Suizid

I. Terminologische Fragen

Dieses klassische Thema der Ethik und des Rechts, ein Teilbereich der Bioethik, ist schon terminologisch umstritten. Oft spricht man immer noch von "Selbstmord", obwohl niemand behaupten würde, es liege auf derselben Unrechtsebene, gleich ob jemand einen Anderen grausam oder aus Habgier umbringt oder sich selbst das Leben nimmt, und sei es in äußerster Not und Angst (vor unerträglichen Schmerzen, Folter, existentiell auswegloser Lage). Daher unterscheidet sowohl die Rechtssprache wie meist auch die Umgangssprache zwischen "Tötung" und "Mord", weil der Unrechtsgehalt bei Mord ungleich schwerer ist. Da Tötung aus Notwehr gerechtfertigt sein kann, wäre "Selbsttötung" ein weitaus angemessenerer Ausdruck als "Selbstmord". "Suizid", dieser insbesondere in der Wissenschaft bevorzugte Begriff, bedeutet nichts anderes als "Selbsttötung". Motive spielen bei dieser neutralen Sachverhaltsbezeichnung keine Rolle. Die ebenfalls geläufige Rede von "Freitod" ist sicher dem Begriff "Selbstmord" mit seinem darin liegenden (meist religiösen) Unwerturteil vorzuziehen, trifft den Sachverhalt aber nur ausnahmsweise. Denn der Suizident handelt gewöhnlich gerade nicht aus freien Stücken, sondern befindet sich zumindest subjektiv in einer Zwangslage.

II. Ablehnung im Christentum

Historisch wurde Suizid bzw. Selbsttötung in unserem Kulturkreis überwiegend abgelehnt (anders: die antiken Epikureer und Stoiker). Das Nein zum Suizid haben hauptsächlich, aber nicht nur christliche Denker vertreten, die sich neben der Bibel gern auf Platon und Aristoteles stützten. Dabei thematisiert die Bibel den S. gar nicht.[1] In den ersten Jahrhunderten suchten viele Christen sogar den Märtyrertod, und der stellvertretende Opfertod des Paters Maximilian Kolbe 1941 wird auch von offizieller kath. Seite gepriesen (Heiligsprechung 1982). Thomas von Aquin behandelt, ähnlich wie zuvor schon Augustinus, die Selbsttötung jedoch vor allem als Missachtung göttlichen Eigentums, als Frevel und Todsünde. Wer sie begeht, ist auf ewig verloren, unterliegt also der Höllenstrafe. Daher wurden früher "Selbstmörder" außerhalb der christlichen Friedhöfe als ehrlos verscharrt, erhielten jedenfalls einen abgesonderten Platz. Auch nach staatlichem Recht war S. im Mittelalter strafbar. In Großbritannien hat sich die Strafbarkeit sogar bis 1961 gehalten. Abgesehen davon, dass eine theologische Verwerfung des S. für nicht an einen persönlichen Gott glaubende Menschen (und das ist in Deutschland längst die große Mehrheit, s. Statistik, keinerlei Überzeugungskraft hat, ist die theologische Begründung stets fragwürdig gewesen. AT und NT verurteilen den S. nicht, und auch die auf Augustinus und Thomas von Aquin zurückgehende zusätzliche Verurteilung des S. wegen des allgemeinen Tötungsverbots ist angesichts der Kirchengeschichte wenig überzeugungsstark (Beispiel: Verpflichtung, sog. Ketzer ggf. zu töten; Todesstrafe; kirchliche Unterstützung von Armeen auf beiden Seiten; Befürwortung der Atomrüstung; Missionsgeschichte). Auch steht die Ansicht, das Leben sei ein Geschenk Gottes, über das nur dieser verfügen dürfe, im Widerspruch zur Funktion von Geschenken und zum Gedanken der Autonomie. Andere Religionen kennen die Selbsttötung (z.B. Witwenverbrennung im Hinduismus, Verbrennung aus religiös-politischem Protest im Buddhismus; ritueller S. anlässlich der großen Judenpogrome zu Beginn des 1. Kreuzzugs).

III. Heutige kirchliche Positionen

Eine bedingungslose Pflicht, zu leben, die den meist unausgesprochenen Hintergrund des klassischen Nein zum S. bildet, ist nicht plausibel zu machen, denn es kann gute Gründe zur Beendigung des eigenen Lebens geben. Das Verbot des S. ist rational nicht zu begründen.[2] Der Moraltheologe Bernhard Stoeckle meint im (kath.) StL-GG, jedenfalls mit dem Hinweis auf die absolute Herrschaft Gottes über Leben und Tod lasse sich die moralische Verwerflichkeit des S. "nicht schlüssig rechtfertigen". Heute beurteilen die christlichen Großkirchen den S. auch offiziell vorsichtiger. Allerdings verweigerte noch der CIC 1917 (s. Kirchenrecht) dem Suizidenten in Kanon 1240 § 1 das kirchliche Begräbnis, das in der Praxis zumindest seit dem 2. Vatikanum meist trotzdem gewährt wurde. Der CIC 1983 kennt als Konsequenz nur noch das Bestehen eines dauernden Weihehindernisses (can. 1041, 1044). Allerdings enthält der "Katechsimus der katholischen Kirche von 1993 in Nrn. 2280-2282 immer noch deutliche Verurteilungen des S. (Verfügungsverbot Gott gegenüber; Verfehlung gegen Eigen- Nächsten- und Gottesliebe). Angst vor Folterung z. B. könne jedoch die Verantwortlichkeit vermindern. Ein endgültiges Urteil über das ewige Heil solle Gott vorbehalten bleiben. Der Evangelische Erwachsenenkatechismus der ev.-luth. Kirchen (VELKD) verurteilt zwar den "Selbstmord", weil er gegenüber Gott eine Anmaßung darstelle, aber nicht den "Selbstmörder" (S. 1338).

