Religionsbeschimpfung § 166 StGB

I. Zur Rechtsgeschichte der Gotteslästerung[1]

In früheren Zeiten wurde Blasphemie, z.T. auch die Lästerung der Gottesmutter oder von Heiligen, mit unterschiedlichsten und meist nicht genau festgelegten Strafarten belegt. Seit jeher haben ja Religionen die weltliche Herrschaft abgesichert, weshalb sie ihrerseits oft streng geschützt wurden. Das musste schon Sokrates erfahren, weil er die athenischen Staatsgötter ablehnte. Das Alte Testament verlangt die Steinigung (Lev 24,16). Zur Reformationszeit hat man viele Anhänger der Wiedertäufer-Bewegung ermordet, u.a. wegen des Vorwurfs der Gotteslästerung. Noch der bayerische Strafkodex von 1751 sah bei erstmaliger unmittelbarer Wortlästerung insbesondere Geld-, Gefängnis- oder öffentliche Schandstrafe vor, beim zweiten Mal ewige Landesverweisung und beim dritten Mal die Enthauptung. Bei Lästerung durch Werke hatte auch ohne Vortat Tötung mit dem Schwert zu erfolgen, bei Schändung einer Hostie durch lebendiges Verbrennen. Wesentlich milder sollte bei nur mittelbarer Lästerung vorgegangen werden. Das österreichische Strafgesetzbuch von 1769, die Theresiana, bezeichnete die Gotteslästerung als "das erste und ärgste" Laster und regelte sie in nicht weniger als 12 Paragraphen. Je nach Schweregrad gab es Leibstrafen bis zum Abschneiden von Zunge und Hand, ferner Enthauptung und Tod durch Verbrennen, ggf. mit Verschärfungen. Begehung durch Juden und andere "lasterhafte Leute" war ebenfalls strafschärfend. Die Josefina von Joseph II., dem Sohn Maria Theresias, führte Gotteslästerung mehr auf Unwissenheit und Verstandesverwirrung zurück, weswegen mit Einsperrung ins "Tollhaus" zu rechnen war. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 kannte nur noch Gefängnisstrafen bis sechs Monate und behandelte die diversen Delikte unter dem Aspekt der Beleidigung der Religionsgesellschaften. Das bayerische StGB von 1813 stellte nur noch die Störung des religiösen Friedens unter Freiheitsstrafe. Der Restaurationszeit ab 1815 boten die Religionsdelikte wieder eine willkommene Hilfe zur Unterdrückung freiheitlich-demokratischen Gedankenguts.

II. Gotteslästerung im Reichsstrafgesetzbuch von 1871

Das StGB von 1871 enthielt in § 166 folgende, bis 1969 geltende Regelung:

"Wer dadurch, dass er öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästert, ein Ärgernis gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten innerhalb des Reichsgebietes bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft, ingleichen wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft."

Bestraft wurde also das Erregen eines öffentlichen Ärgernisses in Form eines speziellen Religionsschutzes. Diese Regelung wurde gern als Zensurinstrument eingesetzt. Wilhelm Busch, Ludwig Thoma und andere bekamen das zu spüren. Die konservative Gesellschaftsordnung sollte nicht gefährdet werden. Die härteste Strafe erhielt Oskar Panizza 1895 mit einem Jahr Gefängnis für die Himmelstragödie "Das Liebeskonzil", nachdem man schließlich zwei Polizeibeamte gefunden hatte, die angaben, Ärgernis genommen zu haben. Zur Weimarer Zeit schrieb Kurt Tucholsky, wenn jemand Kirche und Humor in Zusammenhang bringe, fänden sich Domdechanten und Richter, die aus dem § 166 das Gewünschte herausinterpretierten. Zahlreiche bekannte Künstler und Dichter machten in den 1920er Jahren unliebsame Erfahrungen mit diesem Paragraphen. Am bekanntesten wurde der Prozess gegen George Grosz, der zwar aus subjektiven Gründen freigesprochen wurde, aber die Zerstörung seiner berühmten Zeichnung "Christus mit der Gasmaske am Kreuz" ("Maul halten und weiterdienen") wurde angeordnet. An ihr würde heute niemand Anstoß nehmen.

III. Reform von 1969: von der Gotteslästerung zur Störung des öffentlichen Friedens

Im Rahmen der Strafrechtsreform von 1969 wurde auch § 166 neu gefasst. Er lautet seitdem:

" I. Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 III) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. II. Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 III) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören."

