Recht, Moral und Religion

I. Normenbezogene Themenkomplexe

Zum Verständnis der Grundmechanismen eines modernen Staates wie dem des GG und seiner Gesellschaft ist eine korrekte Vorstellung über die grundlegenden Zusammenhänge unerlässlich. Die Bereiche Recht und Moral betreffen jeweils verhaltensregulierende Normen, d. h. Regeln mit Verbindlichkeitsanspruch, die auch religiös begründet sein können bzw. auf deren Inhalt Religion Einfluss zu nehmen versucht. Ohne die strikte äußerliche Unterscheidung von Moral und Recht ist zumindest kein halbwegs demokratischer Staat möglich. Allerdings kannten im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung schon archaische Gesellschaften diese Unterscheidung, wie William Seagle schon 1941 in seiner "Weltgeschichte des Rechts" eingehend dargestellt hat. Je größer die Verquickung von Moral und Recht, desto stärker der totalitäre Zug des Systems (Gottesstaaten, Weltanschauungsdiktatur).

II. Moralnormen und Rechtsnormen

1. Die Begriffe "Moral" und "Ethik" werden häufig unterschiedslos gebraucht. Unterscheidet man, so versteht man unter Moral meist den Inbegriff der moralischen ("sittlichen") Normen und die persönlichen Wertvorstellungen, während unter Ethik die Moralphilosophie mit ihren Versuchen der Systematisierung und Begründung moralischer Systeme (religiöse Ethik, rationale Ethik, utilitaristische, Pflichtethik usw.) zu verstehen ist. Moralnormen sind gesellschaftliche Normen. Die konventionellen, also eine Gesellschaft prägenden Moralnormen (ihrerseits zu unterscheiden von bloßen Gebräuchen), setzen sich durch, weil sonst gesellschaftliche Nachteile drohen: sie erzeugen sozialen Druck. Die rechtlichen Normen werden demgegenüber (bei vereinfachter Sichtweise) durch die organisierte staatliche Gewalt allgemein angeordnet. Bei Nichtbefolgung drohen konkrete staatliche Zwangsmaßnahmen oder verbindliche Schlussfolgerungen mit negativer Auswirkung (formelle Sanktionen). Neben der unterschiedlichen Art der Verbindlichkeit ist hervorzuheben, dass Rechtsnormen planmäßig geändert werden können (dynamischer Charakter), während moralische Normen sich nur langsam und nicht planmäßig ändern (statischer Charakter). Auch betreffen Rechtsnormen tendenziell das äußere Verhalten, während moralische Normen sich mehr auf die Handlungsmotive beziehen. Und schließlich ist die Befolgung von Moralnormen letztlich doch eine Sache der individuellen Entscheidung, während Rechtsnormen stets allgemein gelten.

2. Zwischen Sozialmoral (Pflichtmoral) und Recht gibt es ungeachtet ihrer Verschiedenheit wichtige Zusammenhänge. In beiden Bereichen wird die Normbefolgung als Befolgung einer bloßen Pflicht angesehen, so dass auch das Vokabular ähnlich ist: "Recht", "Verpflichtung", "Verbot". Es gibt starke inhaltliche Überschneidungen, weil sich die moralischen Gebote und rechtlichen Gebote (z. B.: Niemanden ohne guten Grund zu schädigen) häufig auf dieselben Handlungen beziehen. Das betrifft bei den Moralgeboten insbesondere diejenigen der konventionellen Sozialmoral, die vom allergrößten Teil der Gesellschaft zumindest theoretisch übereinstimmend als "gültig" anerkannt werden. Daher wird auch oft gefordert, die Befolgung dieser Normen einer Pflichtmoral (im Gegensatz zur darüber hinausgehenden Tugendmoral) zusätzlich durch Institutionalisierung im Rechtssystem sicherzustellen. Das Recht muss demnach mindestens dieses moralische Minimum garantieren: Schutz vor Gewalt, vor willkürlichen Staatseingriffen, Beschränkung menschlichen Handelns im wechselseitigen Interesse usw. Es besteht Einigkeit darüber, dass kein Rechtssystem auf Dauer bestehen kann, wenn es nicht u. a. bestimmten moralischen Mindeststandards genügt (interne Moral). Das Recht bedarf einer Grundakzeptanz, wenn die Gesellschaft eine halbwegs freie sein soll. Die Frage ist, ob und inwieweit Religion dabei eine Rolle spielen soll.

