Der „Thüringer Weg“ – ein neues Modell für zeitgemäßen Religions- und Ethikunterricht

Quer durch die Bundesrepublik Deutschland halten die Debatten an, die sich mit der unsicher gewordenen Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts befassen. Bundesweit fand es Aufmerksamkeit, dass der Berliner Senat im März 2024 sein Vorhaben zurückzog, im Bundesland Berlin einen konfessionellen Religionsunterricht als Wahlpflichtfach neu einzuführen. Wenig beachtet wurde bislang eine Initiative im Bundesland Thüringen. Am 3.2.2024 stimmten die Delegierten des Landesparteitags von Bündnis 90/Die Grünen ohne Gegenstimmen einem Beschluss zu, der zum traditionell erteilten Religionsunterricht eine interessante Korrektur und Reform vorsieht.

Das Anliegen: Einübung von Dialog

Worum geht es? Der Vorschlag lautet, in Thüringer Schulen in neuartiger Form eine Fächergruppe "Ethik – Philosophie – Religion" einzuführen.[1] In diese Fächergruppe sollen der bisherige konfessionelle, d.h. der evangelische und der katholische Religionsunterricht sowie das Schulfach Ethik eingebracht werden. Letzteres wird vor allem von Schüler*innen ohne Religionszugehörigkeit besucht. Ebenso wie in anderen Bundesländern, z.B. Hamburg, Berlin oder Brandenburg, gehört in Thüringen die Mehrheit der Schüler*innen keiner Religionsgemeinschaft an. Zurzeit werden in diesem Bundesland genauso wie andernorts konfessioneller Religionsunterricht sowie Ethikunterricht nebeneinander erteilt. Zu den Schwächen einer derartigen Praxis gehört es, dass die Schüler*innen im Unterricht voneinander getrennt werden.

Diesem Mangel möchte der im Februar 2024 beschlossene Thüringer Weg abhelfen. Zur Begründung heißt es im Beschlusstext: "Es ist für unsere Gesellschaft wünschenswert, dass die Schüler*innen gerade in Bezug auf Grundfragen menschlicher Existenz in einer qualifiziert-dialogischen Gestaltung des Unterrichts gemeinsam entsprechende Dialogkompetenzen und Pluralitätsfähigkeiten erwerben und eigene weltanschaulich-ethische und religiöse Positionsbestimmungen reflektieren, festigen, hinterfragen, weiterentwickeln oder auch neu bestimmen können."

Die Begründung spricht für sich selbst. In der heutigen pluralistischen Demokratie ist es bildungspolitisch sowie pädagogisch dringend geboten, dass Schüler*innen in einem gemeinsam besuchten Schulfach Kenntnisse zur Wertorientierung erhalten und sie den Dialog einüben, der über weltanschauliche, ethische oder gesellschaftliche Fragen heutzutage zu führen ist. Dies kommt der gelebten Toleranz und der Argumentations- sowie der Kommunikationskultur in der gesamten Gesellschaft zugute.

Um sein Anliegen zu untermauern, beruft sich der Beschluss auf die Thüringer Landesverfassung. Art. 22 Abs. 1 VerfTh lautet: "Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, selbstständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde des Menschen und Toleranz gegenüber der Überzeugung anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und die Umwelt zu fördern."

Vergleichbare Formulierungen sind in den Landesverfassungen anderer Bundesländer anzutreffen.

Einige Einzelheiten

Dem Beschluss liegt die gegenwärtige Verfassungs- und Gesetzeslage zugrunde. Er berücksichtigt die Garantie des konfessionellen Religionsunterrichts in Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz sowie die einschlägigen Vorgaben der Thüringer Landesverfassung und des dortigen Schulgesetzes (§ 46 ThürSchulG). Daher behält er den konfessionellen Religionsunterricht sowie den weltanschaulich neutralen Ethikunterricht bei, der in den westlichen Bundesländern herkömmlich als Ersatzfach für die konfessionelle Religionslehre bezeichnet wurde. Beide Fächer sollen nun um ein integratives "Dialogmodul" ergänzt werden – mit den Worten des Beschlusses gesagt: "Alle Schüler*innen besuchen einerseits das Modul Ethik bzw. einer Religion und andererseits im Klassenverband gemeinsam das neue Dialogmodul".

