Säkularisierung

I. Allgemeiner Bedeutungsverlust der Religion

Säkularigggsierung ist in Europa seit der beginnenden Neuzeit die zentrale Entwicklungslinie im Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Gemeint ist bei neutralem Verständnis der vielschichtige Prozess des allmählichen Bedeutungsverlustes insbesondere der organisierten Religion in allen Lebensbereichen: Staat, Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, Technik, Kunst und Literatur. Anders ausgedrückt bedeutet Säkulargggisierung die Verweltlichung im Sinn von individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Loslösung aus speziell kirchlichen Bindungen, kurz, die Emanzipierung aus kirchlicher Vormundschaft. Darüber hinaus meint Säkulargggisierung auch das Streben nach innerweltlicher Erkenntnis der Wirklichkeit ohne religiöse Begründung. Besonders die katholische Kirche hat der Säkularigggsierung, auch im naturwissenschaftlichen Bereich, großen Widerstand entgegengebracht (Katholische Kirche und Moderne). Heute ist Religion gegen alle Widerstände in Europa weitgehend ein gesellschaftlicher Teilbereich geworden und bedeutet nur teilweise den Motivationshintergrund für die jeweiligen Aktivitäten. Deutschland steht dabei mit einigen anderen Ländern an der Spitze dieser Entwicklung, deren Ende noch nicht abzusehen ist (Statistik, Soziologie).

Außerhalb Europas ist die Tendenz überwiegend ganz anders.

II. Abgrenzungen

Bei der Begriffsverwendung ist folgendes zu beachten: Manchmal werden Säkuggglarisierung und Säkularisation verwechselt[1] bzw. synonym gebraucht. Säkularisation meint nach dem richtigeren Begriffsverständnis den Einzelvorgang der Umwandlung (Enteignung) kirchlichen Vermögens in Vermögen weltlicher Herrschaft, speziell die große Säkularisation von 1803 in Deutschland anlässlich der Auflösung des alten Deutschen Reichs. Das Wort "säkularisiert" umfasst freilich beide Bedeutungen. Während das oben skizzierte Verständnis von Säkularisiegggrung neutral ist im Sinn eines kulturdiagnostischen Schlüsselbegriffs, wird der anhaltende historische Prozess der Säkularisgggierung von traditionellen kirchlichen Kreisen als Verfallserscheinung gewertet. Man sieht nur – in Reaktion auf die Kirchen- und Religionskritik – den Abfall von der gottgegebenen Ordnung und spricht abwertend von Säkularismus. Eine solche Diesseitskultur wird gern mit einem Verfall von Sittlichkeit gleichgesetzt. Geschichtsblind hat man sogar die großen politischen Katastrophen des 20. Jh. der metaphysischen Entwurzelung angelastet. Motto: "Wem Gott nicht mehr heilig ist, was soll dem noch heilig sein?" (Kardinal Meisner). Säkulgggarisierung wurde und wird demgegenüber auch als Fortschrittskategorie verstanden. Ein Sonderaspekt ist die Selbstsäkularisierung der christlichen Religion (s. unten IV). Wenn man gesellschaftliche Erscheinungen der christlichen Welt in weltlicher, nichtreligiöser Form fortleben sieht, spricht man von Säkularisat. So wird in der säkularen Begründung der Menschenrechte vielfach ein säkularisiertes, aber originär christliches Denken gesehen. Dass dabei Ursache und Wirkung verwechselt werden, ist eine andere Frage (s. näher unter Menschenrechte).