"Gott" selber wird nicht erwähnt, ist also kein zu schützendes Rechtsgut mehr. Geschützt werden nicht Glaubensinhalte oder Religionsgemeinschaften und ihre Einrichtungen als solche, sondern nur, wenn öffentliche Beschimpfungen geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören. Diese Objektivierung, die das Anstoßnehmen eines Einzelnen mit der damit verbundenen Willkür weder erforderlich macht, noch genügen lässt, ist das entscheidend Neue. Gleichzeitig beseitigt die Neufassung die diskriminierende Tatsache, dass bei der Beschimpfung weltanschaulicher Bekenntnisse kein Schutz gegeben war. Dass die Vorschrift im praktischen Ergebnis bisher ohnehin nur die jeweilige Mehrheitsreligion begünstigt, ist eine andere Sache.

IV. Schwachstellen der heutigen Regelung

Die genannte Objektivierung ist freilich gleichzeitig die große Schwachstelle der Bestimmung. Kann es bei der Fülle an Darstellungsmöglichkeiten und eines je unterschiedlichen Umfelds schon schwierig sein, ungeachtet persönlicher Überzeugungen korrekt zu entscheiden, wann eine Beschimpfung oder ein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis im Rechtssinn vorliegt, so ist es noch schwieriger, ordnungsgemäß zu entscheiden, wann eine Handlung "geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören". Das zeigen deutlich die praktischen Auswirkungen des § 166. Gunnar Schedel hat sie 1997 eingehend und eindrucksvoll dokumentiert.[2] Er konstatiert eine relative Vielzahl von Verurteilungen unmittelbar nach 1968 und eine länger dauernde Phase nach der politischen Wende 1982, in der bei zunehmender Schwäche des christlichen Glaubens kirchliche Rückzugsgefechte mit Hilfe staatlicher Organe geführt wurden. Vielfach zielte das gegen auch politisch oppositionelle Gruppierungen. Schwerpunkte der Verfahren waren katholische Gegenden und insbesondere Bischofsstädte. Es kann in diesem Überblick nicht im einzelnen dargestellt werden, dass einzelne Verfahren nicht viel mit Rechtsanwendung und ordnungsgemäßer juristischer Begründung zu tun hatten, sondern nur abschrecken sollten.

So ist z.B. nicht einzusehen, warum im pluralistischen Staat die verfassungsrechtlich zulässige Religionsgegnerschaft nicht auch in der Form eines Aufklebers zum Ausdruck kommen darf, auf dem ein durchgestrichener Kruzifixus mit dem Text "Masochismus ist heilbar!" versehen ist. Denn beim Kreuz geht es unbestreitbar um Erlösung durch Leiden. Gegenstand etlicher humorloser Verfahren waren in den 1980 er Jahren Karikaturen, in denen ein freundlich grinsender beleibter Priester auf einem Arm Gott-Vater als Puppe empor hält. Das ist nichts anderes als eine Visualisierung der berühmten Feuerbach’schen These, wonach nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott geschaffen habe. Obwohl weder von einer Beschimpfung, noch gar einer Eignung zur Friedensstörung die Rede sein konnte, wurden 1984 in Freiburg i. Br. entsprechende Veranstaltungsplakate abgehängt und beschlagnahmt, Flugblattverteiler erkennungsdienstlich behandelt, Wohnungen durchsucht und anderes.[3] Nach 1 ½ Jahren wurden sämtliche 13 Verfahren eingestellt. Beim Besuch des Ratzinger-Papstes in Regensburg 2006 gab es unschöne Fälle von Zensur.[4] Das hat nachhaltige Verstörungen und Misstrauen gegen staatliche Organe zur Folge.

V. Praktische Bedeutung des § 166 StGB

Seit langem enden die meisten der angezeigten Fälle (wenn auch oft erst in zweiter Instanz) mit Freisprüchen, obwohl viele, insbesondere geschmacklose, Texte und bildliche Darstellungen geeignet sind, nicht nur Empörung bei "Rechtgläubigen", sondern manchmal auch Unmut bei Nichtgläubigen hervorzurufen. Gern wird aber vergessen, dass auch die Gefühle Nichtgläubiger nicht selten durch herabwürdigende Äußerungen zahlreicher auch hochrangiger Kirchenleute und Politiker verletzt werden. Richter haben aber zunehmend eingesehen, dass auch erhebliche Verletzungen religiöser Gefühle hingenommen werden müssen, wenn nicht die Freiheitlichkeit der Gesellschaft im Kern angetastet werden soll.