IV. Strafrecht

1. Das deutsche Strafrecht (StGB) regelt den S. nicht, stellt ihn also nicht unter Strafe und auch nicht denjenigen, der Beihilfe dazu leistet oder dazu anstiftet (obwohl das im Einzelfall durchaus ahndungswürdiges Unrecht darstellen kann.[3]. Allerdings hat der Bundestag Ende 2015 eine heiß diskutierte Neuregelung in § 217 StGB betreffend die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung in Kraft gesetzt, die von der Mehrheit der deutschen Strafrechtslehrer massiv abgelehnt wurde. Das ist eine wohl eine ideologisch motivierte Regelung, die durch Sachargumente kaschiert wird. Im Ergebnis bedeutet die Regelung eine erhebliche Einschränkung des Rechts auf den eigenen Tod, deren Vereinbarkeit mit dem GG äußerst fraglich ist. Eine Entscheidung des BVerfG steht bevor. Die Vorschrift lautet:

(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.

Das Gesetz will nach der Gesetzesbegründung[4] die Entwicklung der Beihilfe zum Suizid (assistierter Suizid) zu einem Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen Versorgung verhindern. Faktisch richtet sich das Gesetz gegen hochspezialisierte Organisationen wie die schweizer Organisationen Dignitas und Exit, damit diese in Deutschland nicht tätig werden können. Gleichzeitig werden aber auch alle Ärzte getroffen, die ausreichende und praxiserprobte medizinische und soziale Fähigkeiten haben ("ärztlich assistierter Suizid"), um den Menschen ein würdiges und auch in Extremfällen schmerzfreies Sterben zu ermöglichen. Das wird einen "Sterbetourismus" zur Folge haben, wenn das BVerfG keine Korrektur vornimmt. Wegen weiterer Ausführungen wird auf den Artikel Sterbehilfe verwiesen.

2. § 216 StGB bedroht denjenigen mit Strafe, der einen Anderen tötet oder dies versucht, obwohl er "durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden" ist. Das bis heute ungelöste Rechtsproblem besteht darin, dass es wegen der Vielzahl unterschiedlichster Fallvarianten nicht möglich zu sein scheint, anhand plausibler Kriterien stets konkret nachvollziehbar zu entscheiden, ob noch straflose Beihilfe zum S. oder bereits strafbare Tötung auf Verlangen vorliegt. Hauptkriterien sind bislang die Eigenverantwortlichkeit des Suizidenten und die Frage der Beherrschung des "letzten tödlichen Aktes". Musterbeispiel für eine vielfach als willkürlich empfundene Grenzziehung: Ein Arzt, der dem Sterbewilligen die erlösende Spritze zur Selbstinjektion übergibt, ist strafloser Gehilfe eines S. Nimmt er die Injektion selbst vor, macht er sich strafbar. Die Fachdiskussion und Rspr. (mit etlichen spektakulären Fällen) zur Gesamtproblematik einschließlich ihrer zahllosen medizinischen Details ist rechtlich verworren und widersprüchlich, ethisch umstritten und rechtspolitisch schroff kontrovers. Theologisch-kirchliche Einflussnahmen erleichtern nicht gerade die Erörterung in Richtung eines dringend erforderlichen Gesetzes, bei dem die Eigenverantwortlichkeit und die Interessen des Suizidenten im Vordergrund stehen müssten. Reinhard Merkel, der die Abgrenzungsproblematik unaufgeregt, eindrucksvoll und allgemeinverständlich dargelegt hat, spricht von einer Neigung der Strafrechtsdogmatik (s. Dogmatik), auch nur die Frage nach der Möglichkeit einer teilweisen Straffreiheit der Tötung auf Verlangen ("aktive Sterbehilfe") vor dem Hintergrund der These eines absoluten Lebensschutzes für unzulässig zu erklären. Das führe im Bereich der medizinischen Sterbehilfe zu einem "Gesamtklima der argumentativen Unehrlichkeit". Diese ideologischen Voreingenommenheiten dürften auch der in der Rspr. gebräuchlichen Ansicht zugrunde liegen, wonach beim S. die Inhaber einer sog. Garantenstellung (z. B. Angehörige) stets eine Pflicht zum rettenden Eingreifen haben, wenn sie nicht wegen unterlassener Hilfeleistung oder gar Tötung durch Unterlassen belangt werden wollen. Mit anderen Worten: der Garant (Angehörige, Arzt) darf dem Suizidenten sozusagen den Strick reichen, muss ihn aber nach erfolgtem Aufhängen wieder abschneiden. Damit wird die Straflosigkeit der Beihilfe zum S. beseitigt, obwohl das beim erkennbar selbstverantworteten S. der Willensentscheidung des Suizidenten und damit auch seiner Würde (s. Menschenwürde) widerspricht.

