Versammlungsfreiheit: Der Fall "Nackter Luther" / Polizeiinspektion Dessau-Roßlau
Sachverhalt
Der Kläger wendet sich gegen Anordnungen der Beklagten, zur Beschränkung einer von ihm angemeldeten Demonstration.
Der Kläger meldete unter dem 17. Oktober 2017 beim Landkreis Wittenberg für den 31. Oktober 2017 in der Lutherstadt Wittenberg für alle für Fußgänger frei zugänglichen Wege und Plätze für die Zeit von 10:00 bis 22:00 Uhr eine Veranstaltung nach dem Landesversammlungsgesetz an, und zwar eine Kunstaktion unter dem Titel "11tes-gebot.de" mit dem Thema "Kunstaktion gegen die verfassungswidrige Subventionierung von Kirchentagen, dem Lutherjahr und der Lutherdekade". Als Art der Veranstaltung gab der Kläger an: "Kunstaktion mit politischer Willensbildung". Als technische Hilfsmittel wollte der Kläger Bluetooth-Lautsprecher benutzen. Mitführen wollte er eine Skulptur "Die nackte Wahrheit über Martin Luther", Kundenstopper und Infomaterial. Als erwartete Teilnehmerzahl wurden 5 Personen angegeben.
Die Skulptur stellte sich dabei wie folgt dar: Auf einem etwa 1,60 m hohen grau angemalten Sockel mit ca. 1,25 m Breite und 1,25 m Länge befand sich die Aufschrift "Die nackte Wahrheit über Martin Luther". Auf diesem Sockel stand eine etwa 2 m hohe in Hautfarbe angemalte auf der Vorderseite nackte Skulptur, die in lebensechter Art erkennbar Martin Luther darstellt. Die Figur trug eine Priesterrobe, die die Lutherfigur mit waagerecht ausgestreckten Armen aufhielt. Auf den aufgehaltenen "Flügeln" der Robe befand sich auf der Vorderseite die Aufschrift: "Luthers Ratschläge gegen die Juden … … hat Hitler genau ausgeführt", "Karl Jaspers 1962". Diese Statue war nicht breiter als der Sockel und hatte
durch die ausgebreiteten Arme eine Länge von etwa 2,5 m auf. Die gesamte Figur mit Sockel befand sich auf einem Untergestell mit vier Rädern, so dass sie durch eine Person mittels der vorhandenen Deichsel gezogen werden konnte. Der untere Rand der "Flügel" der Robe befand sich in einer Höhe von mindestens 2 m, so dass man darunter durchgehen konnte. Die Figur mit Sockel auf dem fahrbaren Untersatz wies insgesamt eine Höhe von 4 bis 4,5 m aus.
Der Landkreis Wittenberg bestätigte dem Kläger mit Schreiben vom 19. Oktober 2017 seine Anmeldung. Das Schreiben enthielt den Hinweis, dass der Erlass einer Beschränkungsverfügung vorbehalten bleibe. Der Landkreis wies weiter darauf hin, dass in Durchführung der Versammlung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit den Anordnungen der Versammlungsbehörde und der Polizei vor Ort gegebenenfalls zu entsprechen sei.
Am 31. Oktober 2017 fanden in der gesamten Innenstadt der Lutherstadt Wittenberg die Feierlichkeiten anlässlich des 500. Reformationstages statt. Höhepunkt der Feierlichkeiten war ein Festgottesdienst ab 15: Uhr in der Schlosskirche. An dem Gottesdienst und weiteren Feierlichkeiten nahmen unter anderem der Bundespräsident mit Ehefrau, die Bundeskanzlerin, der Bundestagspräsident, der Bundesratspräsident, die Präsidenten der Länder Lettland und Ungarn, zwei vormalige Bundespräsidenten, vier Bundesminister, die Ministerpräsidenten aus Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Bayern, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden, der stellvertretende Gesandte der USA sowie weitere Persönlichkeiten teil. Anlässlich dieser Feierlichkeiten hatte die damalige Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost, deren Nachfolgerin die Beklagte ist, einen polizeilichen Sicherheitsbereich (S1) im unmittelbaren Umfeld der Schlosskirche und des Stadthauses eingerichtet.
Ein Aufenthalt in dem Sicherheitsbereich S 1 (eigentlicher Schlossplatz vor der Schlosskirche) war nur Polizeikräften, akkreditierten Mitarbeitern und Mitwirkenden des Veranstalters und deren beauftragten Dienstleister, zugelassenen Medienvertretern und geladenen Gästen gestattet. Die Zuschauer mussten, um den ihnen grundsätzlich zugänglichen nördlichen Bürgersteigsbereich (Zuschauerbereich) zu betreten, entweder eine am westlichen Ende des Sicherheitsbereichs auf dem nördlichen Bürgersteig der Straße Schlossplatz und etwa 30 bis 40 östlich der Kreuzung Schossplatz – Berliner Straße in einem Pavillion befindliche polizeiliche Kontrollstelle passieren oder entsprechende Kontrollstellen am östlichen Ende des Kontrollbereichs in Höhe der Coswiger Straße vor der Hausnummer 6 oder etwas nördlich davon die Kontrollstelle in der Paffengasse nutzen.
