Rezension zu Isemeyer (Hg.): Wofür es sich zu streiten lohnt: Humanismus
von Hartmut Kreß
Im Jahr 2025 ist im Auftrag des Humanistischen Verbands Berlin-Brandenburg aus besonderem Anlass ein interessantes Buch herausgegeben worden: Vor 120 Jahren wurde der Vorläufer des Humanistischen Verbands gegründet, der Berliner Verein der Freidenker für Feuerbestattung. Das Buch widmet sich drei Schwerpunkten. In 15 Aufsätzen behandelt es die in die Antike zurückreichenden historischen Hintergründe von Humanismus und Freidenkertum, die Entstehung der humanistischen Bewegungen in Berlin im 19. Jahrhundert sowie ihre Entwicklung seit dem 20. Jahrhundert – mit Ausblicken auf aktuelle Fragen und Herausforderungen.
I.
Der direkte Vorläufer des jetzigen Humanistischen Verbands Berlin-Brandenburg sind dem Buch zufolge die Berliner Freidenker für Feuerbestattung. Im Jahr 1932 besaß deren Nachfolgeorganisation, der Deutsche Freidenker-Verband, 660.000 Mitglieder (S. 7). Der Entwicklung der Feuerbestattung widmet sich der Beitrag, den der Herausgeber des Buches Manfred Isemeyer geschrieben hat (S. 131–154). Hiermit leitet er den dritten Teil des Buches ein, der die Geschichte des Freidenker- und Humanistenverbands während des langen 20. Jahrhunderts darstellt. Der Aufsatz bringt in Erinnerung, dass heutige Kremationen 1874 durch eine Erfindung von Friedrich Siemens möglich wurden, sodass seitdem nicht mehr von Leichenverbrennung, sondern von Feuerbestattung die Rede ist (S. 134 f.). In Berlin kamen Feuerbestattungen ärmeren Bevölkerungsgruppen zugute. Daher gründeten die Freireligiösen 1905 den "Sparverein für Freidenker zur Ausführung der Feuerbestattung", der 1911 in "Verein der Freidenker für Feuerbestattung" und 1930 in "Deutscher Freidenker-Verband e.V." umbenannt wurde (S. 143, S. 147, S. 153). In der Weimarer Republik entwickelte sich die Hilfskasse zu einer Weltanschauungsgemeinschaft, die sich u.a. für weltliche Schulen ohne Religionsunterricht einsetzte. – Auf den dritten Teil des Buches, der das 20. Jahrhundert und die Gegenwart betrifft, wird später nochmals zurückzukommen sein.
II.
Zunächst sei auf den zweiten Buchteil geblickt, der unter die Überschrift gestellt worden ist: "Die Entstehung von freireligiösen, ethischen und freidenkerischen Oppositionsbewegungen im 19. Jahrhundert" (S. 83–127). Er enthält einen Beitrag zur Statistik der Konfessionsfreien in Berlin und im Deutschen Reich seit 1864. In Berlin waren im Jahr 1880 1.241 Personen, im Jahr 1895 bereits 6.030 Personen ohne Religion – aber dies waren immer noch nur 0,36 % der Bevölkerung (S. 86 f.). Inzwischen machen Religions- und Konfessionsfreie bekanntlich die Mehrheit der Bevölkerung aus. Bemerkenswert ist eine vom Verfasser des Beitrags, Carsten Frerk, wiedergegebene EMNID-Umfage aus dem Jahr 2016, der zufolge eine übergroße Mehrheit der Berliner Bevölkerung (77 %) eine nichtreligiöse säkulare Weltanschauung teilt, so wie sie vom heutigen Humanistischen Verband vertreten wird (S. 93 f.). Dies belegt, welch hohe gesellschaftliche Bedeutung der Humanistische Verband besitzt, obwohl die Zahl seiner formalen Mitglieder an diejenige seines Vorläufervereins in der Weimarer Republik nicht heranreicht.
Die beiden weiteren Aufsätze des zweiten Buchteils (von Olaf Schlunke, S. 98 ff., und Horst Groschopp, S. 116 ff.) gehen der vielschichtigen Organisations- und Geistesgeschichte freidenkerisch-humanistischer Strömungen im 19. Jahrhundert nach, die sich für kirchen- und religionskritische, demokratische, rechtsstaatlich-liberale und für soziale Anliegen einsetzten. Wichtig war 1887 die Gründung der Humanistischen Gemeinde Berlin. Sie engagierte sich u.a. für eine eigene Freibibliothek oder für einen Unterricht in Lebenskunde und stand in enger Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur. Mit deren Ideen der Sozialethik und der Kirchenkritik und mit der dort diskutierten Konzeption einer weltlichen Schule gab es große Schnittmengen.
