Neutralität

Neutralität, religiös-weltanschauliche

I. Einführung

Seit dem Renaissance-Humanismus und der Reformationszeit, während noch vielerorts Frauen und teilweise auch Männer als Hexen ermordet wurden, begann sich der Gedanke der Toleranz [s. dort] zu entwickeln. Ihre Kraft begann sie im Zeitalter der Aufklärung [s. dort] zu entfalten. Hier seien nur einige wenige Namen genannt: Erasmus von Rotterdam, Locke, Lessing, Kant, Voltaire. Im 19. Jh. entwickelten sich allmählich in Deutschland langsam Toleranz und Religionsfreiheit. Das Kaiserreich war aber noch ein Glaubensstaat auf christlicher Basis mit gestufter Toleranz für Andersdenkende (von den abgründigen Verirrungen des völkisch-sozialen Antisemitismus abgesehen, der auf einer traditionell starken religiösen Judenfeindschaft aufbauen konnte). Die revolutionäre Weimarer Verfassung [s. dort] brachte die epochale Wende zum Staat der Religionsfreiheit [s. Religionsfreiheit – Geschichte], der Minderheitenreligionen und säkulare Weltanschauungen nicht nur tolerierte, sondern verfassungsrechtlich gleichbehandelte. Damit war der Sache nach die Neutralität verfügt, was das GG übernommen hat.

Die religiös-weltanschauliche Neutralität ist zwar im Text des GG nicht ausdrücklich enthalten, aber in der Sache heute ein anerkannter Schlüsselbegriff und Eckpfeiler des Religionsverfassungsrechts (s. Weltanschauungsfreiheit). Neutralität ist sogar ein zentraler staatstheoretischer Begriff, da er wesentlich mit der Säkularität [s. dort] des Staats zusammenhängt. Sie kennzeichnet das grundsätzliche Verhältnis von Staat und Religion bzw. Weltanschauung. Nach 75 Jahren immer noch besonders umstritten ist die Frage, ob die Neutralität (Gleichbehandlung, Nichtidentifizierung mit und Äquidistanz zu religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen) ein die Rechtsordnung bindendes, also normatives Rechtsgebot darstellt oder nur ein grundsätzliches, wenngleich wichtiges Rechtsprinzip. In letzterem Fall wäre Neutralität nur ein allgemeines,-grundsätzliches Leitprinzip für Rechtsetzung und Rechtspraxis. Als solches könnte es ad hoc auch dann beiseitegeschoben werden, wenn der generelle Geltungsbereich nicht durch eine Sondervorschrift wie die zum Religionsunterricht (Art. 7 III, V GG) eingeschränkt wäre.

Der Großteil der Literatur vertritt immer noch die Ansicht, es gebe unterschiedliche Arten von Neutralität, insbesondere die offene, kooperative bzw. positive und die distanzierende Neutralität. Die Rechtsprechung des BVerfG hat die wesentlichen Gesichtspunkte des Neutralitätsbegriffs herausgearbeitet und in ständiger Rechtsprechung wiederholt, ohne sich aber konsequent daran zu halten, wie an anderer Stelle eingehend erläutert wurde.[1] Es konnte daher auch kein Vorbild für die regulären Rechtsprechungsinstanzen sein. Daher sind diese immer noch recht unsicher und ihre Entscheidungen oft nicht vorhersehbar. Das ist im Hinblick auf die umfangreiche Privilegierung [s. Privilegien] der Religionsgemeinschaften in der Verwaltungspraxis und Rechtspolitik von enormer Bedeutung. Man denke nur an die Materien Schule und Religionsförderung. Es bedarf daher der Klärung, was "religiös-weltanschauliche Neutralität" im Kern bedeutet, was für Aspekte generell zu berücksichtigen und wie sie in die juristische Dogmatik [s. dort] einzuordnen sind.