V. Fragenbündel

Noch kaum kritisch erörtert sind Fragen der (freilich z. B. wegen nur vorübergehender Verzweiflung grundsätzlich zulässigen) staatlichen Schutzpflicht bei drohendem S. Verfassungsrechtlich besteht nach richtiger (aber meist abgelehnter) Ansicht ein Anspruch auf selbstverantwortlichen S. aus Art. 2 GG (negative Freiheit auf Leben).[5] Schier uferlos sind Komplikationen im Bereich der medizinischen Sterbehilfe (s. Sterbehilfe). "In Würde sterben" ist zwar ein allgemeines Postulat, aber insbesondere die Politik verweigert sich entgegen dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung (eindeutige Umfrageergebnisse) diesem Fundamentalproblem, weil man die publizistischen Möglichkeiten der großen Kirchen, den Kulturkampf und die parteiinternen Streitigkeiten scheut. Es ist eine Frage der Reife einer Gesellschaft. Noch kaum erörtert sind immer noch die Fragen, die die einschlägigen strafrechtlichen Wertungen im Hinblick auf die (verbal unstreitige!) verfassungsrechtliche Unzulässigkeit spezifischer staatlicher Ideologien aufwerfen.

VI. Zur tatsächlichen Bedeutung

Im Jahr 2013 nahmen sich in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts 10.076 Menschen das Leben, und weit über 100.000 begangen einen Suizidversuch. Nicht weniger als 669 sahen den letzten grausamen Ausweg darin, sich insbesondere vor einen Zug zu werfen. Den Medikamententod suchten 1385 Menschen, den Tod durch Erhängen 4580. Siehe dazu http://www.suizidpraevention-deutschland.de/informationen/suizide-2013.html

à Bioethik; Sterbehilfe; Liberale Rechtstheorie; Menschenwürde.

Literatur:

  • BGH NJW 1988,1532;
  • EvStL 3. A. 1987, Art. Selbstmord; EvStL, Neuausgabe 2006, Art. Suizid; Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 5. A. 1989;
  • Katechsimsus der kath. Kirche, 1993; Staatslexikon der Görresgesellschaft, 7. A. Bd. 4, Art. Selbsttötung.
  • Johannes Paul II.: Enzyklika "Evangelium vitae" über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, Bonn 1995;
  • Amery, Jean: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart 1971;
  • Baumann, Peter: Suizid und Suizidhilfe. Eine neue Sicht. Norderstedt 2007, 320 S. (aus der ärztl. Praxis);
  • Baumann, Ursula: vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. Bis zum 20. Jahrhundert in Deutschland. Weimar 2001
  • Birnbacher, Dieter: Selbstmord und Selbstmordverhütung aus ethischer Sicht, in: A. Leist (Hg.), Um Leben und Tod, Frankfurt a. M. 1990, 395-422 (stw 846);
  • Bronisch, Thomas: Der Suizid. Ursachen, Warnsignale, Prävention. München 2014;
  • Deger, Johannes: Waffeneinsatz gegen Selbstmörder? NVwZ 2001,1229-1232;
  • Fink, Udo: Selbstbestimmung und Selbsttötung. Verfassungsrechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit Selbsttötungen. Köln u.a. 1992;
  • Hoerster, Norbert: Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a. M. 1998, 51 ff. (zur Verhinderung des S.);
  • Krack, Ralf: Teilnahme am Suizid und Tötung auf Verlangen. Ein Appell an den Gesetzgeber. KJ 1995,60-76;
  • Kuitert, Harry M.: Das falsche Urteil über den Suizid. Gibt es eine Pflicht zu leben? Stuttgart 1986, 200 S.;
  • Merkel, Reinhard: Teilnahme am Suizid, Tötung auf Verlangen, Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdogmatik. In: R. Hegselmann/ R. Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt a. M. 1991 (stw), 71, 75 ff.
  • Minois, Georges: Geschichte des Selbstmords, Düsseldorf/ Zürich 1996, 520 S. (vom Mittelalter bis heute; viele Aspekte)
  • Pohlmeier H./Schöch H./Venzlaff U.: Suizid zwischen Medizin und Recht, Stuttgart u. a. 1996, 154 S.

 


[1] Hierzu eingehend, auch zur Judasgeschichte, der Theologe Kuitert a. a. O. 102 ff.; ebenso K.-P. Jörns in: EvStL, 1987, unter I theologisch

[2] so auch etwa Arthur Kaufmann in: Rechtsphilosophie, 1997, 270.

[3] so auch Norbert Hoerster S. 51 ff., 56

[5] wie hier z. B. Roman Herzog im EvStL 3. A. 1987

© Gerhard Czermak / ifw (2017)