Für Selbstbestimmung am Lebensende: Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB

Sachverhalt

Seit Ende 2015 war mit § 217 des Strafgesetzbuchs jede "geschäftsmäßige" Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt. Damit wurde v.a. schwer erkrankten Personen mit dem Wunsch, ihr Leben selbstbestimmt und würdevoll zu beenden, die für viele einzige realistische Möglichkeit genommen, das unter professioneller Beratung und Nutzung medizinischer Methoden zu tun. § 217 StGB wurde im Februar 2020 vom BVerfG für verfassungswidrig erklärt (Az.: 2 BvR 2347/15). Eine Neuregelung der Sterbehilfe soll noch vor der Bundestagswahl 2021 im Deutschen Bundestag verabschiedet werden.

Verfahrensstand

Bereits im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung machten sich verschiedene Initiativen, u.a. die gbs sowie die von gbs- und ifw-Beirat Ludwig Minelli gegründete Dignitas, gegen das Verbot stark.

Unmittelbar nach der Verabschiedung legte u.a. die Dignitas zusammen mit fünf weiteren Beschwerdeführenden Verfassungsbeschwerde beim BVerfG ein (Az: 2 BvR 1261/16). Die gbs reichte als sachkundige Dritte außerdem zwei Stellungnahmen beim BVerfG ein (1. Stellungnahme, verfasst von Michael Schmidt-Salomon hier, 2. Stellungnahme, verfasst von Jacqueline Neumann hier), in denen insb. auf die fehlende Vereinbarkeit der Norm mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hingewiesen wurde. Neumann argumentierte zusammengefasst:

"Das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK zieht der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 EMRK Grenzen. Die Statuierung einer "Rechtspflicht zum Leben" ist konventionswidrig. Um seiner Schutzpflicht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK Rechnung zu tragen, muss der Staat einen Regelungsrahmen bereitstellen, welcher es Individuen ermöglicht, ihre Rechte auch tatsächlich wahrzunehmen und durchzusetzen, damit das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Tod nicht nur eine theoretische Option darstellt.

Der Gerichtshof hat festgestellt, dass fehlgeschlagene Suizidversuche häufig schwerwiegende Folgen für die Opfer und ihre Angehörigen haben und dass die Konventionsstaaten verpflichtet sein können, Maßnahmen zur Erleichterung eines Suizids zu treffen, um dem Betroffenen zu ermöglichen, sein Leben in Würde zu beenden. Wenn ein Staat überdies Regelungen zur Suizidbeihilfe aufstellt, hat er darauf zu achten, dass diese eindeutig und klar formuliert sind, da sie ansonsten eine abschreckende Wirkung ("chilling effect") auf Ärzte haben könnten.

Eine Gesamtschau der Rechtsprechung zeigt überdies, dass zumindest in "Notfällen", in denen die Leiden der Patienten nicht palliativmedizinisch behandelt werden können und die Betroffenen zur Umsetzung ihrer ernsthaft und freiverantwortlich getroffenen Suizidentscheidung zwingend auf professionelle ärztliche Hilfe angewiesen sind, der Staat positiv verpflichtet ist, diesen den letzten Ausweg durch einen selbstbestimmten ärztlich assistierten Suizid nicht zu versagen. Alles andere würde de facto zu einem menschenrechtswidrigen Totalverbot der Selbsttötung als solcher und damit zur Statuierung einer "Rechtspflicht zum Leben" führen."

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe im April 2019 forderte der gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon als sachkundiger Dritter im Namen der gbs die ersatzlose Streichung des § 217 StGB. Schmidt-Salomon betonte, dass ein das Neutralitätsgebot achtender Staat die Sittlichkeitsvorstellungen einer religiösen Minderheit nicht privilegieren und auf jeden Einzelnen anwenden dürfe. Außerdem wies er darauf hin, dass das so häufig bemühte "Geschäft mit dem Tod" nicht existiere, wohl aber ein Milliardengeschäft mit der Leidensverlängerung. Sämtliche Argumente, die zur Verteidigung des Gesetzes vorgelegt wurden, seien durch die Erfahrungen der Länder, in denen professionelle Freitodbegleitungen stattfinden, empirisch widerlegt.

Auch die letzte Stellungnahme des beschwerdeführenden Arztes, Sterbehelfers und gbs-Beirats Uwe-Christian Arnold, der sich infolge seiner schweren Krankheit wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung das Leben genommen hatte, wurde auf ausdrücklichen Wunsch des Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle zu Beginn der Verhandlung in Karlsruhe vorgetragen.

Das BVerfG folgte der Argumentation der Beschwerdeführenden und der gbs-Gutachten weitgehend und erklärte § 217 StGB für verfassungswidrig. Das Gericht hat damit einen Meilenstein zur Verwirklichung persönlicher Selbstbestimmung gegenüber kollektiven (und insb. religiösen) Moralvorstellungen gesetzt. Gbs- und ifw-Beirat Eric Hilgendorf bewertete die Entscheidung "gerade in Zeiten einer Tendenz zur Übertherapie am Lebensende" als "Befreiungsschlag".