II. Annäherung an den Neutralitätsbegriff

1. Nachriegsentwicklung

Nach Gründung der Bundesrepublik 1949, während der klerikalen Adenauer-Ära [s. Klerikalismus] galten Religionsfreiheit und Neutralität nicht viel. Nachdem das BVerfG 1957in seinem bekannten Konkordats-Urteil[2] den Konfessionsschulzwang für Minderheiten noch gutgeheißen hatte, sprach es 1960 im Tabakfall[3] bereits davon, Glaubensfreiheit sei mehr als religiöse Toleranz, und der "weltanschaulich neutrale Staat" dürfe "den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten". Religiöse und nichtreligiöse Überzeugungen wurden ausdrücklich gleichgestellt. Grundlegend war 1965, am Beginn einer liberaleren Rechtsprechungs- und Literaturphase, die noch heute aktuelle und ständig allgemein zitierte Neutralitätsformel im Urteil über die Badische Kirchenbausteuer. Sie hat die Rede von der Neutralität populär gemacht und lautet:

"Das Grundgesetz legt durch Art. 4 I [4], Art. 3 III[5], Art. 33 III GG[6] sowie durch Art. 136 I und IV[7] und Art 137 I WRV[8] in Verbindung mit Art. 140 GG dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse."

Warum bis heute Art 137 VII WRV[9] mit seiner korporativen Gleichstellung von religiösen und (nichtreligiösen) weltanschaulichen Vereinigungen vom BVerfG nicht in die Neutralitätsformel aufgenommen wurde, erstaunt allerdings. Erwähnenswert wäre auch Art. 136 III WRV gewesen, wonach grundsätzlich niemand verpflichtet ist, "seine religiöse Überzeugung zu offenbaren".

2. Aktuelle Zusammenfassung

Der säkulare Staat hat keine religiös-weltanschauliche Kompetenz, es sei denn, die Bundesverfassung regele einzelne Bereiche abweichend. Dies ist beim staatlichen Religionsunterricht, der sogenannten Kirchensteuer und bei den staatlichen Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen der Fall. Die Bundesrepublik als Bund, alle Länder, Kommunen und anderen Einrichtungen mit öffentlichem Status müssen alle Bürger (Einwohner) und alle religiösen und nichtreligiösen Vereinigungen in ihrer religiösen bzw. weltanschaulichen Prägung gleich behandeln. Die Ermittlung und Gewichtung aller Aspekte, die bei der Feststellung dessen, was gleich zu behandeln ist, infrage kommen, ist das eigentliche Problem der Rechtsgleichheit bzw. Neutralität. Das entspricht der Problematik des Allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 I GG).[10] Die Frage, ob dabei nicht doch Differenzierungen zugunsten einzelner Richtungen in Betracht kommen, ist ein Spezifikum der Diskussion um die religiös-weltanschauliche Neutralität.

Das BVerfG hat im Lauf der Jahrzehnte alle zu berücksichtigenden Gesichtspunkte genannt: Bewertungsverbot, Diskriminierungsverbot; Gleichbehandlung, Freiheit von staatlicher Beeinflussung, keine Offenbarungspflicht, Nichtidentifikation, objektives und subjektives Recht, positive und negative Religionsfreiheit, Privilegierungsverbot, religiös-weltanschauliche Inkompetenz, Unabhängigkeit von bestimmten religiösen oder philosophischen Überzeugungen, Unparteilichkeit. Leider hat das BVerfG, obwohl Hüter der Verfassung, den von ihm entwickelten Neutralitätsbegriff oft nicht ernstgenommen, wesentliche Aspekte außer Acht gelassen, sich in Widersprüche verwickelt und ist insgesamt unsicher geblieben.[11] Das kann hier nicht im Einzelnen dargelegt werden.[12] Dabei ist die religiös-weltanschauliche Neutralität zusammen mit der Religionsfreiheit das Zentrum des Religionsverfassungsrechts.