Die wesentliche Neuerung besteht also in dem Dialogmodul, das alternierend zum Religions- und Ethikunterricht in jedem Schuljahr ein halbes Jahr lang als gemeinsame Lernphase vorgehalten werden soll. Anders als der konfessionelle Religionsunterricht ist das neue Dialogmodul weltanschaulich neutral konzipiert, sodass allein das Kultusministerium die Verantwortung trägt. Um Lehrkräfte zu gewinnen, sind akademisch verantwortete Fortbildungen einzurichten.

Zu weiteren Einzelheiten der inhaltlichen Ausgestaltung des Dialogmoduls und zur Koordination zwischen den drei Modulen Ethik / Religion / Dialog bleibt der Beschluss zurückhaltend – aus gutem Grund: Sie sollen "den Fachleuten überlassen" und von den fachlich involvierten Universitätseinrichtungen erörtert werden.

Ein Schritt in die richtige Richtung

Das in Thüringen verabschiedete Papier bringt in die Diskussionen über den Religionsunterricht neue Bewegung. Es setzt einen wichtigen Impuls.

Zur Einordnung der Thüringer Initiative in die Gesamtdebatte ist etwas weiter auszuholen. Schul- und bildungspolitisch wäre es eigentlich notwendig, die Problematik des konfessionellen Religionsunterrichts auf gesamtstaatlicher Ebene zu erörtern und die Garantie aufzuheben, die das Grundgesetz vor 75 Jahren für dieses bekenntnishafte Unterrichtsfach in Art. 7 Abs. 3 ausgesprochen hat. Der auf das Jahr 1919, letztlich auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Verfassungsartikel von 1949 ist historisch überholt. Im Grundgesetz stellt der kirchlich bekenntnisgebundene Unterricht einen Fremdkörper dar.[2] Mit der heutigen Verfassungswirklichkeit lässt er sich schon allein aufgrund der zahlreichen Kirchenaustritte nicht mehr in Einklang bringen. Eine seiner zwiespältigen Konsequenzen besteht darin, dass die Schüler*innen an den Unterrichtsstunden je nach ihrer Religionszugehörigkeit getrennt voneinander teilnehmen. Bundespolitisch ist zurzeit jedoch offenkundig kaum Bereitschaft vorhanden, sich mit der Problematik zu befassen.

Die direkte Zuständigkeit für das Schulwesen besitzen die Bundesländer. Zurzeit müssen sie sich quer durch die Bundesrepublik mit dem Sachverhalt auseinandersetzen, dass durch die Pluralisierung und die Säkularisierung der Gesellschaft der kirchliche bekenntnisgebundene Religionsunterricht in eine schwere Struktur-, Legitimations- und Existenzkrise geraten ist. In immer neuen Anläufen bemühten und bemühen sich die Länder, ihn noch für eine Weile zu "retten". Um der mangelnden Auslastung des konfessionellen Religionsunterrichts bzw. um der fehlenden Nachfrage entgegenzuwirken, dient als Rettungsanker oftmals das Verfahren, den katholischen und den evangelischen Religionsunterricht zusammenzulegen. Dies erfolgt in Form eines sog. kooperativen oder inzwischen auch eines "christlichen" Religionsunterrichts (obwohl eine einheitliche "christliche" Kirche gar nicht vorhanden ist, sondern nur evangelische, katholische und weitere, z.B. orthodoxe Kirchen), oder in sonstigen Ausformungen. Die Tragfähigkeit und die Verfassungsgemäßheit der verschiedenen Konstruktionen sind teilweise sehr strittig.[3]

Einen anderen Rettungsversuch unternahm der Stadtstaat Hamburg. Er führte einen sog. Religionsunterricht für alle ein, d.h. ein multireligiöses Unterrichtsfach, das wie der traditionelle, auf Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz gestützte Religionsunterricht konfessorisch-bekenntnishaft sein soll. Seinem Anspruch zufolge richtet sich dieser Unterricht an "alle" Hamburger Schüler*innen. Im Schulalltag führt dies faktisch dazu, dass auch konfessionsfreie Kinder zur Teilnahme gedrängt werden. In den Klassen 1 bis 6 bietet der Stadtstaat Hamburg keinen alternativen Ethikunterricht an, obwohl die übergroße Mehrheit der dortigen Bevölkerung keiner Religion angehört.