III. Rolle der Religion und Integrationsproblematik

1. Welche politische und zerstörerische Gewalt religiös-weltanschauliche Ideen entwickeln können, sieht man an alten theokratischen Systemen und an "politischen Religionen" wie dem Stalinismus und der NS-Herrschaft. Heute wird das am Gottesstaat Iran und den diversen aktuellen religiösen Fanatismen deutlich (z. B. Islamismus, Kreationismus), und sie werden nicht dadurch besser, dass man sie als pseudoreligiös bezeichnet. Religiöse Ideen erzeugen ein gemeinschaftliches Vorverständnis und erbringen eine wichtige Integrationsleistung – aber nur für Diejenigen, die das Vorverständnis teilen. Religiöse Ideen beeinflussen aber die unbefangene Betrachtung natürlicher Gegebenheiten ("Heilige Kühe"; schwarze Katzen als Teufelstier; "Atheisten" als unmoralisch). Gleichartige Vorgänge werden unterschiedlich bewertet, je nachdem, welcher Seite sie nutzen oder schaden (Beispiel: Mission). So schaffen Weltbilder Handlungsmotivationen und legitimieren das Handeln. Sie prägen die Vorstellung von "Gerechtigkeit" (z. B.: Bestrafung des "Unglaubens", der "Hexerei", der Homosexualität). Die Schaffung von Orientierungsgewissheit bei der Bevölkerung einerseits, der Machtwille sowohl der politischen Herrscher als auch der religiösen Organisationen andererseits führten zum politischen Konzept der Glaubenseinheit unter staatlicher Absicherung der Religion durch das Recht (Instrumentalisierung der Religion). Aber diese Integration durch Religion wurde und wird erkauft durch Intoleranz gegen Andersdenkende bis zur Liquidierung. Und in etwa der Hälfte aller heutigen zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen spielt Religion direkt oder indirekt eine erhebliche Rolle; solche Kriege werden besonders unerbittlich geführt. Erst als Resultat der europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jh. hat sich das Erfordernis einer zunächst nur notgedrungen friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Konfessionen (unter Ausschluss aller anderen) ergeben. Aus der Sorge des Staates um das Seelenheil wurde die Förderung der christlichen Konfessionen aus rein staatlichen Erwägungen und schließlich die Anerkennung individueller Religionsfreiheit.

2. Jeder ernsthafte Mensch braucht eine religiös-weltanschauliche Grundorientierung und entwickelt unter Einbeziehung seiner Herkunft, Erziehung, der gesellschaftlichen Traditionen, seiner Lebensumstände, Kenntnisse und individuellen Persönlichkeit eine mehr oder weniger bestimmte religiöse Weltsicht oder eine nichtreligiöse Weltanschauung. Daraus ergibt sich das Problem, ob und wie die unterschiedlichen Weltsichten in Gesellschaft und Recht zur Geltung gebracht werden sollen, ohne deren Gesamtbestand zu gefährden. Es geht mit anderen Worten um die ausreichende Integration von Staat und Gesellschaft in einer Zeit des zunehmenden religiös-weltanschaulichen Pluralismus. Aber gerade die religiösen Systeme haben schon immer die herrschende Sozialmoral und direkt oder indirekt auch das Recht stark beeinflusst. Das gilt in wichtigen Restbeständen selbst in einer so weitgehend säkularisierten Gesellschaft wie der deutschen, wie die Kämpfe und Krämpfe in Fragen der Bioethik (Schwangerschaftsabbruch, Gentechnik, Humanes Sterben), des Familienrechts, Bildungswesens usw. beweisen. Der Einfluss der Religion auf die Sozialmoral und das Recht ging auch in Deutschland seit der 2. Hälfte des 20. Jh. stetig, wenn auch mit teilweise starken Rückwärtsbewegungen, zurück, die Pluralisierung nimmt zu. Umso wichtiger wird die Frage nach der Integration einer so unterschiedlichen Gesellschaft. Ohne das Rechtssystem bräche die Gesellschaft zusammen. Wodurch aber werden die Menschen gesteuert, damit sie die Rechtsnormen im Großen und Ganzen befolgen? Die Steuerung geschieht durch äußere Einwirkung (Außensteuerung), aber auch durch die grundsätzliche Übereinstimmung der eigenen Überzeugung mit den Rechtsnormen (Innensteuerung): Man wendet keine Gewalt an und entzieht sich der Arbeitsleistung nicht durch Vortäuschung einer Krankheit, weil das pflichtwidrig, "unmoralisch" wäre. Je mehr Menschen gleichartige Grundwerte anerkennen, die zudem der Rechtsordnung entsprechen, umso weniger äußerer Zwang oder Motivation durch äußere Vorteile (z. B. finanzielle Vorteile) ist notwendig.