III. Schleichende Entchristlichung gegen Widerstand

Dass die Säkularisiergggung zumindest in Deutschland und vergleichbaren Ländern ein irreversibler Prozess ist, wird insbesondere angesichts der vielfältigen Erscheinungen immer neuer Religiosität unter dem Stichwort der Wiederkehr der Religion o. ä. bestritten. Mit der Säkularigggsierung haben sich verschiedene theologische Richtungen negativ und positiv auseinandergesetzt. Es ist aber nicht zu verkennen, dass die schleichende Entchristlichung auch der westdeutschen Gesellschaft seit etwa 1970 geradezu dramatische Ausmaße angenommen hat. Das betrifft nicht nur die Kirchenaustritte und den noch größeren sonstigen Mitgliederschwund (Sterberate, Taufrückgang), sondern auch die Glaubensinhalte und den äußeren Glaubensvollzug. Dieser Trend ist ungebrochen und setzte sich nach der Wiedervereinigung auch im ohnehin säkularen Osten (trotz massiver Versuche institutioneller christlicher Vereinnahmung) fort. Zahlreiche spezielle Umfragen und kirchensoziologische Analysen erweisen das fortlaufend. Schon 1997 bezeichneten sich nach dem Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 10 nur noch 47 % der Deutschen als "religiös". Die gelegentliche Behauptung der Postsäkularität unserer Gesellschaft (J. Habermas) hat daher keine reale Basis, jedenfalls keinen besonderen Erklärungswert. Daran haben auch die Aktivitäten von Papst Benedikt XVI. und seine medialen Erfolge sowie bisher die im Allgemeinen positiv empfunden Aktivitäten von Papst Franziskus (seit 2013) nichts geändert.

IV. Christliche Selbstsäkularisierung

Die fortgeschrittene Selbstsäkularisierung der großen christlichen Konfessionen ist nicht abzustreiten. Zwar zahlt die Mehrzahl der formal auf Grund der Säuglingstaufe als Kirchenmitglieder geltenden Bürger aus unterschiedlichen Gründen immer noch Kirchensteuer. Aber dieselben Menschen akzeptieren selbst die zentralen christlichen Glaubensgrundsätze oft nur noch zu einem geringen Teil. Besonders die protestantische Geistlichkeit ist von der Entwicklung nicht unberührt. Seit 1945 (da gab es noch über 95 % formelle Mitglieder der großen Kirchen, heute sind es bei sinkender Tendenz nur noch etwa 56 %) spricht man von einem volkskirchlichen Missionsland. Die großen Kirchen vermögen "ein konsistentes religiöses Profil bzw. Bekenntnis offenkundig nur noch unter beträchtlichen Schwierigkeiten zu wahren", schrieb 1998 der evangelische Jurist Kästner. Und der prominente katholische Verfassungsrechtler Isensee kritisierte scharfzüngig eine Kirche, die sich hauptsächlich nur als Sozialagentur und Maklerin von gefälligen Sinnofferten versteht, die Fahne des Glaubens aber einzieht. Er kritisierte 1999 Bischöfe, die die jeweils aktuellen politischen Positionen nachbeten, ferner einen Religionsunterricht, der das Christentum immer mehr als ein Angebot unter vielen darstellt.

All das ist empirisch zu belegen. Die Heils- und Gnadenanstalt Kirche erodiert seit Jahrzehnten zu einer karitativen und rituellen Dienstleistungsorganisation, letzteres für die "Schwachstellen" des Lebens. Das hat etwa der katholische Kirchensoziologe Michael Ebertz erklärt.[2] Die Geistlichkeit flüchtet sich in Ethik, Sozialarbeit und Pastoralpsychologie. Nur die politische Bedeutung der äußerlich wie innerlich schrumpfenden Kirchen ist derzeit angesichts der erheblichen, vielfach verfassungsrechtlich fragwürdigen Krücken ungebrochen. Zusammenfassend formulierte Josef Isensee schon 1991: "Das Kirchenvolk schrumpft von innen her. Der weite volkskirchliche Mantel beginnt zu schlottern. Obwohl die Kirchen bisher nahezu unangefochten ihre Stellung in der Öffentlichkeit bewahrt haben, beschränken sie sich zunehmend darauf, konsensfähige Botschaften, Appelle zu sozialer Gerechtigkeit, Entwicklungshilfe, Umweltschutz, zu erheben, indes ihr religiöses Wirken sich außerhalb der Öffentlichkeit vollzieht, Öffentlichkeit geradezu scheut, wie wenn sich Religion zu genieren hätte."[3] Eine Untersuchung des "Instituts für angewandte Sozialforschung" im Jahr 1994 bestätigte für Köln konkret, was im Grundsatz als allgemeine Tendenz schon bekannt war: von den Kirchenmitgliedern erwiesen sich als "ungläubig" bzw. "eher ungläubig" nicht weniger als 9,6 bzw. 52,2% bei den Katholiken und 17,3 bzw. 43,4 bei den Protestanten. Im Durchschnitt der Gruppierungen (d. h. zusätzlich der Juden, Muslime und "Konfessionslosen") waren es 14,3 bzw. 40,4%.[4] Der Soziologe Scheuch legte anhand praktischer Beispiele dar, wie sehr sich in Deutschland die großen Kirchen dem Zeitgeist zu- und von bisher wichtigen Lehrmeinungen abwandten. Dabei tritt die katholische Kirche Aufweichungserscheinungen von Minderheiten der Mitglieder entgegen, während die Leitung der evangelischen Kirche den Widerstand engagierter Glaubenskonservativer bekämpft.[5]

