Naturrecht

I. Allgemeine Bedeutung

Man versteht darunter die These der Existenz von objektiv-verbindlichen Gerechtigkeitsprinzipien, die sich aus der Natur der Sache bzw. des Menschen ergeben sollen. Ursache solcher Überlegungen ist das Auseinanderklaffen von Recht und Gerechtigkeit. Schon oft ist die Existenz von N. als leerformelhaft widerlegt worden, und doch reißt die Diskussion darüber auch heute nicht ganz ab. Grund dafür ist angesichts der Unrechtsgeschichte die Sehnsucht nach überpositiver Kontrolle des gesetzten Rechts. Über N. diskutiert man im Abendland seit der Antike kontrovers. Bedeutung erhielt in Mittelalter und Neuzeit der Naturrechtsgedanke christlicher Ausprägung. Man ordnete dem N. das göttliche Recht vor, die göttliche Weltordnung sei aber der Vernunft erkennbar. Historisch bedeutsam wurde erst das profane Vernunftrecht des Zeitalters der Aufklärung, das die Forderung nach natürlichen, unveräußerlichen Menschenrechten entwickelte. Die Attraktivität der vielfältigen naturrechtlichen Theorien liegt auch darin, dass sie sich je nachdem dazu eignen, bestehendes positives Recht zu legitimieren bzw. es als Unrecht zu kritisieren.

II. Beliebige Naturrechtsinhalte

Da sich über das Wesen des Rechts, die Natur des Menschen und auch "Gott" trefflich streiten lässt, kann es nicht verwundern, dass mit dem Naturrecht die unterschiedlichsten Ergebnisse erzielt wurden: das Recht des Stärkeren, die hierarchische Ordnung, der Absolutismus, die grundsätzliche Gleichberechtigung und Freiheit aller Menschen. Der österreichische Philosoph und "Linkskatholik" August M. Knoll hat 1962 in seinem aufsehenerregenden Buch "Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht" die – darüber hinaus verallgemeinerbare und heute weit überwiegende – Auffassung vertreten, die Naturrechtslehren bestünden aus Leerformeln, die mit beliebigen moralisch-politischen Inhalten gefüllt werden können. In seiner großen Sammlung eigenartiger Beispiele aus seinem speziellen Gebiet verweist er z. B. darauf, man habe mit dem scholastischen Naturrecht die Kastration von Kirchensängern ebenso gerechtfertigt wie die Überlassung eines Taschenspiegels als gerechten Preis für einen Negersklaven.

III. Renaissance des Naturrechts nach 1945

Nach der NS-Willkürherrschaft nahm man wieder Zuflucht zum Naturrecht, da man ein Hilfsmittel benötigte, um die Vergangenheit zu überwinden. Der Naturrechtsgedanke (vornehmlich katholischer Prägung) trieb jedoch in der Adenauer-Zeit, einer Ära des Klerikalismus, auch in der höchstrichterlichen Rspr "Blüten"[1], die in der Rückschau recht eigenartig wirken. Sie dienten offensichtlich dem Versuch, der Rechtsordnung ein christkatholisches Gerüst einzuziehen. Man dekretierte ein "objektives Sittengesetz", an dem alles Recht zu messen sei. Kein Geringerer als Helmut Simon hat das 1962 eindringlich und kritisch dargestellt.

IV. Rechtsphilosophisches Ergebnis

Die Wiederbelebung des Naturrechts blieb Episode. Bei den Philosophen und weit darüber hinaus hat sich heute die Ansicht von der beliebigen Manipulierbarkeit der Naturrechtslehren durchgesetzt. Konservative und Liberale, Gläubige und Atheisten haben das Naturrecht für ihre Zwecke benutzt. Es ist ja bereits strittig, ob bzw. inwieweit Prinzipien der Moral und Gerechtigkeit aus der Vernunft begründet werden können. Die Lehren vom Naturrecht benutzen unbestimmte Begriffe zur Erzeugung von Gefühlen und definieren sie zirkelhaft durch andere unbestimmte Begriffe. Naturrecht ist daher keine Rechtsquelle für das positive Recht. Das ändert aber nichts an dem Tatbestand, dass die freiheitliche Demokratie und der Menschenrechtsgedanke den Traditionen des Natur- und Vernunftrechts viel zu verdanken haben. Wer heute noch oder wieder Naturrecht postuliert, setzt sich aber dem Verdacht ideologischer Interessenvertretung aus.

