Menschenrechte

I. Einführung

Die Grund- und Menschenrechte im modernen Verständnis als individuelle, einklagbare und universale Rechte haben eine lange Vorgeschichte. Schon die deutschsprachige Literatur hierzu ist kaum überschaubar. Die Wurzeln der Menschenrechte liegen in der Antike (s. unten II 3), fanden aber nur wenig Anklang. Traditionell waren Sklaven, Frauen und "Barbaren" keine gleichwertigen Menschen. So blieb es in großem Umfang auch in den europäischen Ländern, im Grundsatz bis nahe an der Gegenwart (Kolonien). Das Problem der umstrittenen Universalität der Menschenrechte wird unten IV. kurz erörtert. Der insbesondere in islamischen Kulturen (aus machtpolitischen Gründen) vielfach erhobene Vorwurf des westlichen Ethnozentrismus mit einem gemeinschaftsfeindlichen und utilitaristischen Menschenbild und dem damit verbundenen anderen Menschenrechtsverständnis, ja Kulturimperialismus, ist jedoch unbegründet (s. Islam und Menschenrechte).

II. Europäische Neuzeit

1. Den Boden für die moderne Entwicklung der Menschenrechte bereiteten Renaissance und Humanismus. Darauf aufbauend trat in der politischen und rechtlichen Philosophie des 17. und 18. Jh. das Individuum allmählich in den Vordergrund. Die Philosophie der Aufklärung verstand Religionsfreiheit schon als individuelles Menschenrecht. Als erster focht Thomas Hobbes (1588-1679) die aristotelische und christlich-mittelalterliche Lehre von der natürlichen Ungleichheit des Menschen an. Der Gleichheitsgedanke des modernen Naturrechts, eine Basis der Menschenrechtsentwicklung, beruht nach Hobbes nicht mehr auf der Gleichheit vor Gott, sondern wesentlich auf der biologischen Artgleichheit. Wenn man in Europa die Gewährleistung des konfessionellen Friedens nun als Staatsaufgabe ansah, war das freilich durch die verheerenden Religionskriege erzwungen und nicht Ergebnis einer Haltung der Toleranz. Aber die Unterstützung durch die Philosophen war wichtig. Samuel Pufendorf (1632-1694) und Christian Thomasius (1655-1728) lehrten sogar, die weltliche Herrschaft habe keine Kompetenz in Glaubensfragen.[1]

2. Bei der Erörterung der geistigen Herkunft der Menschenrechte wird häufig ihre christliche Genese betont. Zur Begründung werden manchmal regelrecht abenteuerliche Thesen vertreten. So stellte etwa der Theologe und Jurist Horst Folkers einen besonderen biblischen Bezug zu den Grundwerten des Grundgesetzes (GG) heraus. Er schlug den Bogen von der Befreiung durch Christus zur Freiheit als Fundament von Religion und Recht. Das Demokratieprinzip wurzele in der Gleichheit vor Gott und die Gewaltenteilung hänge mit der göttlichen Trinität zusammen.[2] Häufig in Verbindung gebracht werden die Menschenwürde und der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Zu solchen Ansichten ist aber festzustellen, dass die Vorstellung der einen und gleichen Würde des Menschen vor der Neuzeit nicht zum Durchbruch gekommen ist. Vielmehr war die hierarchisch gestufte Ungleichheit Grundlage der gesamten politisch-sozialen Ordnung und bei Thomas von Aquin geradezu kosmisches Prinzip. Spätestens seit Kant (1724-1804) gehört zur Menschenwürde die sittliche Autonomie des Menschen, und die so verstandene Menschenwürde ist Grundlage der Freiheits- und Gleichheitsrechte des GG.