III. Hauptprobleme der Neutralität

1. Neutralität als objektives und subjektives Recht und die prozessuale Bedeutung der Entscheidung

Seit der Üblichkeit der Verwendung des Neutralitätsbegriffs wird dieser zumindest als objektives Verfassungsprinzip verstanden. Zunächst gibt jedes Grundrecht nach allgemeiner Ansicht ein subjektives (persönliches) Recht gegenüber dem Staat. Dazu gehören auch die Grundrechte, aus denen das BVerfG die Neutralität abgeleitet hat. Alle Grundrechte haben aber auch eine objektive Seite in dem Sinn, dass sie den Staat nicht unmittelbar gegenüber einem bestimmten Anspruchsberechtigten verpflichtet, sondern dass der Staat als solcher generell verpflichtet ist, den im Grundrecht zum Ausdruck gekommenen Gedanken zumindest grundsätzlich in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung als Richtschnur zu berücksichtigen. Da in Sachen Neutralität jedes der einschlägigen Gleichheitsrechte eine in diesem Sinn objektive Bedeutung hat, liegt es nahe, darin in einer Zusammenschau eine allgemeine an den Staat gerichtete Direktive zu sehen, nämlich die allgemeine Verpflichtung zu uneingeschränkter "Neutralität". Die "nur" objektiv-rechtliche Neutralität ist daher aus Sicht der Bürger schwächer als die grundrechtlich zu beachtende Neutralität. Anders ausgedrückt: Aus den Gleichheitsrechten ergeben sich für den jeweiligen Bürger einklagbare Rechtsansprüche, aus der objektiven Neutralität nach bisher fast allgemeiner Ansicht nicht. Der Bürger ist dabei nämlich darauf angewiesen, dass sich der Staat von sich aus an die Rechtsgebote hält. Das ist bei Religion und Weltanschauung leider oft nicht der Fall. Das sei am Beispiel eines Urteils des BayVGH von 2022 erläutert.

Aufgrund eines einstimmigen Beschlusses der Bayerischen Staatsregierung von 2018  wurde in die behördeninterne Allgemeine Geschäftsordnung folgender Passus eingefügt: "Im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes ist als Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen" (Söder-Erlass)[13] Soweit der BayVGH die dagegen erhobenen Klagen für zulässig erklärte, sah er ein Grundrecht nicht verletzt.[14] Die Vorschrift verstoße aber eindeutig gegen das objektiv-rechtliche Prinzip der Neutralität.[15]

Aus Sicht von Klägern muss dieses Urteil befremdlich wirken. Denn es bestätigt ihnen, sie hätten zu Recht gerügt, der Staat verstoße gegen das ihm obliegende objektive-rechtliche Neutralitätsgebot. Es nütze aber nichts. Ein Grundrecht werde nämlich nicht verletzt. Das können Nichtjuristen schwer verstehen. Immerhin hat das BVerfG wiederholt entschieden, bei Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden sei das gesamte GG Prüfkriterium, nicht nur die Grundrechte. Davon unabhängig ist die prozessuale Unterscheidung von subjektiven und objektiven Rechten bei speziellen Grundrechten – entgegen der ganz herrschenden Meinung - ohnehin fragwürdig. Denn bei Berufung auf einen Eingriff in den Auffang-Tatbestand der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) liegt eine Grundrechtsverletzung stets vor, wenn die "verfassungsmäßige Ordnung" verletzt wird. Das ist beim Verstoß gegen das Neutralitätsgebot aber stets der Fall. Dann kann aber eine Berufung auf das gewichtige spezielle Grundrecht der Glaubensfreiheit (Art. I, II GG) nicht schlechter gestellt werden.[16]

2. Gleichbehandlung und Nichtidentifikation

Das Gebot der Gleichbehandlung bedeutet wesentlich die Nichtidentifikation des Staats mit einer beliebigen religiösen oder nichtreligiösen Weltanschauung unter der Voraussetzung, dass diese die zentralen Grundlagen des GG, insbesondere den Gewaltverzicht, akzeptiert. Gleichbehandlung und Nichtidentifikation umfassen alle wesentlichen Aspekte der religiös-weltanschaulichen Neutralität wie Äquidistanz, Verbot der Einmischung in innere Belange der Organisationen, Verbot einseitiger Beeinflussung, Verbot von Diskriminierung und Privilegierung, religiös-weltanschauliche Inkompetenz des Staats. Gleichbehandlung und Nichtidentifikation sind allerdings nicht identisch. Staaten können Religionsfreiheit mit Abstufungen kennen, also insoweit ungleich sein, sich aber trotzdem inhaltlich mit keiner identifizieren. Das ist auch in Deutschland wegen der Unterscheidung von Gemeinschaften mit und ohne Körperschaftsstatus grundsätzlich der Fall, mögen auch die rechtliche Bedeutung und die Auswirkungen dieses Status umstritten sein [s. Körperschaftsstatus].