Mittlerweile sind innerhalb der Bundesregierung die Beratungen zur Neuregelung der Sterbehilfe angelaufen. Im Rahmen dessen hat Gesundheitsminister Jens Spahn einen Expertenkreis um Regelungsvorschläge gebeten. Dieser besteht bedauerlicherweise überwiegend aus einstigen Befürwortern des verfassungswidrigen § 217 StGB. Gbs und ifw nahmen das zum Anlass, ebenfalls Stellungnahmen bei Spahn einzureichen. Dabei stellen sie klar, dass eine erneute Regelung der Sterbehilfe im Strafrecht nicht erforderlich sei und eine einseitige Orientierung an partikularen, insb. kirchlichen Anschauungen verfehlt wäre.

Rechtliche Problematik

Durch das Urteil wurde die Rechtslage vor Inkrafttreten des § 217 StGB wiederhergestellt. Das bedeutet zwar einerseits, dass mangels Haupttat die Teilnahme am Suizid (Anstiftung und Beihilfe) straflos ist. Andererseits bleiben täterschaftlich durchgeführte, aktive Sterbehilfe nach § 216 StGB und die Beteiligung an unfreien Suiziden nach §§ 212, 25 I Alt. 2 bzw. § 222 StGB strafbar. Eine erneute Regelung von Suizidhilfe im Strafrecht erscheint daher nicht erforderlich.

Der Gesetzgeber steht jetzt also erneut vor der Aufgabe, eine verfassungsmäßige Regelung des Sachbereichs Sterbehilfe zu entwickeln, d.h. die beiden kollidierenden höchstrangigen  Grundrechte auf Leben (Art. 2 II 1 GG) und selbstbestimmtes Sterben (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) in einen solchen Ausgleich zu bringen, dass jedem Grundrecht größtmögliche Geltung zukommt. Dabei darf keines der Grundrechte vollständig hinter das andere zurücktreten.

Durch § 217 StGB waren nicht nur diejenigen, die Suizidhilfe im Rahmen beruflicher Tätigkeit erbringen möchten, in ihren Grundrechten der Berufsfreiheit (Art. 12 I GG), der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) sowie dem Recht auf Freiheit der Person (Art. 2 II 2 GG) betroffen. Auch und gerade der grundrechtliche Schutzbereich der Beschwerdeführerinnen und -führer mit eigenem Sterbewunsch war eröffnet. Mit dem wegweisenden Urteil wurde ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. 1 I GG) zum ersten Mal gerichtlich auch die Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben entnommen. Gleichzeitig unterliegt der Gesetzgeber einer in Art. 1 I 2 i.V.m. Art. 2 II 1 GG begründeten Schutzpflicht hinsichtlich des menschlichen Lebens, die sich hier in einer Pflicht zum Schutz der Entscheidungsautonomie, also v.a. dem Schutz vor Willensmängeln und vor Pressionen des gesellschaftlichen und familiären Umfelds auswirkt. Dabei ergibt sich aus der Verfassung indes eine Vermutung für eine autonome Entscheidung eines Menschen.

Jede Neuregelung, die es Suizidwilligen faktisch unmöglich macht, die von ihnen gewählte Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, wäre verfassungswidrig. Mit anderen Worten müssen Landes- und Bundesgesetzgeber es jedem Menschen ermöglichen, professionelle Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen, unabhängig von materiellen Kriterien wie etwa dem Vorliegen einer unheilbaren oder tödlich verlaufenden Krankheit. Der Gesetzgeber muss auf der anderen Seite auch Verfahren bereitstellen, welche den freien Willen, hier die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens, sichern.

Das BVerfG hat zwar grds. offengelassen, ob ärztliches Berufsrecht, wenn es ein Verbot der Suizidhilfe vorsieht, verfassungswidrig ist. Es hat aber eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärztinnen und Ärzte und der Apothekerinnen und Apotheker sowie Anpassungen des Betäubungsmittelrechts gefordert. Diese Gesetzesanpassungspflicht umfasst  nach hiesiger Auffassung insb. eine Pflicht des Arzneimittelinstituts BfArM zur Abgabe letaler Medikamente. Die verfassungswidrige Missachtung des entsprechenden Urteils des Bundesverwaltungsgerichts durch die zuständigen Behörden muss unverzüglich beendet werden.

Trotz umfassender grundrechtlicher Durchwirkung des Sachbereichs Sterbehilfe verbleiben eine ganze Reihe an Regelungsoptionen. So kann der Gesetzgeber weiter über den zu nutzenden Rechtsbereich, die Ausgestaltung des formellen Verfahrens zum Schutze der Entscheidungsautonomie sowie darüber entscheiden, wer mit welcher Qualifikation die Sterbehilfe ausführen darf. Nach gbs- und ifw-Beirat Eric Hilgendorf spricht sehr viel dafür, die Unterstützung beim und zum Sterben in den Händen von Ärzten zu belassen. Hierfür ist es nach Hilgendorf erforderlich, dass sich die Ärzteschaft zur Übernahme dieser Aufgabe bereit erklärt. Dass die Begleitung eines freiverantwortlichen Suizids mit dem ärztlichen Ethos vereinbar ist, hat die bekannte Ärztin und gbs-Beirätin Natalie Grams jüngst in dem Magazin Spektrum der Wissenschaft überzeugend dargelegt.