IV. Zur Lösung des Integrationsproblems

1. Entscheidend für die Freiheitlichkeit eines sehr pluralistischen und doch funktionierenden Staats ist somit eine ausreichende innere Verankerung von Grundüberzeugungen, die – trotz großer Verschiedenheit von Gruppen und Individuen – dennoch von möglichst allen Staatsbürgern geteilt oder doch als gerecht akzeptiert werden können. Es geht darum, welche Folgerungen aus einem zu Recht vielzitierten Satz des Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde gezogen werden müssen. Dieses "Böckenförde’sche Dilemma" lautet in Kurzfassung: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Das verweist auf die in der Gesellschaft wirkenden höchst unterschiedlichen Kräfte zurück. Daraus ergibt sich aber keineswegs die Legitimation dafür, dass der Staat die Religionen, speziell die christlichen Kirchen, einseitig in besonderer Weise fördert, wie kirchliche und konservativ-politische Interessenvertreter das grob irreführend und entgegen der Aussage Böckenfördes immer wieder behaupten.[1] Es geht vielmehr darum, dass alle Gruppierungen mit ihrem je eigenen, auch moralischen, Selbstverständnis zur Integration eines Teils der Gesellschaft bei tragen. Sie alle müssen aber in die Lage versetzt werden, den Staat möglichst als auch ihre "Heimstatt" (so das BVerfG) zu empfinden.

Das ist aber nur im Rahmen fundamentaler rechtlicher Grundregeln möglich, die von allen als gerecht akzeptiert werden können. Das setzt voraus, dass sich alle – ungeachtet ihrer im Einzelnen höchst unterschiedlichen persönlichen Moralvorstellungen – auf der Ebene des Rechts als gleichberechtigte Rechtsgenossen anerkennen. Genau das ist der Grundgedanke des Grundgesetzes. Dieses sucht seine Legitimation nicht mehr in Religion und Weltanschauung, wie auch Böckenförde klarstellt, sondern der Staat hat keinerlei religiösen Zweck. Er bietet allen Bürgern und auch religiös-weltanschaulichen Vereinigungen die gesicherte Möglichkeit, auf der Basis gleicher formaler Rechte im Rahmen der Basiskriterien (Grundrechte, Demokratie, Friedenssicherung usw.; s. näher unter Grundgesetz, Grundprinzipien) für ihre jeweils speziellen bzw. persönlichen Vorstellungen von einem guten Leben (etwa in bioethischen Fragen, in der Sexualität, in der Gottesfrage) zu werben und sie zu verwirklichen. Allerdings sollen sie dabei nicht anderen ihre spezielle Moral aufnötigen. Keinesfalls dürfen sie das mit staatlichen Mitteln (was in der Praxis vielfach missachtet wird) und sie dürfen niemals gegen die unerlässlichen Basiskriterien des Staats als Heimstatt aller Bürger verstoßen. Andererseits soll möglichst niemand gezwungen werden, gegen Glaubenspflichten zu verstoßen. Beispiel: wer aus religiösen Gründen leidensmindernde Maßnahmen mit lebensverkürzender Nebenwirkung ablehnt, soll nicht dazu gezwungen werden. Wer aber aus wohlerwogenen Gründen seinem Leben ein Ende setzen will, soll das tun dürfen, auch wenn andere das für schwer sündhaft halten. Der Glaube soll in den Diskurs möglichst nur mit säkularen, verallgemeinerungsfähigen Argumenten eingreifen. Bei einer wie beschrieben liberalen Organisation des Rechts kann und muss der Staat in der Lage sein, sein gesamtes Handeln grundsätzlich gegenüber jedermann rational rechtfertigen können. Eine spezielle Ideologie – außerhalb seiner eigenen Basisregeln – darf er weder vertreten, noch fördern. Eine "Zivilreligion" im engeren Sinn kennt das GG nicht. Dieses sich klar aus dem Text und Geist des GG ergebende Konzept bringt Moral, Religion und Recht vorbildlich zum Ausgleich und belässt ihnen ihre jeweilige Bedeutung (s. näher Liberale Rechts- und Staatstheorie).