Wie sehr das Thema Selbstsäkularisierung die Kirchenleute umtreibt, zeigt auch ein Beitrag des evangelischen Pfarrers Jochen Teuffel in der katholischen Zeitschrift "Christ in der Gegenwart" anlässlich des Reformationsjubiläums 2017. Er fragt mit eingehender Begründung "ernsthaft … , ob der Protestantismus dauerhaft als verfasste Kirche Bestand haben wird."

>> Katholische Kirche und Moderne; Privilegien; Säkularisation; Soziologie.

Literatur:

  • Ebertz, Michael N.: Kirche im Gegenwind. Zum Umbruch in der religiösen Landschaft. Freiburg i. Br. 3. akt. A. 1999.
  • Franzmann, Manuel/Gärtner, Christel/Köck, Nicole (Hg.): Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie. Wiesbaden 2006, 450 S.
  • Lehmann, Hartmut (Hg.): Säkulargggisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997, 335 S.
  • Lübbe, Hermann: Säkularisigggerung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. Freiburg i.Br. u.a. 1965 (2. A. 1975).
  • Meyer, H.: Religionskritik, Religionssoziologie und Säkulgggarisation, Frankfurt a. M. u. a. 1988.
  • Proske, Wolfgang: Säkularigggsierung als universalhistorischer Perspektivbegriff. Zur Reformulierung einer nach wie vor aktuellen Kategorie. In: Aufklgggärung und Kritik H. 1/1998, 3-26.
  • Rémond, René: Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart, München 2000, 304 S.
  • Schatz, Klaus: Zwischen Säkularigggsierung und Zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen Katgggholizismus im 19. und 20. Jh. Frankfurt a. M. 1986.
  • Scheuch, Erwin K.: Selbstaufgabe der deutschen Amtskirchen? In: Religion, Staat, Gesellschaft 2002, H. 1, S. 165-177.
  • Schrey, H.-H. (Hg.): Säkuggglarisierung, Darmstadt 1982.
  • Teuffel, Jochen: Protestantische Selbstsgggäkularisierung, in: Christ in der Gegenwart v. 12. 3. 2017 mit Erwiderung von Margot Käßmann = www.christ-in-der-gegenwart.de/.../4576329
  • Wohlrab-Sahr, Monika: "Säkularisierte Gesellschaft", in: Kneer, G./Nassehi, A./Schroer, M. (Hg.): Soziologische Gesellsch aftsbegriffe II: Klassische Zeitdiagnosen, München 2001: 308-332.
 


  • [1] so leider durchgängig die deutsche Ausgabe des lesenswerten Buchs von René Rémond, 2000, a.a.O..
  • [2] M. Ebertz a. a. O. 147.
  • [3] J. Isensee, in: Essener Gespräche 25 [1991], 104/142 f.
  • [4] Siehe E. K. Scheuch a.a.O. 173 f.
  • [5] Scheuch a. a. O. 165-172.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)