3. Verbot einseitiger Beeinflussung

a) Das Beeinflussungsverbot [s. näher Glaubensfreiheit III, V-VII] schützt den Innenbereich der religiösen und nichtreligiösen Richtungen und ihrer Anhänger vor unzulässigen Einwirkungen. Das Problem dabei ist die Feststellung, wo die Grenze zwischen Unparteilichkeit und unzulässiger Einflussnahme der öffentlichen Hand verläuft, anders ausgedrückt, ob Differenzierungen zulässig sind bzw. ob ggf. die Intensität der Einflussnahme eine Rolle spielt. Das BVerfG hat sich meist mit der floskelhaften Bemerkung begnügt, entscheidend sei, ob eine gezielte Beeinflussung vorliegt. Aber wann ist eine solche Einflussnahme gezielt? Viel wirkungsvoller als direkte Verhaltensweisen können mittelbare und unterschwellige Einflussnahmen sein, die Betroffene vielleicht gar nicht bemerken. Da ist die von Justiz und Literatur häufig benutzte These, der Staat dürfe keinesfalls indoktrinieren, nicht hilfreich. Aus solchen vagen Äußerungen ist zu schließen, dass "weiche" Beeinflussungen, die unaufdringlich sind, eben doch zulässig sein sollen. Das wird unterstrichen durch die auch in der Literatur oft wiederholte Aussage des BVerfG, in sogenannten christlichen Gemeinschaftsschulen dürfe der Unterricht außerhalb des Religionsunterrichts nur ein "Minimum an Zwangselementen" enthalten. Damit wird aber eingeräumt, dass eben doch gewisse religiös-weltanschauliche indirekte Zwänge ausgeübt werden dürfen (s. Christliche Gemeinschaftsschulen).[17] Das ist keine Gleichbehandlung, sondern Ausdruck einer religiös ausgerichteten, wenngleich weltanschaulich toleranten Schule. Toleranz ist aber nicht Neutralität, sondern historisch nur der Vorläufer echter Glaubensfreiheit. Diese wurde erstmals in der Weimarer Verfassung (s. dort) verwirklicht. Das Problem der einseitigen staatlichen Beeinflussung tritt auch in anderen Zusammenhängen auf, etwa im Erziehungsbereich beim Kreuz in der Schule, beim Schulgebet, beim islamische Kopftuch, beim allgemeinen Unterricht. Auch die Frage der Zulässigkeit staatlicher Warnungen vor manchen Religionsgemeinschaften (s. Glaubensfreiheit III.) gehört zu dieser Thematik.

Das Verbot einseitiger Einflussnahme gilt somit gleichermaßen als objektiv-rechtliches Verbot und als grundrechtlicher Anspruch, der in Art. 4 I GG verankert ist.

b) Objektiv-rechtlich gilt nach richtiger Ansicht ein striktes Verbot jeglicher staatlicher einseitigen Einflussnahme, obwohl noch vielfach versucht wird, es in ein Toleranzgebot umzubiegen im Hinblick auf religionsfreundliche Artikel des GG mit inkorporierter WRV. Aber der Hinweis auf den staatlichen Religionsunterricht (Art. 7 III GG) [ s. dort], das Steuererhebungsrecht (Art. 140 GG/137 VI i. V. mit Art. 137 V WRV) [s. Kirchensteuerrecht], den Schutz der Sonn- und Feiertage (Art. 139 WRV) [s. Sonn- und Feiertage], die Möglichkeit der Anstaltsseelsorge und Militärseelsorge (Art. 141 WRV), die teilweise umstrittene und nicht garantierte Universitätstheologie und schließlich die Nennung Gottes in der GG-Präambel [s. Präambel und Gott] sind nicht geeignet, religionsprivilegierende Differenzierungen zu ermöglichen. Die Präambel beruft sich nicht auf Gott, sondern weist lediglich auf ein Motiv der meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rats im Jahr 1949 hin. Das Sonn- und Feiertagsrecht  ist kein Ausdruck einer religiösen Intention des GG, sondern dient "der Arbeitsruhe" und "seelischen Erhebung". Die übrigen angeführten Regelungen gelten gleichermaßen für religiöse wie nichtreligiöse Richtungen (Art. 137 VII WRV, 4 I GG). Ansatzpunkte für Differenzierungen enthält das GG nicht. Auch gäbe es für solche keine akzeptablen Kriterien.[18]

