Ulfrid Neumann: „Suizidhilfe bei depressiver Erkrankung des Suizidenten“

Unser ifw-Beirat Ulfrid Neumann hat sich in seinem aktuellen – und frei zugänglichen – Beitrag "Suizidhilfe bei depressiver Erkrankung des Suizidenten" in der Fachzeitschrift Neue Kriminalpolitik (Heft 4, 2024, 421-427) kritisch mit dem Urteil des LG Berlin I vom 08.04.2024 beschäftigt. In dem Strafverfahren hat die Kammer den Arzt Christoph Turowski wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, weil er einer 37-jährigen Patientin, die unter schweren Depressionen litt, Sterbehilfe geleistet hat. Das Gericht nahm dabei an, dass die Verstorbene nicht in der Lage gewesen sei, einen freien Willen bezüglich ihrer Sterbeentscheidung zu bilden, weshalb es in dem Verhalten von Turowski keine straflose Beihilfe zum Suizid gesehen hat.

Neumann würdigt in seinem Aufsatz die Argumentation des Gerichts und kommt mit überzeugender Begründung zu dem Fazit, dass es sich bei der gerichtlichen Entscheidung um ein "ebenso umfangreich wie mangelhaft begründetes Urteil" handelt, bei dem auszuschließen sein dürfte, dass es rechtskräftig wird.

Der Bundesgerichtshof hat sich nun mit den vielfältigen aufgeworfenen Rechtsfragen zu befassen, bei denen es im Kern darum geht, dass alle Menschen, und damit auch psychisch Erkrankte, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben haben.

In Neumanns Aufsatz finden sich Ausführungen zur vom Gericht abgelehnten Freiverantwortlichkeit des Suizids, zur angeblichen Tatherrschaft von Turowski und zur Irrtumsproblematik.

Im Rahmen der Freiverantwortlichkeit thematisiert Neumann unter anderem die seitens der Kammer abgelehnte "innere Festigkeit und Dauerhaftigkeit" des Suizidwunsches der chronisch schwer depressiven Patientin und zieht dabei Parallelen zu Schmerzpatienten: "Maßgeblich ist der Leidensdruck, dem der Betroffene sich jeweils ausgesetzt sieht. Die Situation ist hier nicht anders als bei schweren chronischen Schmerzen, die der Patient zu bestimmten Zeiten als noch erträglich, zu anderen als unerträglich erleben kann. Dass sie manchmal als erträglich erlebt werden, schließt die Ernsthaftigkeit eines Suizidwunsches in einer der wiederkehrenden ,unerträglichen‘ Phasen nicht aus."

Besonders erhellend sind auch seine Ausführungen zur angeblichen "Täuschung" seitens Turowskis. Hierzu schreibt Neumann: "Den Umstand, dass der Angeklagte Frau R. zusicherte, im Fall eines drohenden Misslingens des Suizidversuchs aktive Sterbehilfe zu leisten, diese Zusage aber von vornherein nicht einlösen wollte […], zieht die Kammer sowohl zur Begründung mangelnder Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses […] als auch für die Bejahung einer überlegenen Tatherrschaft des Angeklagten heran […]. Dies ist unter beiden Gesichtspunkten verfehlt. Denn hinsichtlich der für die Entscheidung von Frau R. den Suizid zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen durchzuführen, mitursächlichen Erwartung, dass der Versuch dieses Mal mit Sicherheit gelingen würde, deckte sich ihre Vorstellung mit der des Angeklagten. Insofern liegt keine Täuschungshandlung des Angeklagten vor." Weiter führt Neumann in diesem Zusammenhang aus: "Dass sie [die Patientin] diese Sicherheit nicht dem Einsatz zuverlässiger Mittel, sondern der angeblichen Bereitschaft des Angeklagten zuschrieb, erforderlichenfalls ,nachzuhelfen‘, ist irrelevant. Denn ihr ging es ausschließlich darum, eine Wiederholung der traumatischen Erlebnisse, die mit dem Fehlschlagen des ersten Suizidversuchs verbunden waren, zu vermeiden […]."

Im Hinblick auf die Tatherrschaft hebt  Neumann zu Recht hervor, dass aus den soeben dargelegten Gründen kein sog. "Wissens- und Willensdefizit" seitens der Patientin vorlag und dass die "Herrschaft über den unmittelbar lebensbeendenden Akt" bei der Betroffenen lag – sie  betätigte nämlich das Rädchen am letalen Infusionssystem und öffnete so den Zugang.

Am Ende des Beitrags thematisiert Neumann noch, dass, wenn man wie die Kammer – was der Autor ablehnt – die Verwirklichung des objektiven Tatbestands des Totschlags in mittelbarer Täterschaft annimmt, man jedenfalls  einen Tatbestandsirrtum  prüfen müsste, weil der "Angeklagte von einem freiverantwortlichen Suizidentschluss von Frau R ausging, also [...] einen Umstand nicht erkannte, der geeignet war, mittelbare Täterschaft zu begründen." Hierauf und auf den seitens des Gerichts nur knapp angesprochenen Verbotsirrtum geht Neumann sodann noch näher ein und erläutert, warum er die Ausführungen des Gerichts zum abgelehnten Verbotsirrtum für abwegig hält.

Ein lesenswerter Beitrag zu einem Thema mit vielen ungeklärten rechtlichen Fragen und zu dem es ggf. bald die erste höchstrichterliche Entscheidung gibt. Der Vorsitzende Richter in dem Prozess, würde das jedenfalls, so berichtet Legal Tribune Online am 08.04.2024, begrüßen.

Der hier besprochene Fall ist kein Einzelfall. Kurz vor dem Berliner Urteil hatte das Landgericht Essen den Neurologen und Psychiater Johann Spittler am 01.02.2024 in einem Fall von Sterbehilfe ebenfalls zu einer 3-jährigen Freiheitsstrafe wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft verurteilt. Auch hier ging das Gericht davon aus, dass der 42-jährigen schizophrene Patient nicht freiverantwortlich gehandelt habe. Der Fall liegt ebenfalls dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vor. Gegen Spittler wird zudem aktuell erneut in Essen wegen eines anderen Sterbehilfefalls vor dem Landgericht verhandelt.

Zu der Frage, wie man Suizidbegleitungen bei psychischer Krankheit gestalten könnte, hat sich im Herbst 2024 unser ifw-Beirat Hartmut Kreß Gedanken gemacht und einen Lösungsvorschlag unterbreitet.