Suizidbegleitung bei psychischer Krankheit
Unser Beirat Hartmut Kreß beschäftigt sich in seinem aktuellen Beitrag in der NJOZ vom 10.10.2024 (2024, S.1249-1253) mit dem rechtlichen Umgang der Suizidbegleitung bei psychischer Krankheit und unterbreitet einen überzeugenden Lösungsvorschlag. Anlass für die Auseinandersetzung mit der Thematik geben zwei in diesem Jahr erfolgte erstinstanzliche Verurteilungen zweier Ärzte wegen der Beihilfe zum Suizid psychisch Erkrankter. Das Gericht nahm in beiden Fällen an, dass seitens der Suizidenten im Zeitpunkt des Suizids keine eigenverantwortliche Entscheidung getroffen worden sei, weshalb das Gericht eine Tötung in mittelbarer Täterschaft angenommen hat.
Kreß stellt einleitend die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 vor, in dem der Senat "die Begleitung eines freiverantworteten Suizids durch Dritte, d. h. konkret durch Ärzte oder durch Sterbehilfeorganisationen, für zulässig erklärt und die Einschränkungen, die § 217 StGB idF v. 3.12.2015 statuiert hatte, vollständig aufgehoben" hat. Hiernach geht der Autor auf ein ähnlich lautendes Urteil des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 11.12.2020 und die Unterschiede zur deutschen Rechtsprechung ein: "Anders als das BVerfG beschränkte er deren jetzige Zulässigkeit zwar auf Fälle schwerer Krankheit. Allerdings besitzt in Österreich die sterbewillige Person eine Definitionshoheit darüber, was sie unter einem sie unzumutbar belastenden krankheitsbedingten Leiden jeweils versteht. Ebenso wie in der Bundesrepublik Deutschland ist Suizidhilfe in Österreich nicht nur bei physischen, sondern gleichfalls bei psychischen Krankheiten statthaft." Kreß stellt ferner fest, dass "dies schon allein deshalb geboten [ist], weil psychisch erkrankte Menschen in der Ausübung ihrer Persönlichkeits- und Freiheitsrechte, zu denen inzwischen auch das Recht auf Lebensbeendigung gehört, nicht diskriminiert werden dürfen."
Sodann wird kurz einer der Strafrechtsfälle angerissen und die Frage aufgeworfen, "wie mit den Suizidwünschen von Personen umzugehen ist, die sich speziell wegen psychischer Krankheiten als solcher das Leben nehmen möchten, weil sie das Leiden, das zB durch Schizophrenie, Depression, wahnhafte Störungen oder anderweitig psychisch bedingt ist, nicht länger zu ertragen bereit sind."
Zu Recht stellt Kreß heraus, dass auch psychisch Erkrankte oftmals zu einer "freien, eigenverantworteten Willensbildung in der Lage sind", was auch das Bundesverfassungsgericht schon so gesehen hat.
Bei der Frage, wie eine Suizidbegleitung psychisch Erkrankter faktisch umzusetzen ist, sieht der Sozialethikprofessor u.a. die psychiatrischen Fachgesellschaften in der Pflicht, die es bislang versäumt haben, eine Leitlinie vorzulegen. Sodann skizziert er einen Lösungsweg und rekurriert dabei auf die rechtlichen Normen zur Geschäftsfähigkeit psychisch erkrankter Personen, nach denen sich Notare u.a. bei der Beurkundung von Testamenten zu richten haben. Schon jetzt "haben Notare immer wieder mit Entscheidungen zu tun, die Menschen, ggf. auch psychisch erkrankte Menschen mit Blick auf ihr Sterben und ihren Tod treffen."
Mit Blick auf die rechtliche Situation bei Geschäfts- und Testierfähigkeit erinnert Kreß an die Regeln der Beweislastverteilung:
"Grundsätzlich und regelmäßig haben Notare davon auszugehen, dass keine psychische Krankheit vorliegt und dass ihr Klient geschäfts- und testierfähig ist. Dies entspricht der Freiheitsvermutung, die das Grundgesetz für jeden volljährigen Menschen verbürgt. Bezogen auf eine eventuelle psychische Störung oder psychische Krankheit gilt für Notare: ,Da die Störung der Geistestätigkeit die Ausnahme bildet, kann … der Notar vom Vorliegen der Geschäfts- und Testierfähigkeit der Beteiligten ausgehen. Das Gesetz verlangt von ihm nur, dass er vor Zweifeln nicht gleichsam die Augen verschließt‘."
Im Weiteren erläutert der Autor den Umgang mit derartigen Zweifeln, die gegebenenfalls zur Einholung eines psychiatrischen Gutachtens führen, in dem geklärt werden soll, "'ob eine psychische Erkrankung oder Störung die Umsetzung persönlicher Wertvorstellungen verhindert und damit eine freie Willensbildung ausschließt‘". Kreß betont, dass der Notar im Zweifel die Geschäftsfähigkeit anzunehmen hat.