c) Grundrechtlich ist das Einflussnahmeverbot Bestandteil des Grundrechts aus Art. 4 I, II GG, und zwar des Aspekts der Glaubensfreiheit [s. dort], der den menschlichen Innenbereich (forum internum) schützt. Da das bloße Denken und Fühlen keinerlei Auswirkungen auf die Außenwelt hat, gibt es keine Rechtfertigung für eine Abstufung der strikten grundrechtlichen Schutzfunktion. In der Praxis kann strikte Neutralität in dieser Hinsicht insbesondere im Erziehungsbereich nur annähernd erreicht werden. Z. B. können historische oder andere Tatsachenbehauptungen ungeklärt oder falsch sein, und genaue sprachliche Vermittlung ist ohnehin schwierig. Das ändert nichts am Beeinflussungsverbot und der Verpflichtung, diesem nahezukommen.

4. Neutralität der Begründbarkeit oder Wirkungsneutralität

a) Gesetze und andere Rechtsnormen müssen religiös-weltanschaulich neutral sein. Die Einhaltung der Neutralität ist vom BVerfG auf Antrag bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften auf die inhaltliche Vereinbarkeit mit dem GG zu prüfen. Voraussetzung ist dabei u. a. das formgültige Zustandekommen des Gesetzes. Es genügt, dass die erforderliche Mehrheit erreicht wurde, ohne dass es auf die Qualität der Debatten ankommt. Zwar sind Abgeordnete als Träger eines öffentlichen Amtes an sich gehalten, ihren Beitrag auch bei religiöser Motivation an der erforderlichen Neutralität zu orientieren. Das ist zwar häufig nicht der Fall, wie man zahlreichen dokumentierten persönlichen Erklärungen entnehmen kann. Die Neutralitätsforderung stellt ja an die Abgeordneten sehr hohe Anforderungen, die viele wegen weltanschaulicher Überzeugungen überfordert. Das sanktioniert die Rechtsordnung aber nicht und wäre auch wegen des Dauerkonflikts zwischen dem durch die Parteistaatlichkeit (Art. 21 GG) bedingten Fraktionszwang und der persönlichen Gewissensfreiheit (Art. 38 I GG) nicht möglich. Es genügt daher, wenn das Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens verfassungsgemäß ist oder doch entsprechend ausgelegt werden kann (verfassungskonforme Auslegung, s. Auslegung III). Es ist daher nicht ganz korrekt, wenn von Begründungsneutralität gesprochen wird: es geht um nachträgliche Begründbarkeit.

Diesem Neutralitätsverständnis liegt folgender Gedanke des Neutralitätsliberalismus [s. Liberale Rechtstheorie] und gleichzeitig des GG zugrunde:

Staatliche Rechtsnormen und Beschränkungen der persönlichen Handlungsfreiheit (vgl. Art. 2 I GG) sowie generell das staatliche Handeln sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie sich auf Argumente zurückführen lassen, die keine speziellen religiösen oder nichtreligiösen weltanschaulichen Überzeugungen voraussetzen.