Die rein zahlenmäßige Bedeutung der Delikte ist nach der polizeilichen Kriminalstatistik gering. Im Zeitraum 2013-2017 waren es im Jahresdurchschnitt 74 Fälle. Verurteilt wurden im Jahr 2016 lediglich 16 Personen, inbegriffen die Fälle der Störung der Religionsausübung (§ 167 StGB).[5] Felix Schmidhäuser hat 2018 eine Serie von Gerichtsurteilen nachgewiesen.[6]

VI. Rechtliche Detailfragen

1. Der öffentliche Friede als Rechtsgut verlangt ein gesellschaftsverträgliches Mindestmaß an verhaltensleitender Toleranz, d. h. ein Verbot, soziale Gruppen aggressiv und damit gewaltfördernd auszugrenzen. Bestraft werden Verhaltensweisen, die deswegen gefährlich sind, weil sie bestimmten Gruppen der Bevölkerung, die durch Religion verbunden sind, den "Anspruch auf Teilhabe an gleichberechtigter Kommunikation" (Thomas Fischer) bestreiten. Dabei ergeben sich erhebliche Überschneidungen mit dem Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB). Nach § 130 I StGB wird bei Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens wie in § 166 mit bis zu drei Jahren bestraft, wer gegen Teile der Bevölkerung zum Hass aufstachelt oder gegen sie zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder ihre Menschenwürde dadurch angreift, dass er sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet.[7] Ein gewisser Bereich im Vorfeld des § 130 mag zwar trotz der erheblichen Überschneidungen der §§ 130 und 166 nur durch § 166 erfasst werden. Das wirft aber dennoch die Frage nach dem kriminalpolitischen Sinn der Aufrechterhaltung des § 166 auf (dazu später).

2. Unter Beschimpfen versteht man eine besonders gravierende herabsetzende Äußerung, auch in Form der Verhöhnung oder unwahrer Behauptungen. Dabei ist der Maßstab eines "objektiven" Betrachters anzulegen. Demgegenüber sind auch abschätzige Äußerungen und besonders scharfe, derbe Angriffe auf Glaubensinhalte erlaubt, wenn sie keine Beschimpfung in obigem Sinn darstellen. Das Verspotten oder Lächerlichmachen wurde in der Rechtsprechung aber dann untersagt, wenn es in aggressiver Weise geschieht. Schon die Rechtsprobleme des objektiven Tatbestands (Beschimpfung, Öffentlichkeit, Bekenntnis, Vorliegen einer weltanschaulichen Vereinigung, wichtige "Einrichtungen" wie z.B. Papsttum, Leiden Christi, Messopfer, Gebräuche) sind schon ohne die Problematik der Eignung zur Friedensstörung groß.

3. Das Merkmal der Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens ist besonders schwierig zu handhaben. Nach herrschender Rechtsmeinung muss die Wahrscheinlichkeit von Ausschreitungen der Betroffenen oder das Aufgreifen der Beschimpfungen durch Dritte gesteigert werden. Berechtigte Gründe für die Befürchtung, der öffentliche Frieden könnte gestört werden, reichen aus. Der konkrete Eintritt der Friedensstörung (auch Gewalt) wird nicht verlangt (abstraktes Gefährdungsdelikt). Mit Thomas Fischer ist aber zu betonen, dass in der Justizpraxis die Annahme einer solchen Wahrscheinlichkeit i.d.R. nicht empirisch bzw. kriminologisch ermittelt, sondern nach der Intensität der Beschimpfung und dem Maß zumutbarer Besonnenheit durch oft unklare Abwägungen bestimmt wird. So wird das abstrakte Sicherheitsgefühl der "vernünftigen" Bürger ein Entscheidungskriterium. Schmidhäuser betont die fehlende klare Abgrenzbarkeit von Beschimpfung und Eignung zur Friedensstörung. Er erklärt, dass "wenn selbst eine Realisierung der Gefahr für den Rechtsfrieden für die Bejahung der Störung des öffentlichen Friedens noch nicht ausreicht, diese im Umkehrschluss eben auch keine erforderliche Voraussetzung sein kann. Vielmehr muss das Merkmal des öffentlichen Friedens wie oben bereits ausgeführt als Schutzprinzip verstanden werden. Dieses Schutzprinzip ist dann aber dergestalt zu verstehen, dass das Merkmal nur als ‚Filterfunktion‘ zur Feststellung und einem restriktiven Verständnis des tatbestandlichen Beschimpfens auffordert …" Die Eignung zur Friedensstörung sei in Wirklichkeit kein eigenständiges Tatbestandsmerkmal.[8]