V. Staatsbürgerliche Moral

Wenn diese Basisregeln aus Gründen der formalen Gerechtigkeit und der Sicherung des inneren und äußeren Friedens von allen Teilen der Gesellschaft aus Einsicht anerkannt werden, so sind sie verinnerlicht und somit zu einer staatsbürgerlichen Moral geworden. Dann sind die individuellen und z. T. konträren speziellen Moralvorstellungen keinerlei Gefahr mehr für die Integration von Gesellschaft und Staat. Diese staatsbürgerliche Moral könnte man auch Verfassungspatriotismus nennen. Bisher ist jedoch leider der Grad der staatsbürgerlichen Grundkenntnisse bzw. der Bereitschaft, sie anzuerkennen, insgesamt beklagenswert gering. Insbesondere das Verhalten allzu vieler politischer Mandatsträger lässt wenig Verfassungspatriotismus in obigem Sinn erkennen. Denn machtpolitische Interessen gelten ihnen gerade in ideologischen Fragen mehr als die Anforderungen liberaler Gerechtigkeit. Es wäre daher höchst dringlich, die notwendigen Kenntnisse und Einsichten in unserem Bildungswesen endlich zu verbreiten. Die z. T. kulturkampfartigen und demagogischen Auseinandersetzungen um religiöse Symbole, Ethik- und Lebenskundeunterricht, Embryonenschutz und Humanes Sterben stimmen skeptisch. Zu viele Menschen haben noch nicht begriffen, welch hohes Gut unsere (richtig verstandenen) Verfassungswerte sind und dass man sie gegen Ideologen aller Art verteidigen muss.

>> Geschichte der Religionsfreiheit; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Liberale Rechtstheorie; Zivilreligion

Literatur:

  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der säkularisierte Staat: sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert. München 2007, 81 S.
  • Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Religion im säkularen Staat, Universitas 1996,990-998.
  • Braun, Johann: Recht und Moral im pluralistischen Staat, JuS 1994,727-732.
  • Huster, Stefan: Bioethik im säkularen Staat. Ein Beitrag zum Verhältnis von Rechts- und Moralphilosophie im pluralistischen Gemeinwesen, in: Zeitschrift für philos. Forschung 55 (2001), S. 258-276.
  • Koller, Peter: Theorie des Rechts, 2. A. Wien u. a. 1997, 255-294 (zu Recht und Moral).
  • Pawlowski, Hans-Martin: Recht und Glauben, Kirche und Recht 1998 Nr. 110, S. 93-112.
  • Raiser, Thomas: Recht und Moral, soziologisch betrachtet, JZ 2004, 261-266.
  • Rüthers, Bernd/ Fischer, Christian/ Birk, Axel: Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 9. A., München 2016.

  • [1] Eingehend und auch kritisch zum Böckenförde-Dilemma G. Czermak in http://hpd.de/node/8543. Dazu näher G. Czermak in: ders., Weltanschauung in Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit, 2016, 101-110.

© Gerhard Czermak/ ifw (2017)