Parallelen zu den (späteren) Arbeiten von Renck und Czermak aufweise. Eine Strömung grundsätzlicher Offenheit versteht demgegenüber die grundgesetzlich vorgesehenen Berührungen von Staat und Religion nicht als Systemwidrigkeiten, sondern als Ausdruck einer Grundhaltung. Eine weitere Richtung verlangt aktive Fördermaßnahmen des Staats, positive Religionspflege. Als Erkenntnis hierzu hält Bornemann u. a. fest, die Unklarheiten des Neutralitätsgebots seien auch Resultat konzeptioneller Schwächen. Sein normtheoretischer Charakter sei ungeklärt. Der Aussagegehalt der positiven Neutralität, im Zweifel für Religion zu entscheiden, bleibe schwammig.
Die Arbeit befasst sich dann mit dem einflussreichen Konzept der bereichsspezifischen Ausgestaltung, das zwischen negativer und positiver Neutralität vermittelt. Es wurde maßgeblich von Ernst-Wolfgang Böckenförde geprägt. Demnach ist zu unterscheiden zwischen dem Bereich der ursprünglichen hoheitlichen Entscheidungsfunktionen (distanziert-negative Neutralität, Nicht-Identifikation) und staatlich-gesellschaftlichen Lebensbereichen (offen-positive Neutralität).
Bemerkenswert ist schon die Überschrift eines größeren Abschnitts: "Die Möglichkeit neutralitätskonformer Privilegierungen". Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass manche Religionen von staatlichen Ge- und Verboten härter getroffen werden als andere und staatliche Angebote nicht für alle Religionsgemeinschaften interessant sind. Es geht also um gerechte Zuteilung. Jeder staatliche Umgang mit Religion könne aus irgendeinem Blickwinkel als Privilegierung dargestellt werden. Als Fallgruppen benennt Bornemann die Bevorzugung entsprechend der kulturstabilisierenden Leistung, die Verbreitung und gesellschaftliche Relevanz, die Förderung strukturschwacher Bekenntnisse und die Förderung von Minderheiten, die der Mehrheitskultur besonders zugewandt sind. Hierarchisierungsmodelle mit der Grundidee, dass von religiösen Institutionen im Hinblick auf ihre Förderung die Übernahme positiver gesellschaftlicher Verantwortung verlangt wird, lehnt Bornemann mit sehr eingehender Begründung überzeugend ab. Beim Maßstab der gesellschaftlichen Relevanz sieht Bornemann zu Recht das vielfältige Problem, wie diese gemessen werden solle. Auch die beiden letzten, Minderheiten betreffende Modelle, seien problematisch.
Große Beachtung erfährt in dem Buch das Modell der Begründungsneutralität von Stefan Huster (S. 219-242), das dem Verfasser offenbar sehr sympathisch ist und auch als leistungsfähig bezeichnet wird. In wichtigen Punkten werde es zu Unrecht angegriffen. Schwachpunkt sei die geforderte Neutralität der Begründung, denn einen wirklich neutralen Grund gebe es niemals.
In einem weiteren Abschnitt befasst sich Bornemann mit der Position des Verzichts auf den Neutralitätsbegriff, weil dieser keinen eigenständigen Inhalt habe, und der Position derer, die den Begriff auch bei fehlendem eigenem Gehalt beibehalten wollen, weil er heuristischen Wert habe. Im Schlusskapitel wird darauf hingewiesen, dass die Diversität der Neutralitätsverständnisse dem Thema zwangsläufig inhärent sei. Der Verfasser versteht Neutralität als zentrale Strukturbestimmung, mit der konkrete Interessen und Ordnungsvorstellungen verbunden seien. Die vorgestellten Neutralitätskonzepte erfassten ihre Thematik jeweils nur unzureichend, auch wegen der Vielfältigkeit der Religionen und Weltanschauungen. Trotz aller Irritationen werde Neutralität als Rechtsbegriff und Identitätsmerkmal des Grundgesetzes weiterhin von überragender praktischer Bedeutung sein.
Meine Gesamtwürdigung des Buches beginnt mit dem umfassenden Titel der Arbeit, "Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates". Er lässt auf eine Weiterentwicklung des immer noch stark umstrittenen Neutralitätsbegriffs unter Vermeidung bisheriger Defizite und Fehlvorstellungen hoffen. Mit oft großem Scharfsinn analysiert und kategorisiert Bornemann die vielen Meinungsgruppen und arbeitet auch feine Unterschiede heraus. Eine eigene Position bezieht er aber fast nie. Er kommt zu dem bedauerlichen Ergebnis, all die behandelten Meinungsgruppen seien mehr oder weniger unzureichend und trügen mehr zur Verwirrung als zur inhaltlichen Klarstellung bei. Wer nun meint, irgendwann müsse doch, angesichts des Buchtitels und nach fast ausufernder Vorarbeit, ein systematisches, konkret brauchbares eigenes Konzept wenigstens ansatzweise vorgestellt werden, sieht sich bitter enttäuscht.
Die eigene Position des Autors besteht nämlich nur in der These, der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität sei ein "Grundsatz ohne eigenen Gehalt", wie es in der einschlägigen Abschnittsüberschrift heißt (S. 243). Gemeint ist wohl, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität keinen Inhalt hat, der über die expliziten Regelungen des GG hinausgeht. Andererseits gehe es bei der Frage nach dem selbständigen Gehalt des Neutralitätsgebots um die Weite der objektivrechtlichen Bindung des Staates. Letztlich bleibt aber auch insoweit die Position Bornemanns in der Schwebe. Da er vom Mehrwert seiner Untersuchung überzeugt ist, hätte es ihm angesichts der Fülle seiner theoretischen Überlegungen nicht allzu schwerfallen sollen, wenigstens die Umrisse eines eigenen Konzepts vorzulegen. Dass das auch auf relativ knappem Raum möglich ist, hat Horst Dreier in seinem Buch "Staat ohne Gott" (2018) mustergültig bewiesen (https://weltanschauungsrecht.de/horst-dreier-staat-ohne-gott ). Leider hat Bornemann es nur in seinem umfangreichen Literaturverzeichnis aufgeführt, es aber nicht inhaltlich ausgewertet.
Bornemann wirft eine Fülle von Fragen auf und gibt Denkanregungen. Der beachtlich umfangreiche wiss. Apparat ist bemerkenswert aktuell. Spezialisten werden die Arbeit mit Gewinn heranziehen. Dennoch: eine Chance wurde vertan.
LINK zum Buch
Elias Bornemann: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates (Jus Ecclesiasticum), Tübingen 2020, geb., 206 S. EUR 89.- ISBN-13: 978-3161592386