Subsidiaritätsprinzip

I. Allgemeine Bedeutung

In einem ganz allgemeinen Sinn bedeutet das gesellschaftspolitische Subsidiaritägggtsprinzip Folgendes: Was eine kleinere Einheit selbst gut zu leisten vermag, soll nicht einer übergeordneten Einheit übertragen werden. Das Subsidiaritägggtsprinzip wurde viel als Rechtsprinzip des EU-Rechts diskutiert, ist dort jedoch noch sehr unbestimmt und umstritten. Nationale Regelungen sollen im Zweifel Vorrang haben vor Regelungen der EU. Im hier abzuhandelnden deutschen Zusammenhang hat das Prinzip eine enorme praktische Bedeutung erlangt, weil es in einigen Sozialbereichen bzw. Regionen zusammen mit anderen Faktoren zur zumindest teilweise monopolartigen Stellung speziell kirchlicher Einrichtungen geführt hat. Diese Konfessionalisierung des Sozialwesens (s. Sozialeinrichtungen) und der Grundgedanke des Subsidiaritätsprinzips bedürfen der Erläuterung.

II. Die katholische Soziallehre und die Probleme ihrer Anwendung

Seinen Siegeszug in der Sozial- und Staatslehre verdankt das Subsigggdiaritätsprinzip den päpstlichen Sozialenzykliken und der kath. Soziallehre. In der Enzyklika "Quadragesimo Anno" wurde es 1931 kirchenamtlich formuliert. Jede Gesellschaftstätigkeit ist demzufolge ihrem Wesen nach subsidiär. Der Inhalt des im Kern sicher vernünftigen Prinzips ist jedoch ziemlich unklar. Denn nach welchen Kriterien soll entschieden werden, welche Einheit die größere oder kleinere ist? Wird dabei Homogenität der Einheiten vorausgesetzt? Müssen auch die Aufgabenkreise identisch sein? Welche Rolle spielt die Spezialisierung?

Die katholische Soziallehre stellt auf die größere Personennähe ab mit dem Ergebnis, dass kirchliche Organisationen wegen größerer Personennähe trotz ihrer immer noch großen Mitgliederzahl praktisch immer den Vorrang haben. Es geht dann letztlich um den Sinn der menschlichen Existenz, also ein objektiv unlösbares Problem. Unklar ist auch, ob von den vorhandenen Organisationen oder von zu definierenden Aufgaben auszugehen ist. Bei letzterer dynamischer Auffassung ist wegen der beliebig möglichen Aufspaltung in Teilaufgaben nur eine willkürliche Entscheidung möglich, d. h. das Subsidgggiaritätsprinzip wäre nur ein "grandioser Selbstbetrug". Roman Herzog hat aus diesen, aber auch aus finanzwirtschaftlichen und GG-theoretischen Erwägungen den Schluss gezogen, ein Subsidigggaritätsprinzip im Sinn der kirchlichen Auffassung sei "überhaupt nicht in der Lage, Ausgangspunkt irgendeiner Ordnung zu sein". Vielmehr öffne es beliebigen Entscheidungen Tür und Tor. Die (ermessensgerechte) Entscheidung über den Einsatz staatlicher Mittel muss ohnehin dem Staat vorbehalten bleiben. Daher enthält der Subsidiaritätsgedanke einen richtigen Kern und hat verschiedene Ausprägungen im Recht gefunden, ein Rechtsprinzip mit dirigierender Wirkung ist jedoch – im Gegensatz zu solchen Versuchen – nicht anzuerkennen.