Ein Protokoll der Einsatzabteilung Schlosskirche (EA Schlosskirche) der Polizei enthält für 11:51 Uhr den Vermerk, dass an der Schleuse für die Eingangskontrolle in den Sicherheitsbereich am Kontrollpunkt Blickrichtung Park die Lutherstatue aufgetaucht sei. Unter 12.08 Uhr ist dort vermerkt, dass die Teilnehmer der Versammlung in den S2 Bereich möchten mit der Frage, ob der Einlass gewährt werde. Offenbar nach Rücksprache mit einer höheren Führungsebene erfolgt dann der Eintrag: "Negativ, die Personen sollen außerhalb des S2 Bereiches bleiben."
Am 02. Juli 2018 hat der Kläger beim erkennenden Gericht Klage erhoben.
Der Kläger trägt vor, die Klage sei als Fortsetzungsfeststellungsklage wegen der typischerweise unmittelbar eintretenden tatsächlichen Erledigung der Polizeiverfügung wegen der Verletzung des betroffenen Grundrechts der Versammlungsfreiheit zulässig und begründet. Die Polizeiverfügung habe rechtswidriger Weise ganz offenbar dazu gedient, die zeitgleich stattfindende Feier des Reformationstages störungsfrei zu halten.
Er sei um 11:45 Uhr im Bereich der Straßenabsperrung Schlossplatz durch Polizeibeamte gehindert worden, den Sicherheitsbereich und den nach Kontrolle für Zuschauer zugänglichen Bereich mit seiner Versammlung zu betreten. Dabei sei es trotz Hinweis auf die Versammlungsanmeldung und telefonische Rückfragen des Polizeibeamten vor Ort geblieben. Eine Begründung für den mehrere Stunden andauernden Zwangsstopp des Weiterzuges seiner Versammlung sei nicht gegeben worden. Der einzige Hinweis des Polizeibeamten sei gewesen: "Die da oben wollen das nicht". Zu diesem Zeitpunkt sei der Bereich des nördlichen Bürgersteigs nur locker besetzt gewesen, so dass er mit der Figur dort habe durchziehen können (vgl. auch die Berichte im Humanistischen Pressedienst hier und hier).
Verfahrensstand
Das Verwaltungsgericht Halle hat auf die mündlichen Verhandlungen am 06. November 2020 und am 08. April 2021 am 22. April 2021 für Recht erkannt: Es wird festgestellt, dass die Verfügung der Beklagten vom 31. Oktober 2017, die etwa um 11:45 Uhr mündlich gegenüber dem Kläger erlassen worden war, mit der dem Kläger die Fortführung seines Aufzuges mit der fahrbaren Skulptur "Die nackte Wahrheit über Martin Luther" mit dem Einlass in den Fußgängerbereich (S2) hinter der Absperrung für den Sicherheitsbereich Schlossplatz (S1) in der Lutherstadt Wittenberg bis ca. 14:15 Uhr verwehrt worden war, rechtswidrig gewesen ist.
Rechtliche Problematik
Die polizeiliche Verweigerung des Zugangs und des Aufenthalts in dem für Zuschauer vorgesehenen Sicherheitsbereich S2 in der Straße Schlossplatz in Lutherstadt Wittenberg am 500. Reformationstag am 31. Oktober 2017 gegenüber dem Kläger als Versammlungsleiter für seine Versammlung mit der Figur "Der nackte Luther" ab ca. 11.45 Uhr bis ca. 14:15 Uhr war rechtswidrig und verletzte diesen in seinen Rechten aus Art. 8 Abs. 1 GG (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und 4 VwGO).
§ 13 Abs. 1 VersG LSA sieht mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit Einschränkungen gegenüber Versammlungen nur für den Fall vor, dass die öffentliche Sicherheit nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde auch bei dem Erlass von Auflagen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Als Grundlage der Gefahrenprognose sind konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Verdachtsmomente oder
Vermutungen reichen hierzu nicht aus.
Im Zeitraum bis etwa 14:00 Uhr wäre eine Aufstellung der Figur im rückwärtigen Zuschauerbereich ohne Gefährdungen der Zuschauer möglich gewesen. Die Gefahrenprognose der Beklagten war nach Auffassung des Gerichts bis dahin nicht tragfähig. Als milderes Mittel gegenüber einem vollständigen Betretungsverbot des Zuschauerbereiches hätte dem Kläger ein Aufstellen der Figur in den breiteren rückwärtigen Bereichen bei Verbot, die Engstelle zu passieren, zugestanden werden müssen.
Nach Auffassung des ifw, ist die Entscheidung erfreulich, denn es war nicht das erste Mal, dass im Rahmen der Feierlichkeiten zum 500-jährigen Reformationsjubiläum Behörden/Polizei das Recht auf Versammlungsfreiheit der Kunstaktion "Der nackte Luther" verletzten.