b) Ein wohl kleiner Teil der Rechtslehre hält das nicht für ausreichend und verfolgt den Gedanken der Wirkungsneutralität, der neutralen Auswirkung von staatlichen Normen und Entscheidungen. Das überzeugt aber besonders für den religiös-weltanschaulichen Bereich nicht. Die Auswirkungen von weltanschaulich-ideologisch irgendwie bedeutsamen Entscheidungen auf die verschiedenen Vereinigungen und Bürger sind zwangsläufig stets unterschiedlich. Es gibt aber keine Kriterien, nach denen ggf. nachteilige Wirkungen auf einzelne Überzeugungsträger ausgeglichen werden könnten. Vor allem würde die These der Wirkungsneutralität die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 I GG) aushebeln und den freien Wettbewerb der Ideen beeinträchtigen. Es gilt eben: "Gleichheit differenziert".[19] Wenn Auswirkungen aus Gründen der Gerechtigkeit und Fairness manchmal untragbar erscheinen würden, müsste dem durch einen allgemein zu rechtfertigenden Sondertatbestand bzw. Ausnahme- oder Befreiungsregelungen Rechnung getragen werden.

5. Offene und distanzierende Neutralität

Auch die gern propagierte pluralistisch-offene Neutralität kann nur bedeuten, dass insbesondere die Schule die wesentlichen religiös-weltanschaulichen Richtungen ohne Wertung berücksichtigt, wobei die vermittelten Tatsachen zutreffen müssen und nicht einseitig ausgewählt sein dürfen. Die besonders vom BVerfG ständig wiederholte Ansicht, die dem Staat gebotene insbesondere schulische Neutralität sei "nicht als eine distanzierende im Sinn einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen"[20], ist mindestens irreführend. Wenn Lehrer alle Bekenntnisse gleichermaßen fördern sollen (ohne sich mit einem zu identifizieren), so muss das bedeuten, dass areligiöse Bekenntnisse (z. B. naturalistische) in gleicher Weise und gleichzeitig gefördert werden (Art. 3 I, 4 I GG,140 GG/137 VII WRV). Der Grad der selbstverständlich zulässigen Berücksichtigung religiös-weltanschaulicher Fakten muss von der Schule je nach historischen Gegebenheiten und äußeren Umständen variiert werden können. Für den Bereich der Justiz hat auch das BVerfG die distanzierende Neutralität hervorgehoben.[21]

Im Ergebnis ist in Abweichung von der h. M. hervorzuheben, dass der Gesetzgeber die Frage der in Sachen Religion und nichtreligiöse Weltanschauung zu praktizierenden Aspekte der offenen oder distanzierenden Neutralität je nach Sachbereich unterschiedlich regeln kann. Feste verfassungsrechtliche Regeln gibt es dazu nicht.

6. Abgrenzungen

Man muss leider betonen, dass Neutralität und Toleranz (s. dort) keinesfalls synonym gebraucht werden dürfen. Toleranz ist auch nicht, wie oft behauptet wird, ein Verfassungsprinzip. Neutralität liegt (nach einem ggf. diffizilen gedanklichen Prozess) entweder vor oder nicht. Toleranz ist ein staatsbürgerlich-ethisches Prinzip. Neben dem grundrechtlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist es in der Grundrechtsdogmatik überflüssig.

Das Gebot der Trennung von Staat und Religion (s. Trennungsgebot) und das Neutralitätsgebot hängen eng zusammen und sind beide in Art. 137 I WRV enthalten: "Es besteht keine Staatskirche". Die Begriffe unterscheiden sich aber klar. In erster Linie bedeutet die Vorschrift nach allgemeiner Ansicht die formale Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften. Es dürfen keine institutionellen Verflechtungen vorliegen, was aber neutrale Kooperationen nicht ausschließt. Neutralität bedeutet hingegen inhaltliche Distanzierung von allen Richtungen: keine Staatskompetenz, Nichtidentifikation, Äquidistanz, Unparteilichkeit).

Der immer noch auch verwendete Begriff Parität bedeutet Gleichbehandlung. Er ist ein Relikt der historischen Entwicklung und bezog sich auf die bis 1919 geltende gestufte Gleichbehandlung der wenigen anerkannten Religionsgemeinschaften dem Grunde nach. Er hat heute keine sachliche Bedeutung mehr und ist überflüssig.