V. Das bleibende Problem

Mit der Ablehnung eines vorgegebenen verbindlichen Naturrechts ist das dahinter stehende Problem des Auseinanderklaffens von Recht und Gerechtigkeit nicht gelöst. Wenn das deutsche Grundgesetz in Art. 20 III die Bindung an "Gesetz und Recht" anordnet, so setzt es Rechtsgrundsätze voraus, die die Gesetzesnormen ergänzen und ggf. korrigieren. Dieser indirekte Verweis auf die "richtige" Rechtsmethode und Rechtsphilosophie ist aber eine kulturgebundene und dynamische Daueraufgabe. Sie erfordert Wertungen, die möglichst rational und nicht: religiös-metaphysisch begründbar und allseits als "gerecht" einsehbar sind. Die Fragestellungen sind dabei oft dieselben wie die des Naturrechts (vgl. auch Liberale Rechts- und Staatstheorie).

VI. Biologie und Recht

Wenn man in den Zusammenhang Gesellschaft-Recht-Ethik sinnvoll "Natur" in einem naturwissenschaftlichen Sinn einbringen möchte, so ist damit die in den Gesellschaftswissenschaften bis vor kurzem noch wenig bekannte Disziplin der Evolutionsbiologie angesprochen. Hieraus ergibt sich die Forderung nach einer illusionslosen Ethik, die nicht in erster Linie von Sollensanforderungen ausgeht, sondern zunächst von der tatsächlichen biologischen Beschaffenheit des Menschen. So weist etwa der Evolutions- und Soziobiologe Franz Wuketits darauf hin, dass die Grundmuster unserer Moral und unseres Rechtsempfindens immer noch Resultate des sozialen Lebens der Menschen der Steinzeit sind. Demnach ist die generelle menschliche Moralfähigkeit begrenzt. Verhaltensnormen müssen daher den biologischen Tatsachen Rechnung tragen. Das heißt z.B., dass die positiven Aspekte des Egoismus, die natürliche Kooperationsbereitschaft, die Freude am sozialen Leben und die Fähigkeit zum Mitgefühl mit den sich daraus ergebenden Verpflichtungen kulturell gestärkt werden müssen. Der Glaube an eine vorgegebene Werteordnung hat schon ungezählte Millionen Menschenleben gekostet. Moralische Forderungen, auch religiöser Natur, die der biosozialen Natur widersprechen, bringen keinen  Nutzen.

>> Aufklärung; Christentum und Grundgesetz; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Klerikalismus; Liberale Rechtstheorie; Menschenrechte; Sittengesetz.

Literatur:

  • Hoerster, Norbert: Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie. München 2006, 92-105.
  • Huber, Wolfgang: Gerechtigkeit und Recht, Gütersloh 1996, 85-97.
  • Kaufmann, Arthur/ Hassemer, Winfried/ Neumann, Ulfrid (Hg.): Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. A. Heidelberg 2010.
  • Rüthers, Bernd/Fischer, Christian/Birk, Axel: Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 8. A. München 2015.
  • Simon, Helmut: Katholisierung des Rechtes? Zum Einfluß katholischen Rechtsdenkens auf die gegenwärtige Gesetzgebung und Rechtsprechung. Göttingen 1962 (Bensheimer Hefte 16);
  • Topitsch, Ernst: Das Problem des Naturrechtes, in: W. Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? Darmstadt 1966, 159-177;
  • Zippelius, Reinhold: Art. Rechtsphilosophie, EvStL 3. A. 1987, Bd. 2, Sp. 2744-2749.
 


  • [1] so auch W. Huber, 1996, a.a.O. S.98.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)