Strafrechtliche Auswertung der Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz

Übersicht der strafrechtlichen Auswertung der Studie "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" vom 24. September 2018

Von Prof. Dr. Dieter Rössner, Tübingen,

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A. Zusammenfassung

Die Ergebnisse der Missbrauchsstudie offenbaren spezifisch kirchliche Entstehungsbedingungen für sexuellen Missbrauch. Die Auswertung der empirischen Daten zeigt die Gründe für die Massierung und Konzentration der Straftaten wegen sexuellen Missbrauchs in der Katholischen Kirche auf. Sie ergeben im Überblick ein Bild, das sexuellen Missbrauch als Bestandteil des Systems und nicht nur als Einzelfall sichtbar macht. Es sind Strukturveränderungen und konsequente staatliche Kontrolle zum Schutz vor Kriminalität erforderlich.

  1. Empirische Daten
  1. 80 % der Täter sind Priester – also klerikale Personen mit hohen religiösen Weihen und kaum angreifbarer Stellung im System. Jeder 10. bekleidet laut Studie ein hohes kirchliches Amt.
  2. 3 von 4 Taten erfolgen im Rahmen von sakralem Geschehen (häufig Ministrantendienst). Bei 7 % der erfassten 3.677 Taten, das sind insgesamt 250 Fälle, war der Handlungszusammenhang die Beichte. Gravierend und charakteristisch für kirchlichen sexuellen Missbrauch ist zudem die festgestellte lange Dauer der sexuellen Übergriffe von über einem Jahr bei den jungen, recht hilflosen 10 – 12-jährigen Opfern.
  3. Die Tatbegehung wurde nach den Daten der Studie im Wesentlichen aufgrund der Autorität des Klerikers gefördert.
  4. Die Betroffenen nahmen häufig davon Abstand, sich einem Dritten anzuvertrauen. Zur Hälfte erfolgte dies aus Scham- und Schuldgefühlen im kirchlichen Rahmen, zu einem größeren Teil auch aus Angst vor negativen Reaktionen und als unglaubwürdig zu gelten. Der schwere Schritt bis zur Anzeige durch die Opfer dauert so 20 bis 30 Jahre.
  5. Bei einer Entdeckung reagierten die Täter mit der Bagatellisierung des Geschehens und dem Versuch, Schuldanteile der Opfer hervorzukehren. Eine Taktik, die auch "normale" Straftäter zu ihrer Rechtfertigung anwenden und die man in der Wissenschaft als kriminalitätsfördernde "Neutralisierung" des erkannten Unrechts durch die Täter behandelt.
  6. Die zuvor dargelegte spezielle Tat- und Opfersituation im kirchlichen Rahmen zieht unerträgliche Folgen für die Opfer, die in diesem Machtsystem nach einem unfassbaren Vertrauensbruch der Kleriker als Kinder oder Jugendliche häufig ganz auf sich angewiesen sind,  nach sich – weit mehr als dies in einem offenen Rahmen der Fall ist. Die Betroffenen leiden häufig ein Leben lang an Misstrauen (80 %), Ängsten und Depressionen (je 70 %) und sogar 1 von 4 bringt sich Selbstverletzungen bei. Ein normales gesundes und erfülltes soziales Leben ist so nicht möglich.
  1. Entstehungsbedingungen des Missbrauchs