7. Ergebnis

a) Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staats und die umfassende Religions- und Weltanschauungsfreiheit (s. Weltanschauungsfreiheit) bilden das Zentrum des deutschen Religionsverfassungsrechts. Neutralität und Freiheit sind die Kehrseiten einer Medaille. Die Neutralität hat eine sehr solide Basis im Grundgesetz, nämlich in den Artikeln 3 I, III; 4 I; 7 V; 33 III GG. Sie werden verstärkt und ergänzt durch Art. 140 GG, der fast alle Kirchenartikel der WRV von 1919 in das GG als dessen gleichberechtigter Bestandteil übernommen ("inkorporiert") hat. Die Neutralität gebieten nahezu ausdrücklich Art. 136, 137 III und 137 VII. Das Trennungsgebot im Sinn organisatorischer Trennung hängt eng mit der Neutralität zusammen (s. Trennungsgebot II).

b) Neutralität bindet Bund, Länder und Kommunen mit allen öffentlichen Einrichtungen als striktes objektiv-rechtliches Gebot. Zum Geltungsbereich der Neutralität gehören aber nicht abweichende Sonderregelungen (Hauptbeispiel: öffentliche Bekenntnisschulen). Das Neutralitätsgebot ist eine zwingende Rechtsregel, die keine Differenzierungen erlaubt wie etwa das Sozialstaatsprinzip. Es gibt nicht verschiedene Arten des Neutralitätsbegriffs, sondern nur ein Neutralitätsgebot als Gleichheitsgebot.

c) Das Hauptproblem ist die Frage, welche ähnlichen Sachverhalte auf rechtliche Gleichheit oder Ungleichheit zu untersuchen und wie die sich manchmal zahlreich ergebenden Aspekte richtig zu würdigen und gegeneinander verhältnismäßig abzuwägen sind. Dabei spielen die jeweiligen Lebensbereiche (z. B. Schule, Religionsförderung) sowie äußeren Umstände eine große Rolle. Die Einzelaspekte sind zahlreich. Beispiele sind die unzulässige Anknüpfung an religiös-weltanschauliche Sachverhalte (Art 3 III GG), offene oder distanzierende Neutralität, Diskriminierung, Privilegierung, Nichtintervention, Integration, Chancengleichheit, Gemeinwohl, Zulässigkeit von Differenzierungen. All diese diffizilen Fragen sind im Vorfeld der Entscheidung zu prüfen, wobei sich auch Spielräume für zulässige Lösungsvarianten ergeben können. Ist die Schlussentscheidung gefallen, ist sie bis zu einer Gesetzesänderung oder einer Ungültigerklärung durch das BVerfG endgültig. Die Rechtsprobleme sind keine anderen wie beim Allgemeinen Gleichheitssatz.

Hinsichtlich der bekannteren Einzelprobleme wie Kreuze in Schulen und Ratssälen, islamische Kopftücher, Religionsförderung usw. wird auf die anschließenden Stichworte verwiesen.

Christliche Gemeinschaftsschulen; Glaubensfreiheit; Kopftuch; Kreuz im Klassenzimmer; Kreuz in Amtsräumen; Liberale Rechtstheorie; Privilegien; Religionsförderung; Toleranz; Weltanschauungsfreiheit

Literatur:

  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Religion im säkularen Staat, Universitas 1996,990-998.
  • Bornemann, Elias: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Tübingen 2020. 306 S.
  • Czermak, Gerhard: Religiös-weltanschauliche Neutralität. Zur rechtsdogmatischen Klärung und zur deutschen Realität. Baden-Baden, 2023, 194 S.
  • Czermak, Gerhard: Siebzig Jahre Bundesverfassungsgericht in weltanschaulicher Schieflage, Baden-Baden 2021, 141 S.
  • Czermak, Gerhard/Hilgendorf, Eric: Religions- und Weltanschauungsrecht, 2. Aufl. 2018, S. 91-104.
  • Dreier Horst: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. München 2018, 256 S. (zur Neutralität S. 95-139).
  • Heinig, Hans Michael: Verschärfung der oder Abschied von der Neutralität? JZ 2009, 1136-1140.
  • Huster, Stefan: Neutralität ohne Inhalt? Zu Hans Michael Heinig JZ 2009, 1136 ff., in: JZ 2010, S. 354–357.
  • Huster, Stefan: Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002 /2017, 764 S.
  • Huster, Stefan: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates. Das Kreuz in der Schule aus liberaler Sicht. In: Brugger, W./Huster, S. (Hg.): Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998, 69-108 (schwerpunktmäßig eine rechtsphilosophische Begründung des Neutralitätsliberalismus).
  • Jarass/Pieroth, GG, 17. A. München 2022, 1429 S.; 18. A. 2024 (Kommentar).
  • Nolte, Achim: Das Kreuz mit dem Kreuz, JöR 2000, 87-116.
  • Nolte, Achim: Der richtige Weg von der "versorgenden" zur "vorsorgenden" Neutralität. Die bayerischen Schulkreuze auf dem Prüfstand des BVerwG. NVwZ 2000,891-894
  • Renck, Ludwig: Die unvollkommene Parität, DÖV 2002,56-67.
  • Schlaich, Klaus: Konfessionalität - Säkularität - Offenheit. Der christliche Glaube und der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat. In: ders.. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1997, 423-447. Erstveröff. in T. Rendtorff (Hrsg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985, 175-198.
  • Unruh, Peter: Religionsverfassungsrecht, 4. A. 2018 (zum Neutralitätsgebot S. 65 f.).
  • Walter, Christian: Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, 3. A. 2020, Bd. I (HSKR), 727-760.

 


  • [1] G. Czermak, Neutralität, 2023, 43-72.
  • [2] BVerfGE 6, 309.
  • [3] BVerfGE 12, 1
  • [4] Art 4 I GG: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."
  • [5] Art. 3 III GG: "Niemand darf wegen seines Geschlechts … seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden …"
  • [6] Art. 33 III GG: "Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen."
  • [7] Art. 136 I WRV: "Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt." Art. 126 IV WRV: "Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zu einer Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden."
  • [8] Art. 137 I WRV: "Es besteht keine Staatskirche".
  • [9] Art. 137 VII WRV: "Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen."
  • [10] Etwa Dreier GG Bd. 1, 4. A. 2023; Jarass/Pieroth GG, 18. A. 2024.
  • [11] Horst Dreier etwa sagt gleich zu Beginn seiner konzisen Neutralitätsabhandlung in Dreier, Staat ohne Gott (2018), S. 95, das BVerfG habe in seiner Judikatur das Neutralitätsgebot "eher vernachlässigt".
  • [12] Dazu aber G. Czermak, Religiös-weltanschauliche Neutralität, 2023, insb. 43-72.
  • [13] § 28 AGO, GVBl S. 873.
  • [14] Zur Fraglichkeit dieser Ansicht unten III 3.
  • [16] In diese Richtung auch Huster, Neutralität, 2002/2017, 134 und Unruh, Religionsverfassungsrecht, 4. A. 2018, 66.
  • [17] Wie juristisch unausgereift und widersprüchlich die Rechtsprechung des BVerfG zu den Christlichen Gemeinschaftsschulen bei genauer Analyse ist, wurde dargelegt in G. Czermak, Neutralität, 2023, 49-51 und eingehender in G. Czermak, Schieflage, 2021, 46-50. Dennoch stellte diese Rechtsprechung 1975 einen Fortschritt dar.
  • [18] Zu diesen kooperativen Momenten des Religionsverfassungsrechts genauer G. Czermak, Neutralität, 2023, 113-121 und in G. Czermak, Neutralität, 2023, S. 111-121.
  • [19] M. Heckel, Gleichheit oder Privilegien? Tübingen 1993, 49.
  • [20] BVerfGE 41, 29 (49); 93, 1 (16) und öfters.
  • [21] BVerfGE 153, 1 (Kopftuch einer Rechtsreferendarin).

Neutralität, religiös-weltanschauliche

© Gerhard Czermak / ifw (2023)