4. Nach allem ist deutlich geworden, dass eine korrekte Handhabung des § 166 besonders schwierig ist. Er bietet mehrere Einfallstore für persönliche Empfindungen und wissenschaftlich nicht begründete Annahmen. Die soziale Herkunft der überwiegend konservativen Richterschaft lässt vermuten, dass viele Richter und Staatsanwälte, erst recht Polizeibeamte wegen persönlicher zumindest unbewusster Vorurteile durch die Vorschrift überfordert waren bzw. teilweise immer noch sind. Etliche Urteile besonders der ersten Jahrzehnte nach 1969 erwecken den Eindruck der Willkür zugunsten von Christen und der großen christlichen Kirchen (s. einzelne Beispiele oben IV). Nicht wenige streng christlich orientierte Bürger (auch Polizeibeamte), insbesondere Kirchenmänner, haben sozusagen pflichtgemäß Anstoß genommen und hatten damit sogar Erfolg. Die Rspr. orientierte sich an christlich-katechetischen Glaubensinhalten, was heute lebensfremd geworden ist.

Seit längerem ist daher Ernüchterung in die Justiz eingezogen, so dass heute auch grobe Geschmacklosigkeiten meist nicht strafrechtlich sanktioniert werden. Die ohnehin geringe Zahl der Verurteilungen ist stark zurückgegangen (s. oben IV). Der Islam scheint bisher keine Rolle gespielt zu haben, könnte aber wegen rigider Betätigung fundamentalistischer Gruppen noch Probleme bereiten.

Aufschlussreich ist die Dokumentation eines Münsteraner Rechtsfalls vom Jahr 2017 durch Daniela Wakonigg.[9]

VII. Rechtspolitische Überlegungen

1. Trotz aller Probleme des § 166 ist es zu einem Ritual mancher "christlicher" Politiker geworden, teilweise alljährlich und bevorzugt zu Wahlzeiten eine Verschärfung des § 166 zu fordern. Das Erfordernis der Eignung zur Friedensstörung soll entfallen, d.h. der Straftatbestand soll wieder auf den Schutz der Glaubensinhalte und religiösen Einrichtungen reduziert werden. Diese Reduktion auf das Merkmal der Beschimpfung würde eine unsachgemäße einseitige Anwendung zusätzlich erleichtern. Das wurde bisher stets politisch klar zurückgewiesen, auch von Konservativen. Der Entfall des Rechtsguts Friedensschutz würde durch das Rechtsgut der Einhaltung eines Mindestmaßes religiöser und weltanschaulicher Toleranz ersetzt werden. Ein Schutz von Glaubensinhalten über die §§ 185 ff. StGB hinaus wäre aber ein Sonderschutz für speziell religiöse Überzeugungen und daher verfassungswidrig. Für eine solche Privilegierung gibt das Grundrecht der Meinungsfreiheit keinen Anlass. Es läge ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot insbesondere des Art. 3 III GG (Anknüpfungsverbot) bzw. das Neutralitätsgebot vor. Es kann aber keinen religiösen Artenschutz geben, sondern die Religionen müssen sich wie alle anderen Geistesströmungen in der Gesellschaft argumentativ und praktisch behaupten. Ein Sonderschutz für religiöse Ansichten bezöge sich auf irrationale Glaubensinhalte und religiöse Gefühle. Das Beschimpfen hätte somit, worauf T. Fischer hinweist, keinen Gegenstand, der einer allgemeinen Verständigung zugänglich ist. Das bloße Vorliegen einer Beschimpfung ist ein schwer zu bewältigendes Kriterium. Es unterliegt dem Einfluss höchstpersönlicher Ansichten der Polizei und der Richter und genügt rechtsstaatlichen Anforderungen nicht.

Zur der nahezu grotesken Forderung vieler "christlicher" Politiker nach Verschärfung schrieb Thomas Fischer: "Würde man den Tatbestand des Paragrafen 166 des Strafgesetzbuchs ernst nehmen, müssten ständig Prozesse wegen "Beschimpfung" der Botschaften von fünfzig Religionen oder ihrer "Einrichtungen und Gebräuche" geführt werden. Durch Streichung des Erfordernisses der "Friedensstörung" würde das noch ausgeweitet, denn dann käme es bloß noch auf eine ganz abstrakte Gefahr an. Jeder durchreisende Hindu könnte mit Aussicht auf Erfolg Strafanzeige wegen Derwisch- oder Sadhu-Witzen erstatten."[10] Die Vorstellung, die zahlreichen Islamisten und ein größerer Teil der orthodoxen Muslime in Deutschland könnten sich auch gegenüber an sich legitimen Äußerungen auf § 166 StGB berufen, verursacht Unbehagen. Schon die bisherige Regelung lässt sich nicht ganz von Überlegungen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit eines Eintritts der Friedensstörung trennen. Es besteht die Gefahr, dass sich gerade solche Bekenntnisse auf § 166 stützen können, deren Anhänger fundamentalistisch und zumindest tendenziell besonders häufig gewaltbereit sind.