III.
Mit der älteren Kultur- und Geistesgeschichte des Humanismus beschäftigt sich der erste Buchteil, der – von vier Autoren geschrieben – inhaltlich sehr weit ausgreift (S. 17–81). Der Philologe Hubert Cancik erwähnt, dass der Begriff "Humanismus" auf eine Publikation des Philosophen, Theologen und Bildungspolitikers Immanuel Niethammer aus dem Jahr 1808 zurückzuführen ist (S. 19); und der Religionswissenschaftler Horst Junginger geht auf den Ursprung des Begriffs "Freidenker" bei dem englischen Aufklärungsphilosophen John Toland (1670–1722) ein (S. 48). Für eine humanistische Lebens- und Weltanschauung sind die Individualität und Selbstbestimmung der Menschen, ihre Gleichheit, die Menschenwürde und der weltimmanente kulturelle Kontext des Menschseins maßgebend (s. auch Ralf Schöppner, S. 62 ff.; Julian Nida-Rümelin, S. 75 ff.). Vorläufer solcher Leitvorstellungen waren bereits im Alten Orient und in der Antike anzutreffen. Darüber hinaus lassen sich die Renaissance und die Aufklärung als Quellen heutigen humanistischen Denkens verstehen. Indem der erste Buchteil dies vor Augen führt, bietet er eine kurzgefasste, erhellende Geistes- und Philosophiegeschichte der Humanitätsidee.
IV.
Nun ist auf den dritten Teil des Bandes zurückzukommen. Er wird eingeleitet mit dem schon erwähnten Aufsatz über die Feuerbestattung als Auslöser für die Gründung des Freidenker-Verbandes, also des Vorläufers des heutigen Humanistischen Verbands. Weitere Artikel schildern, wie stark die Freidenkerbewegung in der Weimarer Republik expandierte. Sie fand vor allem bei Arbeiter*innen und kleinbürgerlichen Mittelständlern Resonanz (Katharina Neef, S. 158). Das nationalsozialistische Regime verbot den Verband sogar schon früher als die Gewerkschaften und die SPD und bereitete den von Freidenkern befürworteten und von ihnen getragenen weltlichen Schulen ein Ende. Verschiedene Freidenker setzten sich gegen das NS-Regime zur Wehr. Aufgrund seines Engagements für verfolgte jüdische Mitbürger ist der Humanist Walter Rieck (1885–1974), bis 1933 Rektor einer weltlichen Schule, in der Gedenkstätte Yad Vashem namentlich gewürdigt worden (Michael Schmidt, S. 168 f., S. 174 f.).
Sodann bietet Teil 3 des Buches Einblicke in Entwicklungen der humanistischen Bewegung in der Nachkriegszeit, sowohl im Westen als auch in der früheren DDR. Ausführlich wird geschildert, wie mühsam und konfliktbeladen die Versuche waren, den Berliner Freidenker-Verband nach 1945 zu re–organisieren. Ein Durchbruch gelang, als 1984 in den Schulen Westberlins das humanistisch getragene Fach Lebenskunde wieder eingeführt wurde (Manfred Isemeyer / Olaf Schlunke, S. 200). Ein zwiespältiger Aspekt, der die DDR betrifft, wird von zwei Aufsätzen beleuchtet (Eckhard Müller, S. 211 ff.; Siegfried Heimann, S. 229 ff.). In der Endphase der DDR sorgten das Politbüro der SED und das Ministerium für Staatssicherheit dafür, dass ein Verband der Freidenker der DDR gegründet wurde, der das Regime ideologisch unterstützen sollte.
Den Beschluss des dritten Buchteils bilden zwei Beiträge, die Aufschluss über die heutige Situation des Humanistischen Verbands geben. Er entstand 1993 durch den Zusammenschluss zuvor getrennter freidenkerischer Vereinigungen. Zu seinen großen Erfolgen gehört es, dass in den Schulen von Berlin und auch im Bundesland Brandenburg parallel zum kirchlich getragenen Religionsunterricht ein humanistischer Lebenskundeunterricht angeboten wird (Patricia Block, S. 268 ff.). In den Berliner Schulen hat er inzwischen größeren Zulauf als der evangelische oder der katholische Religionsunterricht.