Die gravierenden Schwächen des "Hamburger Modells" sind oftmals dargestellt worden.[4] Darüber hinaus ist es mehr als fraglich, ob es überhaupt verfassungskonform ist. Der Hamburger Senat vertritt die Auffassung, der von ihm etablierte multireligiös-bekenntnishafte Religionsunterricht sei mit Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz vereinbar. Hierfür beruft er sich auf ein Gutachten, das er bei dem Juristen Hinnerk Wißmann in Auftrag gegeben hatte.[5] Sofern dieses Gutachten in politischen Stellungnahmen oder im Schrifttum nicht nur floskelhaft erwähnt, sondern inhaltlich erörtert worden ist, ist es nachdrücklich kritisiert worden. Anders als es in dem Gutachten behauptet worden ist, kann gewichtigen Publikationen zufolge der Hamburger "Religionsunterricht für alle" nicht als verfassungskonform gelten.[6]

Zum Hamburger Modell bietet der "Thüringer Weg" eine interessante Alternative, die große Vorzüge aufweist. Dies gilt auf jeden Fall verfassungsrechtlich. Er ist so konzipiert worden, dass es zu keiner Kollision mit dem derzeitigen Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz kommt, weil der herkömmliche kirchlich bekenntnisgebundene Religionsunterricht als solcher bestehen bleibt. Das kirchengebundene Fach wird in sinnvoller Weise in ein Gesamtkonzept integriert. An der Verfassungskonformität des Thüringer Wegs gibt es keinen Zweifel.

Bildungs- und gesellschaftspolitisch spricht für den Thüringer Weg, dass er mithilfe des neuen Dialogmoduls dem Postulat Rechnung trägt, weltanschauliche, religiöse und ethische Themen in einem von den Schüler*innen gemeinsam besuchten Unterricht zu behandeln. Hierdurch stärkt er ihre Urteilskraft und ihre Diskursfähigkeit zu diesen Themen und fördert er den interkulturellen und interreligiösen Dialog.

Schon allein aus diesen beiden Gründen bildet der "Thüringer Weg" des schulischen Umgangs mit Werten, Ethik und Religion einen Schritt in die richtige Richtung. Es ist zu erwarten, dass Bündnis 90/Die Grünen ihr Modell in Koalitionsverhandlungen einbringen werden, sofern sie nach der Landtagswahl im Herbst 2024 erneut an einer Koalitionsregierung beteiligt sein sollten. Darüber hinaus sollte die Thüringer Reformkonzeption auch in anderen Bundesländern beachtet und von ihnen gezielt aufgegriffen werden.

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[1] Der Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz vom 3.2.2024 ist online abrufbar unter dem Link A1_THUERINGER_WEG__Faechergruppe_Ethik__Philosophie__Religion_an_Thueringer_Schulen.pdf (gruene-thueringen.de) (Abruf 27.4.2024).

[2] Vgl. Hartmut Kreß, Religionsunterricht oder Ethikunterricht? Entstehung des Religionsunterrichts – Rechtsentwicklung und heutige Rechtslage – politischer Entscheidungsbedarf, Baden-Baden 2022, open access unter dem Link https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748932116/religionsunterricht-... (Abruf 27.4.2024).

[3] Einige Problemhinweise: Andreas Kubik, Kooperation – Dekonstruktion einer religionspädagogischen Sehnsucht, in: ders. u.a. (Hg.), Neuvermessung des Religionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG, Göttingen 2022, S. 317–333.  

[4] Eine kritische Analyse findet sich z.B. in dem in Anmerkung 2 genannten Buch, dort S. 175–186. Vgl. auch Jan Woppowa u.a., Interreligiöse Kooperation im Religionsunterricht, in: Joachim Willems (Hg.), Religion in der Schule, Bielefeld 2020, S. 367–385. Zu den Sonder- und Einzelproblemen des Hamburger Modells zählt die Benachteiligung des Buddhismus; hierzu Carola Roloff / Thorsten Knauth (Hg.), Buddhistischer Religionsunterricht, Münster 2023.

[5] Das Gutachten ist als Buch veröffentlicht worden: Hinnerk Wißmann, Religionsunterricht für alle? Zum Beitrag des Religionsverfassungsrechts für die pluralistische Gesellschaft, Tübingen 2019. Eine kritische Rezension: https://weltanschauungsrecht.de/meldung/rezension-wi%C3%9Fmann-religions... (Abruf 27.4.2024).

[6] So z.B. Ralf Poscher, Zur Verfassungsmäßigkeit eines gemeinsam verantworteten christlichen Religionsunterrichts, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 67 (2022), S. 217–253, S. 236: Beim Hamburger Modell handelt es sich "nicht mehr um einen Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 3 GG".