Die durch die wissenschaftliche Untersuchung der Missbrauchsfälle erfasste Wirklichkeit der Entstehungsbedingungen des Missbrauchs in der Kirche weist auf dafür anfällige Machtverhältnisse und Strukturen der katholischen Kirche. Auch nach Auffassung der Opfer sind die klerikale Struktur auf dem Boden des unangreifbaren Unfehlbarkeitsdogmas und des hochgehaltenen Kirchenbilds vom Priester als guter Hirte als Strukturmerkmale des Missbrauchs von entscheidender Bedeutung. Ein solches System mit moralischen Ansprüchen, wie sie höher nicht sein können, wird immer versuchen, innerkirchliches Fehlverhalten zu verdrängen, z.B. auf einen zu bedauernden Einzelfall mit einem Sündenbock abzuladen. Dazu gehört, dass die moralische Vorderbühne des Sakralen die weniger ansehnliche Hinterbühne mit Verbrechen gegen junge Menschen zur Verdeckung benutzt. Es wird intern und nach außen eine Mauer des Schweigens um den sexuellen Missbrauch errichtet, den die Opfer besonders schmerzlich spüren. Ihre sichtbare und teilweise geäußerte Not wird als Angriff auf den Glauben gewertet. Sie werden ausgegrenzt oder allenfalls einem intransparenten Verfahren überlassen, wodurch ihre in der Tatsituation bestehende Hilflosigkeit weiter vertieft wird.

Vielfach trägt auch nach der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie die aktuelle innerkirchliche Aufarbeitung diese Züge. Der Glaube an die Selbstreinigungskraft des Systems geht verloren. Man muss sogar am Vorhandensein der kleinen irdischen Ethik zweifeln, dass Kirchenvertreter persönliche Verantwortung übernehmen und vor allem Empathie für die Opfer empfinden.

  1. Staatliche Kontrolle zum Schutz vor Kriminalität

Als Konsequenz bleibt nur die staatliche Kontrolle zum Schutz vor Kriminalität, die gleichgültig, durch wen und wo sie erfolgt, als Offizialdelikt gilt. Für jeden anderen Hotspot schwerer Kriminalität in der Gesellschaft erwarten wir das im Interesse (potentieller) Opfer ebenso. Der von einigen hochrangigen Kirchenvertretern nach wie vor erhobene Einwand gegen staatliche Ermittlungen, sie führten bei den schon durch die Tat geschädigten Opfern zu Retraumatisierungen, verfängt nicht. Warum sollte die Institution, in der strukturbedingt die Traumatisierungen stattgefunden haben, gerade diejenige sein, die den bestmöglichen Opferschutz garantiert? Es erscheint zudem paradox, wenn die Institution, der die Täter angehörten, durch Berufung auf den Opferschutz die für die Traumatisierung verantwortlichen Peiniger der Kriminalstrafe entziehen könnte. 

Da vermag der Staat die Opfer besser zu schützen und ihnen zudem Gerechtigkeit und Rehabilitation gewähren. Das Strafverfahren ist transparent und bestmöglich opferschützend. Die Strafprozessordnung enthält ein komplettes Opferschutzprogramm, das von einer opferbezogenen Justiz umgesetzt wird und auf die Bedürfnisse sensibler Opfer wie Kinder und Betroffene von sexuellem Missbrauch ausgerichtet ist. Dabei geht es in einem Gesamtkonzept bis hin zur qualifizierten psychosozialen Opferbetreuung darum, weitere Schäden bei Betroffenen zu vermeiden, ihnen Hilfen aller Art anzubieten und ihre Rehabilitation zu fördern.

Nur dieses staatliche Vorgehen garantiert ein offenes, gerechtes und faires Verfahren.

Veröffentlicht am 3. Dezember 2018

Dokumente

  • Studie "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" vom 24.09.2018 (abrufbar unter dem Link https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf)
  • Mustertext "Strafanzeige im Zusammenhang mit der Studie ‚Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz‘ der Strafrechtsprofessoren Holm Putzke, Eric Hilgendorf, Rolf Dietrich Herzberg, Reinhard Merkel, Ulfrid Neumann und Dieter Rössner in Verbindung mit dem Institut für Weltans.chauungsrecht (ifw) gegen Unbekannt wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 StGB) und des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176a StGB)" bei deutschlandweit 27 Staatsanwaltschaften vom 26.10.2018 (abrufbar unter dem Link: https://weltanschauungsrecht.de/sites/default/files/download/ifw_strafanzeige_katholische_kirche.pdf)