Weltanschauungsrecht
Was bedeutet der Begriff "Weltanschauungsrecht"?
Der neue – im ersten Moment vielleicht ungewöhnlich klingende – juristische Fachbegriff "Weltanschauungsrecht" kennzeichnet die Gesamtheit aller staatlichen Normen, Einrichtungen und Handlungen, die das Recht auf Weltanschauungsfreiheit betreffen. Das Recht auf Weltanschauungsfreiheit umfasst dabei nicht nur das Recht, sich zu einer religiösen oder nichtreligiösen Weltanschauung zu bekennen, sondern auch die Freiheit, das eigene Leben nach diesen weltanschaulichen Überzeugungen zu gestalten, sofern dadurch keine Rechte Dritter verletzt werden.
Verfassungsrechtliche Grundlagen der Weltanschauungsfreiheit
Verankert ist die Weltanschauungsfreiheit bereits im ersten Gebot der Verfassung, nämlich der Achtung der unantastbaren Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), da die Würde des Einzelnen maßgeblich dadurch bestimmt ist, dass er selbst – und niemand anderes – derjenige ist, der seine Würde bestimmt. Nur das mündige Individuum allein kann entscheiden, welche Lebensumstände es für sich selbst als mit seiner Würde vereinbar erachtet und welche nicht. Daher darf das Individuum keinen Würdedefinitionen unterworfen werden, die nicht seine eigenen sind, denn eben dies wäre unweigerlich mit einer Verletzung seiner Menschenwürde verbunden.
Hieraus leiten sich weitere Bestimmungen der Weltanschauungsfreiheit ab, vor allem die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und das damit verbundene Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 1, 3 GG), die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) sowie die in Art. 140 GG aufgenommenen Bestimmungen der Weimarer Verfassung, u.a. die Gleichstellung von religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungsgemeinschaften.
Weltanschauungsrecht im engeren Sinne
Im Hinblick auf das Weltanschauungsrecht lassen sich zwei Bereiche unterscheiden: Im engeren Sinne meint "Weltanschauungsrecht" die Gesamtheit aller Rechtsnormen, die das Verhältnis des Staates zu religiösen und nicht-religiösen Weltanschauungsgemeinschaften betreffen. Traditionellerweise wird dieses Rechtsgebiet mit den Begriffen "Religionsrecht", "Staatskirchenrecht" oder "Religionsverfassungsrecht" umschrieben, die inhaltlich jedoch unvollständig und tendenziös sind, da sie die nichtreligiösen Sinnsysteme trotz ihrer Bedeutung in der heutigen Zeit nicht benennen und religiösen Weltanschauungen bzw. Gemeinschaften bereits auf der sprachlichen Ebene eine Sonderstellung einräumen.
Weltanschauungsrecht im weiteren Sinne
Im weiteren Sinne bezeichnet "Weltanschauungsrecht" eine sehr viel umfangreichere Rechtsmaterie, die bislang noch nicht die gebotene Aufmerksamkeit erfährt. Weltanschauungsrechtler beschäftigen sich mit der Frage, ob Rechtspolitik und Rechtsprechung die im Grundgesetz verankerte Freiheit des Individuums, gemäß seinen eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zu leben, in hinreichender Weise berücksichtigen. Tatsächlich zeigt sich unter Beachtung dieser erweiterten weltanschauungsrechtlichen Perspektive, dass die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger auf vielen Rechtsgebieten in illegitimer Weise beschnitten werden – und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich vom Embryonenschutz bis hin zur Bestattungspflicht. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass viele Rechtsnormen und staatliche Einrichtungen nicht weltanschaulich neutral gehalten sind, sondern auf spezifischen weltanschaulichen (vornehmlich christlichen) Prämissen beruhen, was gegen oberste Verfassungsprinzipien verstößt.
Das Gebot der weltanschaulichen Neutralität
Weltanschauungsrechtler stehen vor der Aufgabe, den Rechtsstaat unter dem Fokus des Gebots der weltanschaulichen Neutralität sowie der organisatorischen Trennung von Staat und Religion/Weltanschauung auf den Prüfstand zu stellen.
Der Rechtsstaat muss zwar die Freiheit der Religionsausübung garantieren (als Teil der allgemeineren Weltanschauungsfreiheit), bedarf selbst aber keinerlei religiöser Legitimation. Derartige Legitimationen stehen sogar im Widerspruch zu der für den Rechtsstaat zentralen Idee des Gesellschaftsvertrags, die klarstellt, dass die Werte des Zusammenlebens nicht durch "höhere" (religiöse) Instanzen vorgegeben sind, sondern unter den Gesellschaftsmitgliedern rational, fair und demokratisch ausgehandelt werden.
Ein objektives Verfassungsgebot
Fazit: In einem modernen Rechtsstaat dürfen Freiheitsbeschränkungen und Fördermaßnahmen nur zur Aufrechterhaltung bzw. Stärkung solcher Rechtsgüter erfolgen, deren Vorrang der Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit neutral (weltanschauungsübergreifend)und rational (evidenzbasiert sowie logisch stringent) begründen kann. Weltanschauliche Neutralität ist somit ein objektives Verfassungsgebot, das dem staatlichen Handeln klare Grenzen setzt.