Schulpflicht

1. Rechtliche Einordnung der Schulpf.licht

In den allein zuständigen deutschen Bundesländern (Art. 70 GG) besteht allgemeine Schulp.flicht. Sie dauert im Allgemeinen zwölf Jahre und gliedert sich in die Vollzeitschulpflicht und die Berufsschulpflicht. Erfasst werden alle Bewohner mit gewöhnlichem Aufenthalt im jeweiligen Bundesland. Das Jugendarbeitsschutzgesetz kennt Ausnahmen für gestaltende Mitwirkung etwa als Schauspieler, Musiker, Tänzer, Artist usw. Generell wird die Schulpf.licht in Deutschland strenger gehandhabt als in den meisten anderen Ländern, die teilweise einen gleichwertigen  Bildungsnachweis genügen lassen. Das kommt in begrenztem Maß einem Heimschulunterricht zugute, den manche Eltern meist aus streng religiösen Gründen anstreben. In Deutschland wird das mit Billigung der Gerichte abgelehnt. Man besteht auf der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags, um die Schüler auch in ihrer Funktion als künftige Staatsbürger heranzubilden. Regelmäßiger Schulbesuch sei Teil einer Alltagserfahrung mit ihren unterschiedlichen Ansichten. Das Interesse der Allgemeinheit daran, religiös-weltanschaulichen Parallelgesellschaften möglichst entgegenzuwirken, sei schützenswert.

Die unbestritten streng zu verstehende Schulpf.licht ist ein wesentlicher Teil der in Art. 7 I GG festgelegten Schulaufsicht (s. dort). Zutreffender als dieser vom GG verwendete Ausdruck wäre "Schulhoheit", weil es nach allgemeiner Rechtsansicht um umfassende staatliche Kompetenzen geht. Die staatliche Schulhoheit steht nach der anerkannten Rspr. des BVerfG allerdings neben dem elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 II GG), das als gleichrangig angesehen wird (s. Elternrecht). Die Eltern bestimmen den Gesamtplan der Erziehung, wozu auch die religiöse Erziehung gehört (s. Erziehung). Wichtig ist auch die Sexualerziehung (s. dort), die aber meist von den Eltern allenfalls teilweise wahrgenommen und der Schule und noch mehr den gesellschaftlichen Kontakten der Kinder überlassen wird. Von Bedeutung sind aber Einflussnahmen von Eltern, die religiösen Minderheiten angehören (insb. christliche Minderheiten und Muslime).

2. Ausnahmen und Befreiungen von der Schul.pflicht aus weltanschaulichen Gründen (Unterrichtsbef.reiung)

Die Bundesländer kennen Regelungen bei Verhinderung an der Unterrichtsteilnahme, zur Befreiung in einzelnen Fächern und zur Beurlaubung. Schulische und private Belange müssen von der Schulleitung sorgfältig und einzelfallbezogen gegeneinander abgewogen werden. Die Rede ist vom Vorliegen zwingender Gründe, von vorhergehender baldiger Verständigung und von schriftlicher Beantragung. Es muss ausreichende Gelegenheit zur Erfüllung religiöser Pflichten und zur Wahrnehmung religiöser Veranstaltungen auch außerhalb der Schule gegeben werden.

Diese etwas unterschiedlichen und teilweise recht differenzierten Regelungen in landesrechtlichen Gesetzen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften lassen der Schulleitung oft Spielräume. Daraus ergeben sich Anlässe und Möglichkeiten für eine Fülle an rechtlich fragwürdigen oder gar absolut unzulässigen Ungleichbehandlungen. Weltanschauliche Vorurteile sind nicht selten bedeutsam. Die Machtposition der Schule und Überlegungen zum Kindeswohl spielen dann aus Sicht der Eltern und Schüler eine große Rolle. Wer sich gegen schulische Entscheidungen zur Wehr setzen will, riskiert zwar nur Geldbußen, aber der rechtliche Ausgang ist nicht immer zu prognostizieren.