Demgegenüber bekämpfte die christliche Theologie diesen Autonomiebegriff 200 Jahre lang als frevelhafte Anmaßung. Nun standen auch die meisten Aufklärer, zumindest in Deutschland, auf dem Boden des Christentums, das sie als Vernunftreligion akzeptierten. Zu den Anhängern des Vernunftchristentums gehörte auch John Locke (1632-1704). Damit sind aber Menschenrechte und Religionsfreiheit nicht einfach eine christliche Erfindung, zumal wenn man die große Bedeutung der französischen aufklärerischen Deisten und Atheisten bedenkt. Manch theologischer Autor sieht das klarer, als es manche Juristen zumindest schreiben.[3]

3. Große Bedeutung hatte die ca. 300 v.u.Z. gegründete Philosophenschule der Stoa, die auch Sklaven als vernunftbegabte Wesen behandelte und die Brüderlichkeit der Menschen verkündete. Im Renaissance-Humanismus wurde die Stoa wieder belebt. Wie wenig Menschenwürde im heutigen Verständnis aus historischer Sicht etwas spezifisch Christliches war, zeigt der Umstand, dass seit dem 15. Jh. der Handel mit Negersklaven eine Sache christlicher (und auch islamischer) Herrschaft war. Auch war die Art und Weise grauenvoll, wie die Missionierung z.B. der Neuen Welt erfolgte, mag das auch von einzelnen bedeutenden zeitgenössischen Christen angeprangert worden sein. Die Frage, ob Indianer eine Seele haben, war theologisch sogar noch im 19. Jh. nicht unumstritten. Insgesamt kann man keineswegs sagen, es führe ein direkter Weg von der christlichen Lehre zu den modernen Menschenrechtserklärungen.[4] Die historisch erzwungene religiöse Toleranz war in der Regel auf Christen beschränkt; der sogenannte Ungläubige blieb grundsätzlich Staatsfeind (auch bei Locke und Rousseau), war jedenfalls als Untertan suspekt und hatte mindere Rechte. In England wurde sogar die Leugnung der Trinität bis 1813 mit der Todesstrafe bedroht.[5] Der Philosoph Otfried Höffe beschreibt das Kapitel "Christentum und Menschenrechte" eingehend als ein "Drama in fünf Akten". Das Christentum habe zunächst wesentlich selbst jene Schwierigkeiten geschaffen, für deren Lösung man die Menschenrechte brauche.[6] Das sozial unverträgliche Prinzip "Wahrheit vor Freiheit" galt im katholischen Bereich in abgeschwächter Form sogar bis zum 2. Vatikanum.

4. Die im Interessenstreit fast gebetsmühlenartig beschworenen "Werte der christlich-abendländischen Kultur" sind nicht Bestandteil eines einheitlichen Wertehimmels, sondern diese Kultur ist durch eine Vielfalt von Traditionen geprägt, die nur durch selektive Deutung auf einen einheitlichen Nenner gebracht werden könnten. Neben den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen christlichen Strömungen und dem Judentum etwa gibt es eine bedeutende Tradition kritischen Denkens, wobei nur Kaiser Julian, Kaiser Friedrich II., Averroes, Giordano Bruno, Pierre Bayle, Voltaire, Diderot, John Stewart Mill, David Hume, Spinoza, Lichtenberg, Goethe, Schopenhauer, Heine, Büchner, Ludwig Feuerbach, Nietzsche, Darwin, Ernst Haeckel, Freud, Fritz Mauthner, Bertrand Russell, Ernst Bloch, Erich Fromm, Camus, Sartre, Jaspers und Popper beispielhaft genannt werden sollen.

Neuerdings hat Rolf Bergmeier eindrucksvoll herausgearbeitet, dass nicht nur die römisch-griechische Antike, sondern auch die arabische Kultur wesentlich zu den Triebkräften der Aufklärung gehört hat.[7] Man achte daher darauf, wie häufig bei Politikern, Juristen und Theologen von den christlich-abendländischen Werten die Rede ist, dass diese aber aus gutem Grund so gut wie nie konkret benannt werden: diese Redewendung wird meist pseudoargumentativ als Totschlagskeule eingesetzt (s. Abendland).