Mit dem inhaltlichen Profil des heutigen Humanistischen Verbands befasst sich Bruno Osuch, der langjährig Landesvorsitzender/Präsident des HVD Berlin-Brandenburg gewesen ist (S. 247 ff.). Er versteht den Humanistischen Verband nicht mehr als antikirchliche Oppositionsströmung, sondern als eine konzeptionell und sozialpolitisch umfassend interessierte Geisteshaltung. Anders als andere Verbände oder Gremien der aktuellen säkularen Bewegung akzeptiert der Humanistische Verband ihm zufolge das derzeitige staatskirchenrechtliche System der Bundesrepublik Deutschland, das den Kirchen erhebliche Vorteile gewährt, um dann für den Humanistischen Verband eine den Kirchen prinzipiell analoge Stellung sowie entsprechende staatliche Förderung zu beanspruchen (S. 257).
Hierfür kann er sich – zu Recht – auf die Bestimmung des Grundgesetzes berufen, durch die Weltanschauungsvereine mit den Kirchen/Religionsgesellschaften gleichgestellt werden (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 7 WRV). Ein Haken besteht freilich darin, dass sich der Humanistische Verband diese Gleichstellung oft gerichtlich erstreiten muss. Wie aus den Darlegungen Osuchs hervorgeht, ist er hierbei nicht immer, aber doch immer wieder erfolgreich. So wurde 2005 vom Verfassungsgerichtshof Berlin-Brandenburg bestätigt, dass der Humanistische Verband im Bundesland Brandenburg analog zum kirchlichen Religionsunterricht einen humanistischen Lebenskundeunterricht anbieten und durchführen darf (S. 264 Fn. 29).
V.
In welchem Maß die von Osuch skizzierte Strategie dauerhaft aufgehen wird, wird sich in den kommenden Jahren an zwei Streitfällen erweisen. Gemeinsam mit der Giordano Bruno-Stiftung hat der Humanistische Verband Deutschlands ein Stipendienprogramm gegründet – das Bertha von Suttner-Studienwerk –, dem das Bundesbildungsministerium im Jahr 2024 eine Förderung analog zu kirchlichen Studienwerken versagt hat. Angesichts des heutigen weltanschaulich-religiösen Pluralismus ist die Ablehnung des Ministeriums sehr befremdlich und sachlich nicht zu halten. Ebenso verhält es sich mit der vom Humanistischen Verband gegründeten Humanistischen Hochschule Berlin. Sie erhält zurzeit ebenfalls keine staatlichen Zuschüsse, obwohl vergleichbare evangelische und katholische Hochschulen vom Berliner Senat unterstützt werden. Zu beiden Fällen sind Gerichtsverfahren anhängig, die sich jahrelang über mehrere Instanzen bis hin zum Bundesverfassungsgericht hinziehen könnten.
Zum Schluss ist festzuhalten: Das Buch ist aufschluss- und informationsreich. Es bringt aktuelle Erfolge, aber auch Schwierigkeiten der humanistischen Bewegung zur Sprache. Zugleich beleuchtet es ihre geistesgeschichtlichen Hintergründe. Geistig sieht es den Humanistischen Verband in einer breiten kulturgeschichtlichen Tradition verankert, die nicht nur auf die Aufklärung rekurriert, sondern bis in die Antike, z.B. Cicero, zurückreicht. Würde man noch weiter ausgreifen, könnte man den Bogen sogar nochmals breiter spannen und Verbindungslinien zwischen den modernen humanistischen Strömungen und dem hebräischen Humanismus ziehen, der sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert im liberalen, an Kant angelehnten deutschen Judentum ausgebildet hat. Den Begriff des hebräischen Humanismus hat der jüdische Sozial- und Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965) geprägt. Der Vordenker der jüdischen Aufklärung, der in Berlin lebende, seinerzeit als "deutscher Sokrates" gewürdigte Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1783) wird im vorliegenden Buch erwähnt.
Das Sammelwerk lässt sich auch als Nachschlagewerk nutzen. An mehreren Stellen enthält es übersichtliche Auflistungen von Geschehnissen sowie Zeittafeln (z.B. S. 61 zu historischen Wurzeln des Freidenkertums oder S. 127 zu markanten Entwicklungen freidenkerischer Organisationen im 19. und frühen 20. Jahrhundert). Es ist reichhaltig mit Bildmaterial ausgestattet und enthält Faksimiles interessanter Dokumente, z.B. ein Protokoll einer Vorstandssitzung von 1964 (S. 187 ff.) oder einen Brief Willy Brandts an den Deutschen Freidenker-Verband aus dem Jahr 1980 (S. 190).
Manfred Isemeyer (Hg.), Wofür es sich zu streiten lohnt: Humanismus. 120 Jahre Engagement für Aufklärung, Menschenrechte und Humanität, Verlag AG SPAK Bücher (Neu-Ulm) 2025, 293 Seiten, ISBN 978–3‑945959–75‑6, € 32,-