III. Konfessionalisierung des Sozialsystems

1. Die gewichtigste spezielle Bedeutung hat das sog. Subsidiaritägggtsprinzip in der Bundesrepublik in Form der gesetzlichen Regelung über das Verhältnis der öffentlichen und privaten Träger der Sozialeinrichtungen gefunden mit der zumindest praktischen Folge der weitgehenden Konfessionalisierung des Sozialsystems. Aus der Sicht der Religionsfreiheit und weltanschaulichen Neutralität des Staates besteht das Grundproblem in der seit Jahrzehnten stattfindenden (Teil)Monopolisierung weiter Bereiche des Systems sozialer Einrichtungen in der Bundesrepublik durch die Großkirchen. Nichtchristen aller Art sind faktisch häufig gezwungen, mangels religiös-weltanschaulich neutraler öffentlicher Einrichtungen kirchliche Einrichtungen wie Kindergärten, Alten- und Pflegeheime oder spezielle Schulen in Anspruch zu nehmen. Nichtchristen haben andererseits oftmals aufgrund der bestehenden Strukturen nur stark eingeschränkte Möglichkeiten, soziale Berufe zu erlernen und auszuüben, wenn sie kein Christentum heucheln wollen. Mit diesem Problem hängt das Thema Arbeitsrecht und Kirchen eng zusammen, auch die Kirchenmitgliedschaft bzw. Kirchensteuerproblematik.

2. Entscheidend waren die Änderungen des Bundessozialhilfegesetzes und des Jugendwohlfahrtsgesetzes, die die C-Parteien noch kurz vor der Bundestagswahl 1961 durchdrückten, und zwar teilweise gegen den heftigen Widerstand von Städten und Gemeinden. Ohne sachliche Notwendigkeit wurde, unter Benutzung des leerformelhaften Subsidiaritätsprinzips (s. o.), das System des Vorrangs sozialer Einrichtungen der öffentlichen Hand umgekehrt in einen Vorrang der freien, insbesondere kirchlichen Einrichtungen (§ 5 III 2 JWG, vgl. heute § 4 SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe). Das BVerfG hat zwar 1967 die Regelungen verfassungskonform eingeschränkt (Sozialhilfeurteil). Demnach ist es (lediglich) Sinn der Regelungen, die bewährte Zusammenarbeit öffentlicher und freier Träger zu fördern und zu koordinieren. (Zusätzliche) Einrichtungen der öffentlichen Hand kommen laut BVerfG sinngemäß nur dann infrage, wenn trotz der (bei der Neuerrichtung vorrangig zu berücksichtigenden) privaten Einrichtungen den Wünschen der Betroffenen nach Benutzung religiös-weltanschaulich neutraler Einrichtungen in zumutbarer Weise Rechnung getragen werden kann. Das BVerfG hat für die Anwendung des damaligen § 3 BSHG (Einzelfallhilfe) ausdrücklich auch auf Art. 4 GG abgestellt. Die Konsequenz hätte sein müssen, dass eine ausreichende Grundversorgung mit weltanschaulich neutralen Einrichtungen die Voraussetzung jeder privaten konfessionellen Einrichtung ist.

3. Die praktische Entwicklung ist völlig anders verlaufen. Die kirchlichen sozialen Einrichtungen expandierten bis zu ihrer teilweise monopolartigen Ausbreitung und verschafften den Kirchen somit bei denkbar geringen Kosten wichtige strategische Positionen. Eine Problematisierung dieses Tatbestands ist politisch und rechtlich weitgehend unterblieben, eine Rspr. hierzu gibt es anscheinend nicht. (S. näher zu den zahlenmäßigen Dimensionen den Artikel zu den sozialen Einrichtungen der Kirchen).

>> Glaubensfreiheit; Kündigungsschutz; Neutralität; Sozialeinrichtungen.

Literatur:

  • BVerfGE 22,180 ff. = NJW 1967,1795 (Sozialhilfeurteil).
  • Herzog, Roman: Art. Subsidiagggritätsprinzip in: EvStL Bd. 2 (1987).
  • Herzog, Roman: Subsidiaritätsprggginzip und Staatsverfassung, Der Staat 1963, 399-423

© Gerhard Czermak / ifw (2017)