3. Wichtigere weltanschauliche Fallgestaltungen

a) Es geht um den Konflikt zwischen dem staatlichen Erziehungsanspruch (Art. 7 I GG, s. Schulaufsicht, Schulhoheit) und der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) in Form der Religionsausübungsfreiheit bzw. der Gewissensfreiheit. Das BVerwG hatte sich erstmals Anfang der 1970 er Jahre damit zu befassen und erklärte es für verfassungsrechtlich zulässig, insb. Juden und Siebenten-Tags-Adventisten aus Gründen der Sabbatheiligung Schulbefreiung zuzubilligen.

b) Über die Frage eines Anspruchs aus Art. 4 GG entschied das BVerwG zur Frage der Befreiung einer 12- und einer 13 jährigen islamischen Schülerin vom vorgeschriebenen koedukativen Sportunterricht im Jahr 1993. Wenn eine Schülerin aus glaubhaften religiösen Gründen durch eine Teilnahme in einen Gewissenskonflikt gerate, müsse vom Unterricht befreit werden. Dass ein koedukativer Unterricht auch ab 12 Jahren pädagogisch besonders wichtig sei, habe nicht dargelegt werden können. Die Folge war eine liberale Schulpraxis, die der Schule Konfliktsituationen ersparte, aber orthodoxen und islamistischen Muslimen in die Hände spielte. Die Frage, ob die Koedukation beim Sportunterricht pädagogisch überhaupt besonders sinnvoll ist, ist eine ganz andere Frage. 2013 vollzog das BVerwG mit seinem Burkini-Urteil eine restriktivere Wende. Das Tragen eines sog. Burkini, der die Körperkonturen etwas kaschiert, sei mit den muslimischen Bekleidungsvorschriften vereinbar. Die Schulpf.licht stehe nicht unter dem Vorbehalt, dass die Unterrichtsgestaltung die gesellschaftliche Realität in solchen Abschnitten ausblende, die im Lichte individueller religiöser Vorstellungen als anstößig empfunden werden könnten.

c) Ebenfalls 2013 vertrat das BVerwG in seiner Krabat-Entscheidung gegenüber Zeugen Jehovas die Ansicht, nur in begründeten Ausnahmefällen könnten Eltern die Befreiung ihrer Kinder von einer Unterrichtsveranstaltung aus religiösen Gründen verlangen. Damit wurde die Tendenz, Konflikten durch allzu großzügige Befreiungen auszuweichen, zumindest theoretisch beendet. Das ist mit Jochen Rozek zu begrüßen, denn eine tolerante und pluralistische Gesellschaft kann es sich auf Dauer nicht leisten, jeder religiösen Argumentation zu Lasten anderer gewichtiger Ziele des Staats nachzugeben. Dazu gehören der schulische Integrationsauftrag, die Gleichberechtigung der Geschlechter, und die Persönlichkeitsentfaltung von Kindern. Dass eine Befreiung vom Sexualkundeunterricht bzw. der Sexualerziehung insoweit in Betracht käme, als dort Abbildungen nackter Menschen betrachtet werden, etwa mit der (fragwürdigen) Begründung, der Islam verbiete das, erscheint im Hinblick auf die traditionellen Bestandteile europäischer Kultur (Plastiken, Gemälde) und die tatsächlichen Lebensverhältnisse fraglich. Schließlich soll Schule auch auf das Leben vorbereiten und gestattet der Islam notfalls die Einhaltung der Gesetze der Gastländer (s. näher unter Sexualerziehung).

d) Auch das Problem der Teilnahme von Muslimas an Klassenfahrten sollte sich mit der jetzigen Rspr. des BVerwG weitgehend erledigt haben. Mit einem Sonderfall hatte sich 2002 das VG Aachen zu befassen. Die Gymnasiastin einer 10. Klasse beantragte die Befreiung von der Teilnahme an einer mehrtägigen Klassenfahrt. Unter Vorlage eines Gutachtens eines Islamischen Zentrums erklärte sie, ihr Glaube verbiete die Übernachtung außerhalb des Elternhauses ohne Begleitung eines Ehegatten oder männlichen Verwandten. Der Schulleiter lehnte den Antrag wegen der Gleichbehandlung der Geschlechter (Art. 3 II GG) ab. Das VG verweigerte vorläufigen Rechtsschutz. Es gebe eine zumutbare Ausweichmöglichkeit. Die Schule habe den Hinweis, ein Bruder der Antragstellerin, ebenfalls Schüler, könne mitfahren, aufgegriffen und dessen Unterrichtsbefreiung angeboten. Im Beschwerdeverfahren wurde geltend gemacht, der Bruder weigere sich nachhaltig, die Familie drohe, an dem Konflikt zu zerbrechen. Das OVG Münster wies die Beschwerde mit einer bemerkenswerten Begründung zurück: Eine Befreiung von der Schulordnung sei gar nicht erforderlich. Es liege ein die Teilnahme hindernder Grund vor. Die religiös bedingten Ängste der Schülerin (Furcht im Hinblick auf Schweinefleisch, rituelle Waschungen und Gebete, Verlust des Kopftuchs, Duschen, Reaktionen der Mitschülerinnen) hätten bei summarischer Prüfung bereits Krankheitswert. Demgegenüber wurde geltend gemacht, der Respekt vor der Religionsfreiheit solle nicht die Pathologisierung des Grundrechtsinhabers befördern. Auch verlange die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen spezifische Kenntnisse. Richtiger wäre daher wohl die Entscheidung im Rahmen eines Befreiungsantrags unter Beachtung der Religionsmündigkeit gewesen.