2. Rechtsstaatliche Überlegungen legen daher die von einer breiten Strömung längst geforderte Streichung des § 166 nahe. Das fordern auch prominente Juristen wie z. B. der spätere Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer oder Thomas Fischer. Das Strafrecht kennt verschiedene Tatbestände zum Schutz der Ehre bzw. des öffentlichen Friedens. Die §§ 126 und 140 ahnden die öffentliche Aufforderung von und die Befürwortung von schweren Straftaten, § 130 die Volksverhetzung. Die §§ 185 ff. sehen Strafen für Ehrverletzungen vor. Beim öffentlichen Frieden geht es um Stimmungen im Volk und Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Dabei ist Religion nur ein Unterscheidungskriterium neben vielen anderen wie ethnische Zugehörigkeit, körperliche Besonderheiten, Bewertungen von Problemen.[11] Dass die Religionen (nichtreligiöse Weltanschauungen berufen sich trotz Anfeindungen nie auf § 166), speziell die Kirchen, im religionsneutralen Staat eines besonderen zusätzlichen Schutzes bedürften, leuchtet nach allem nicht ein. Schon die geltende Regelung kann fatale Konsequenzen haben: Die Eignung zur Friedensstörung könnte die Rechtspraxis umso eher annehmen, je fundamentalistischer und aggressiver die betroffenen religiösen Gruppierungen sind. Mit den heutigen Kommunikationsmitteln haben diese leichter als früher die Möglichkeit, Menschen zu verhetzen und Massen zu mobilisieren, die leicht den Frieden stören, wenn sie Adressat von (auch berechtigter) Kritik werden. Es würden dann gerade Diejenigen strafrechtlich vor Kritik geschützt, die das am Wenigsten verdienen. Die Beurteilung der Eignung zur Friedensgefährdung darf nicht von der potentiellen Aggressionsbereitschaft der jeweiligen Gruppe abhängen. Kleinen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nutzt § 166 ohnehin nichts. Empirisch hat, so Thomas Fischer, § 166 nicht dem Schutz von religiösen Minderheiten gedient, sondern dem Schutz der Mehrheit vor ihnen.

Gegen eine Aufrechterhaltung des bisherigen § 166 StGB spricht ungeachtet der genannten enormen Rechtsprobleme zudem, dass die Vorschrift nur eine sehr geringe praktische Bedeutung als Auffangtatbestand neben den o.g. §§ hat (s. oben IV). Die Bedenken verstärken sich noch, wenn man berücksichtigt, dass andererseits schon der bisherige § 166 Fundamentalisten Möglichkeiten bietet. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass selbst die anderweitigen, rechtspolitisch anerkannten, Vorschriften zum Schutz des öffentlichen Friedens gegen gewaltbereite und Hetzreden führende gefährliche Salafisten (Rekrutierung von IS-Kämpfern) kaum eingesetzt wurden, so dass der Terrorismus durch Untätigkeit der staatlichen Strafverfolgung gefördert wurde.

Man kann sich guten Gewissens dem Schluss des Online-Artikels von Thomas Fischer anschliessen: Es gilt also nicht etwa, die "Friedensschutzklausel" in § 166 StGB zu streichen. Vielmehr sollte § 166 StGB ganz gestrichen werden. Ersatzlos.

Literatur

Siehe auch die ifw- Kommentare/Meldungen

© Gerhard Czermak/ ifw (2019)

 


  • [1] Eine ausführliche Darstellung unter besonderer Berücksichtugung Deutschlands bis 1969 bietet F. Schmidhäuser, ZJS 2018, Teil I a.a.O.
  • [2]  Reinsdorf, 1997, 67 ff.
  • [3] Hanno Kühnert, Südbadische Blasphemien, DIE ZEIT v. 22.2.1985
  • [5] Die Zahlen sind dem statistischen Bundesamt entnommen.
  • [6] F. Schmidhäuser a.a.O. 2018 Teil 2 S. 549.
  • [7] Die weiteren Absätze des § 130 befassen sich mit der Herstellung und Verbreitung entsprechender Schriften und mit Formen der Befürwortung oder Leugnung von NS-Verbrechen, die nach dem Völkermord-Paragraphen des Völkerstrafgesetzbuchs bestraft werden.
  • [8] F. Schmidhäuser, 2018 Teil 2, S. 558.
  • [10] T. Fischer, Ist Gotteslästerung ein notwendiger Straftatbestand? ZEIT-Online 2015, Seite 5.
  • [11] Vgl. T. Fischer, ZEIT-Online 2015, S. 4 f.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)