Danach geht Kreß auf die Errichtung von notariellen Patientenverfügungen und Sterbeverfügungen in Österreich ein. Er hebt hervor, dass der österreichische Verfassungsgerichtshof "auf die strukturelle Analogie von passiver Sterbehilfe [Patientenverfügung] und Suizidassistenz (Sterbeverfügung] großen Wert gelegt" hat, was sich in der österreichischen Regelung niederschlägt:
"Folgerichtig kam in Österreich 14 Jahre nach dem Patientenverfügungsgesetz am 16.12.2021 das Sterbeverfügungsgesetz zustande, das die Suizidassistenz regelt. Es sieht vor, dass ein Notar einem Suizidwilligen auf dessen Wunsch hin mithilfe einer Sterbeverfügung den Zugang zu einem für die Selbsttötung geeigneten Medikament ermöglicht. Vor dem Notartermin muss die Person, die sich das Leben nehmen möchte, von zwei Ärzten unabhängig voneinander umfänglich aufgeklärt worden sein. Der Notar hat ua für die Registrierung des Dokuments im Sterbeverfügungsregister zu sorgen – und vor allem: Er überlässt dem Sterbewilligen eine Dosierungsanordnung, der gemäß die Apotheke ihm das tödlich wirkende Medikament dann aushändigen wird."
Im Weiteren wird der konkrete Ablauf des Verfahrens beschrieben und konstatiert, dass in Österreich die Prinzipien "in dubio pro libertate" und "in dubio pro dignitate" gelten, denn "ein psychiatrisches Gutachten wird lediglich dann angefragt, wenn der Suizidwillige bei den aufklärenden Ärzten und/oder beim Notar konkret den Eindruck aufkommen ließ, er sei nicht urteilsfähig, weil sein Suizidwunsch psychisch bedingt sein könne."
Der Dreh- und Angelpunkt der deutschen Debatte im Lichte der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung ist die Freiverantwortlichkeit. Überzeugend konstatiert Kreß, dass sich diese aber keinesfalls grundsätzlich oder wesentlich von der Geschäfts- Testier- und Einwilligungsfähigkeit unterscheide, was er sodann unter Ableitung konkreter Kriterien weiter ausführt.
Auf dieser Basis widerspricht der Sozial- und Medizinethiker Kreß der in Deutschland oft geäußerten Auffassung, der Gesetzgeber solle vorschreiben, dass Personen, die Ärzte oder Sterbehilfeorganisationen um Suizidhilfe bitten, stets bzw. ausnahmslos psychiatrisch begutachtet werden müssten. Stattdessen plädiert er dafür, die von Notaren schon jetzt geübte Praxis beizubehalten: Ein psychiatrisches Gutachten ist nur in begründeten Fällen anzufertigen. Er unterstreicht also, "dass solche psychiatrischen Gutachten nicht routine- oder standardmäßig eingeholt werden dürfen, wenn Menschen um Suizidunterstützung bitten." Mit Blick auf fehlende Regelungen in Deutschland und einem gescheiterten Gesetzgebungsversuch empfiehlt Kreß abschließend die Übernahme der österreichischen Regelung, soweit es die Errichtung von Sterbeverfügungen betrifft, in der er auch eine Entlastung der Ärzte sieht. Denn Notare, so Kreß, seien darin erfahren, die Urteils- und Einwilligungsfähigkeit ihrer Klienten einzuschätzen.
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An einer Art Leitlinie arbeitet seit Oktober 2024 für die nächsten drei Jahre ein interdisziplinäres Forscherteam. Nach Berichten von Medical Tribune soll es Qualitätskriterien schaffen, "mit denen sich die nun gehäuft auftretenden Anfragen nach assistierter Selbsttötung und damit einhergehenden Aufklärungs- und Beratungsgespräche dokumentieren und bewerten lassen. Überdies wird ein Verfahrensstandard entwickelt, mit dem man die Freiverantwortlichkeit prüfen kann, also wann und unter welchen Voraussetzungen die Selbsttötung als freiverantwortlich anzusehen ist, sowie ein methodisches Rahmenwerk für Analysen aus den unterschiedlichen Fachdisziplinen, die die Handlungspraxis am Lebensende beurteilen."
Eine neue Gesetzesinitiative kündigte der Bundesjustizminister zudem für Anfang nächsten Jahres an.
Außerdem steht aktuell die österreichische Regelung erneut vor dem Verfassungsgerichtshof auf dem Prüfstand, worüber der Standard berichtet: "Konkret bekämpfen die Betroffenen die Bestimmung, dass "aktive Sterbehilfe" nach wie vor verboten ist. Der Antrag richtet sich zudem gegen die Regelung, dass Ärztinnen und Ärzte die Aufklärung verweigern dürfen und einer der beiden aufklärenden Ärzte eine palliativmedizinische Ausbildung haben muss. Nicht zuletzt wird die Bestimmung bekämpft, dass Sterbeverfügungen nach einem Jahr ablaufen und dann erneuert werden müssen."