Die Teilnahme an Schulgottesdiensten ist in öffentlichen Schulen bei Schülern kein Rechtsproblem, weil seine Teilnahme stets freiwillig ist. Eine indirekte oder direkte schulische Nötigung ist daher rechtswidrig, was ggf. auch mit Hilfe einer Feststellungsklage beim Verwaltungsgericht unterbunden werden kann. Wegen weiterer Fragen s. unter Schulgottesdienst.

4. Heimschulbewegung

Die aus den USA kommende gut organisierte Heimschulbewegung (homeschooling) macht seit einiger Zeit z. T. erhebliche Probleme. Christliche Fundamentalisten wehren sich vehement gegen den Schulzwang, weil die Kinder verwerflichen ideologischen Einflüssen ausgesetzt würden. Genannt werden insbesondere die Evolutionslehre und der Sexualkundeunterricht. Die deutschen Gerichte lehnen bisher Ansprüche auf U. ab. Die ständigen gerichtlichen Niederlagen halten die Familien (unterstützt durch mehrere Schulwerke) nicht davon ab, jeglichen Besuch einer staatlichen Schule zu unterbinden. Bußgelder und selbst polizeilicher Zwang schrecken sie nicht immer. Zuverlässige Zahlen gibt es nicht, es dürfte in Deutschland aber um mindestens 500 Kinder gehen, die sich dem Schulzwang entziehen. Mehrere Staaten, z.B. Österreich, begnügen sich bei Erfüllung von fachlichen Voraussetzungen mit einer Unterrichtspflicht, verlangen aber nicht unbedingt einen Schulbesuch.

>> Elternrecht; Erziehung; Gewissensfreiheit; Neutralität; Religionsausübungsfreiheit; Schulaufsicht; Schulgottesdienst; Sexualerziehung.

Literatur:

  • BVerfG, FamRZ 2006, 1094, B. v. 31. 5. 2006 – 2 BvR 1693/04
  • BVerwGE 42,128, E. v. 17.4.1973 (Schulbefreiung wegen Sabbatheiligung zulässig);
  • BVerwGE 94,82 = NVwZ 1994,578, U. v. 25.8.1993 (Koran und Schulsport);
  • BVerwG NVwZ-RR 1994,234 (keine vergleichbare Konfliktsituation; Fall: christliche Schüler);
  • BVerwGE 147, 362 = NVwZ 2014, 81 (Burkini), U. 11.9.2013
  • BVerwG NVwZ 2014, 237, 6 C 12.12 (Krabat)
  • BayVGH NVwZ 1987,706 (Befreiungsanspruch bejaht bei Palmarianischer Kirche);
  • VG Aachen NJW 2002,3191, B. v. 16.1.2002 mit OVG Münster NJW 2003,1754 (Befreiung von Klassenfahrt).
  • Hebeler, Timo/Schmidt, Julia: Schulp.flicht und elterliches Erziehungsrecht – Neue Aspekte eines alten Themas? NVwZ 2005,1368–1371 (Heimschulproblematik);
  • Langenfeld, Christine: Integra.tion und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten: Eine Herausforderung für das deutsche Schulwesen - Einführung in einige grundrechtliche Fragestellungen. AöR 1998,375-407 (387-391 zur Unterrichtsbefr.eiung aus religiösen Gründen).

© Gerhard Czermak / ifw (2017)