Sittengesetz

I. Fehlende rechtspraktische Bedeutung

Im Zusammenhang mit der Diskussion um den angeblichen Werteverfall und den Verlust der guten Sitten mag sich mancher an den folgenden Passus im GG erinnern. Gem. Art. 2 I GG (Allgemeine Handlungsfreiheit) hat jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, "soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sitte.ngesetz verstößt." Unter "verfassungsmäßiger Ordnung" versteht man in diesem Fall allgemein "die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell verfassungsmäßig sind".[1] Diese Klausel enthält somit einen allgemeinen Rechtsvorbehalt, neben dem die Schranke des Sittengesetzes keine praktische Bedeutung hat. Auch bedürfen Eingriffe in Freiheit und Eigentum ohnehin einer normativen Grundlage. Bekannt ist vor allem §  138 I BGB, wonach ein Rechtsgeschäft nichtig ist, wenn es gegen die guten Sitten verstößt. Das war im Zusammenhang mit Rechtsfragen der Prostitution von Bedeutung, die die Juristen freilich schon immer mit spitzen Fingern und wenig rational angefasst haben. Wie wandelbar insoweit die Verhältnisse sind, zeigt die 2002 ohne Aufhebens vom Bundestag beschlossene Legalisierung des Berufsstandes.

II. Einzelfragen

1. Selbst in der Frühzeit der Bundesrepublik mit ihrer katholisch dominierten Auffassung von Naturrecht (s. dort) spielte das Sitt.engesetz als Argumentationspunkt keine große Rolle. Nur in seiner Homosexuellen-Entscheidung von 1957 bezog sich das BVerfG auf das S. und vertrat die Auffassung, die damals in § 175 StGB verfügte strafrechtliche Verfolgung der Homosexualität sei mit dem GG vereinbar, denn Homosexualität verstoße eindeutig gegen das Sitten.gesetz. Auch dabei stellte es aber vorrangig auf die "verfassungsmäßige Ordnung" ab. Bei § 175 StGB habe sich der Gesetzgeber zulässig auf die in den beiden großen christlichen Konfessionen und somit weiten Teilen der Bevölkerung vertretene Ansicht gestützt. Heute ließe sich eine solche Rechtsmeinung schon im Hinblick auf das weitgehende Fehlen einheitlicher "sittlicher" Maßstäbe in der Gesellschaft nicht vertreten.

2. Sogar die Gesetzgebung hat eine weitgehende und verfassungsgerichtlich gebilligte rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen vollzogen. Dass Verfolgung im Ausland wegen Homosexualität einen Asylrechtsanspruch begründen kann, ist seit langem anerkannt. Auch das Europarecht untersagt jede Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung. Wenn gleichwohl noch heute laut Art. 1 I der Landesverfassung von Rh-Pf das "natürliche Sittenge.setz" als Schranke der Persönlichkeitsentfaltung genannt ist, so kann dem keinerlei rechtliche Bedeutung beigemessen werden. Sofern in Spezialgesetzen noch von "guten Sitten" o. ä. die Rede ist, muss das jeweils im konkreten Zusammenhang restriktiv interpretiert werden. So wird im Gewerberecht die Sittenklausel nur rein ordnungspolizeilich verstanden, obwohl das vielleicht im Hinblick auf gewisse Auswüchse nicht unbedingt zwingend ist.

>> Leitprinzipien des Grundgesetzes; Landesrecht; Naturrecht.

Literatur:

  • BVerfGE 6, 389/434 (1957); Homosexualität verstoße gegen das Sitten.gesetz und daher gegen das GG.
 


  • [1] BVerfGE 6, 32/37 ff.; st. Rspr.

© Gerhard Czermak / ifw (2017)