5. Man sollte sich auf Folgendes einigen können: Das nachreformatorische, wesentlich christlich geprägte Europa bot günstige Voraussetzungen für die Entwicklung von Menschenrechten und Religionsfreiheit. Beide sind aber ein Produkt komplexer historischer Vorgänge und des rationalistisch-aufklärerischen Individualismus. Josef Isensee hat die Entwicklung so komprimiert: "Die Menschenrechte sind nicht zeitloses Naturrecht, sondern wenn Naturrecht, dann geschichtlich gewordenes und geschichtlich bedingtes. Sie sind gewachsen auf dem Kulturboden Europas, geprägt durch die Epoche der Aufklärung, die ihrerseits vorgeprägt ist durch Renaissance und Christentum, durch die Traditionsquellen der Antike."

Entwickelt wurden die Menschenrechte durch Gelehrte der christlichen Welt. Es waren hauptsächlich weltliche Juristen und Philosophen, die ihre fortschrittlichen Ansichten freilich nur mit Einschränkungen offen äußern durften. Besondere historische Umstände führten von der Aufklärungsphilosophie zur Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776 und zur Französischen Erklärung der Bürger- und Menschenrechte 1789. Der europäische Frühkonstitutionalismus des frühen 19. Jh. mit seinen Grundrechten wurde ausgebremst durch die Restauration. Die Päpste bekämpften die modernen Freiheiten im 19. Jh. mit großer Erbitterung. Wie groß die Anteile der verschiedenen geistigen Bewegungen an der Entwicklung und Durchsetzung der Menschenrechte im Einzelnen waren, kann hier offen bleiben. Die individuellen Menschenrechte ließen sich zwar nachträglich mit christlicher Theologie gut begründen, aber bis zu ihrer Durchsetzung wollten die Amtskirchen nichts davon wissen.

III. Aktuelle Diskussion

Wenn in der kirchenpolitischen und religionsrechtlichen Diskussion immer wieder behauptet wird, der Staat des GG beruhe auf dem Christentum und sei ohne dieses nicht existenzfähig, ist das in dieser Form haltlos und eine grobe Irreführung. Ungeachtet dessen werden solche Behauptungen auch als machtpolitisches Argument zugunsten der Erhaltung der in der Bundesrepublik besonders kirchengünstigen tatsächlichen Umstände benutzt und sie spielten auch in der Diskussion um eine Europäische Verfassung eine unangenehme Rolle. Die Forderung nach ausdrücklicher Verwendung des Begriffs "Gott" führte zu langwierigen und erbitterten internationalen Diskussionen. In der katholischen Kirche erfolgte die Wende zur Religionsfreiheit erst mit dem 2. Vatikanischen Konzil 1965. Heute ist das Konzept der individuellen Menschenrechte in allen westlichen Ländern anerkannt, wenn auch neuerdings durch Rechtsparteien und diktatorische Entwicklungen gefährdet. Es basiert auf der Annahme der Autonomie und formalen Gleichheit aller Menschen unabhängig von Ethnie, Geschlecht, Religion bzw. Weltanschauung. Diese Fundamentalrechte müssen von der jeweiligen Gesellschaft notfalls gegenüber dem Staat verteidigt werden.

IV. Individuelle Menschenrechte und außereuropäische Kultur

Menschenrechte sind nach allem ein spezifisches Produkt der europäischen Moderne. Das komplexe islamische Scharia-Recht kennt keine Tradition individueller Rechte, wie überhaupt Menschenrechte in keiner religiösen Tradition verankert sind.[8] Außereuropäische Kulturen kennen keinen Prozess der Aufklärung oder einen Vorgang wie die Französische Revolution, keine Entsakralisierung der Herrschaft und keine entsprechende kontroverse öffentliche Diskussion. Wie in anderen vormodernen Kulturen steht auch in der Welt des Islam das Kollektiv im Vordergrund.

V. Weltanschaulicher Pluralismus als Friedensvoraussetzung

Der Islam und andere Religionen müssen sich dazu durchringen, religiös-weltanschaulichen Pluralismus als formales Prinzip zulassen mit der Folge der Religionsfreiheit und anderer universaler persönlicher Freiheiten auch für Andersdenkende. Eine andere Möglichkeit für eine friedlichere Welt ist objektiv nicht erkennbar. Allenfalls wären kulturell gerechtfertigte Modifikationen denkbar. Das kann nicht als Kulturimperialismus verunglimpft werden, zumal das nur im Interesse der Diktatoren läge.

Dass die westlichen Staaten in Vergangenheit und teilweise Gegenwart ihre eigene menschenrechtliche Tradition beklagenswert oft missachtet haben und missachten, ändert nichts an der generellen Richtigkeit des Konzepts der individuellen Menschenrechte. Zu diesem Konzept steht der in vielen Kulturen besonders wichtige Gemeinschaftsgedanke keineswegs im Widerspruch. Er ist eine notwendige Ergänzung, ja genaugenommen Bestandteil der richtig verstandenen Individualrechte. Daher hat das BVerfG schon früh, wie ihm folgend die Rechtsprechung überhaupt, die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums hervorgehoben.[9] Der Kollektivgedanke ist aber mehr eine Sache der Gesellschaft als des Rechts.

VI. Europäisches und Internationales Recht

Auf die umfangreichen internationalen Menschenrechtsdokumente sei hier nur hingewiesen. Es handelt sich um die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948; die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 1950; die Grundrechte-Charta der EU; internationale Übereinkommen bzw. Pakte über bürgerliche und politische bzw. wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, jeweils 1966, und andere. Diese Dokumente sind aber für die deutsche rechtliche und rechtspolitische Diskussion allenfalls von geringer Bedeutung, ausgenommen Art. 9 EMRK und verschiedene Regelungen der Europäischen Union.

>> Abendland; Aufklärung; Europarecht; Islam; Islam und Menschenrechte; Katholische Kirche und Moderne; Naturrecht; Toleranz.

Literatur:

  • Bielefeldt, Heiner. Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos. Darmstadt, 1998.
  • Höffe, Otfried: Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt a.M. 1996, stw (Kap. 3: Menschenrechte, S. 49-82. Kap. 4: Christentum und Menschenrechte, S. 83-105).
  • Hofmann, Hasso: Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, Juristische Schulung 1988,841-848.
  • Honecker, Martin: Kirchen und Menschenrechte, MdKI 1998,103-109.
  • Isensee, Josef: Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma. ZRG Kan. Abt. LXXIII (1987),296-336.
  • Koslowski, P./Fjodorow, W. F. (Hg.): Religionspolitik zwischen Caesaropapismus und Atheismus, München 1999.
  • Lutz, Heinrich (Hg.): Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977 (Standardwerk).
  • Maier, Hans: Wie universal sind die Menschenrechte? Freiburg i.Br. 1997, 157 S (Herder Spektrum. mit dok. Anhang. S. 78-91 zur Geschichte der Menschenrechte und Religionsfreiheit).
  • Pfahl-Traughber, Armin: Haben die modernen Menschenrechte christliche Grundlagen und Ursprünge? Humanismus aktuell H. 5 (1999), 66-77. Auch in: http://www.kellmann-stiftung.de
  • Putz, Gertraud: Christentum und Menschenrechte, Innsbruck/Wien 1991, 449 S.
  • Schild, Wolfgang: Art. Menschenrechte, in: Ruh/ Seeber/ Walter (Hg.), Handwörterbuch religiöser Gegenwartsfragen, Freiburg u.a. 1986.
  • Schnur, Roman (Hg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964.
 


  • [1] vgl. C. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979, 294 ff., 310 ff.
  • [2] Horst Folkers, Kirche und Recht 1997 Nr. 110, 73 ff.
  • [3] Besonders deutlich im hier dargestellten Sinn etwa W. Schild a.a.O.
  • [4] so auch z.B. Hans Maier, a. a. O. 84.
  • [5] nach H. Lübbe, Staatsphilosophie und Rechtspolitik, FS für M. Kriele zum 65. Geb., München 1997, 979/982.
  • [6] O. Höffe, 1996, a. a. O. 83-105.
  • [7] Rolf Bergmeier, Christlich-abendländische Kultur. Eine Legende. Aschaffenburg 2014.
  • [8] vgl. hierzu und zu den antiken Wurzeln A. Pfahl-Traughber a.a.O. 1999.
  • [9] BVerfGE 4,7/15 f. und vielfach (zur Gemeinschaftsbindung des Individuums).

© Gerhard Czermak/ ifw (2017)