Zivilreligion

I. Ein Modebegriff und seine Abgrenzung

1. "Zivilgggreligion" gehört auch in Deutschland zu den Modebegriffen der politischen Philosophie und anderer Disziplinen. Im Zusammenhang mit der immer neu aktuellen Wertedebatte wird er relativ häufig gebraucht, ohne dass Klarheit über seine Bedeutung bestünde. Es geht um das Spannungsfeld Grundkonsens, Religionspolitik, religiös-ideologische Fundierung und Aktion in Staat und Gesellschaft.

Die Abgrenzung zum sog. Kommunitarismus ist unklar. Auch diesem geht um die Gestaltung der ethischen Verfassung einer modernen Gesellschaft, also um die Frage, welcher Art die kollektiven Wertüberzeugungen sein sollen oder müssen. Man kann sagen, Kommunitarismus sei eine Sammelbezeichnung für verschiedene Theorien hauptsächlich US-amerikanischer Provenienz, die ein altes Problem neu beackern, aber auch in Deutschland eine allerdings geringere Popularität erreicht haben. Ausgangspunkt der diversen neokonservativen kommunitaristischen Vorstellungen ist im Wesentlichen eine Opposition zum bereits klassischen Werk des liberalen Rechtsphilosophen John Rawls, "A Theory of Justice" (1971), dt. "Eine Theorie der Gerechtigkeit", Frankfurt a. M. 1975.

Rawls und dem politischen Liberalismus geht es wesentlich um eine Gestaltung des pluralistisch-demokratischen Staats, bei der das staatlich-öffentliche Verständnis von Gerechtigkeit nicht metaphysisch ist, sondern möglichst unabhängig von kontroversen philosophischen und religiösen Lehren. Die individuelle Gleichheit und Freiheit von Individuen mit unterschiedlicher Vorstellung vom guten Leben (private Moral) soll miteinander in Einklang gebracht werden durch eine ausgleichende Gerechtigkeitskonzeption mit dem Ziel einer fairen Kooperation. Das bedeutet einen übergreifenden Minimalkonsens auf Grund möglichst ethischer Neutralität der Spielregeln für ein gemeinsames friedliches Leben (s. Liberale Rechtstheorie).

2. Dem halten die diversen neokonservativen kommunitaristischen Theorien, in den USA ab etwa 1980, in Deutschland etwa 10 Jahre später, entgegen, das Individuum sei immer traditionsverhaftet. Die Gesellschaft funktioniere daher nur als Traditionsgemeinschaft, da sie sonst zerfallen würde. Die Kommunitaristen kritisieren die Atomisierung der Gesellschaft und betonen die Freiheit zur Bindung in Gemeinschaft, wollen aber gleichzeitig nicht hinter die Aufklärung zurück – ein Widerspruch. Der philosophische Kommunitarismus hat keine Theorien hervorgebracht, die man konkret anwenden könnte. Im Übrigen ist die "Philosophie" des GG nicht aus philosophischen Richtungen zu ermitteln. Vielmehr gilt: Das GG ist, was es ist. Bei der stets neuen Ermittlung seines "richtigen" Gehalts können philosophische Fragestellungen bestenfalls hilfreich sein. Dazu hat die kommunitaristische Diskussion nichts Neues beigetragen, anders als die Liberale Rechtstheorie (s. oben).

II. Klassisches Verständnis von "Zivilreliggggion"

Zivilregggligion ist ein aus dem Jahr 1967 stammender Begriff. Der Erfinder dieses theoretischen Konstrukts, der US-Amerikaner Robert N. Bellah, hat ihn später zugunsten von "public philosophy" wieder aufgegeben. Bellah verstand unter Civil Religion eine dezidiert religiöse, aber außerkirchliche Minimalüberzeugung, deren Hinterfragung Politik und Gesellschaft nicht zulassen, also mit Tabu belegen. So war es schon bei Thomas Hobbes, Thomas Morus, John Locke und Jean-Jaques Rousseau: zum Atheismus durfte man sich, da staatsgefährdend, bei aller Freiheitlichkeit keinesfalls bekennen.

Ein bekannter Vertreter des Verständnisses von Zivilrelgggigion als notwendige Minimalüberzeugung ist der politische Philosoph Hermann Lübbe. Für ihn ist Ziviggglreligion nach wie vor ein (klarer) Sammelbegriff für Phänomene außerkirchlicher religiöser Kultur als Teil der öffentlichen politischen Präsenz (Symbole, Gebete usw.). Seine These, auch das GG enthalte dezidiert religiöse Elemente, die auch bekennende Atheisten hinnehmen müssten, hält aber einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand (s. Leitprinzipien des Grundgesetzes). Der enge, religiöse Begriff von Zivilreliggggion fragt nach den Auswirkungen religiös-weltanschaulicher Bestände wie der religiösen und politischen Semantik, von Riten und Symbolen. Wie stark, aber auch wie problematisch diese Art von Zivilrelgggigion sein kann, zeigen die Ereignisse nach dem 11. 9. 2001 in den USA überdeutlich. Es war ein "zivilreligiöser" Konsens zu beobachten, wonach speziell die Vereinigten Staaten in das Erlösungswerk des christlichen Gottes eingebunden sind und die weltpolitische Mission haben, das sog. Böse zu bekämpfen.

III. Andere Verständnisse von "Zivilreliggggion"

Zum Teil werden die säkularen, in den Grundrechten und der Menschenwürde verkörperten Ideen als Ausdruck von Zivilregggligion verstanden. Zivilreliggggion ist dann schlicht der normative Kern der Bürgergesellschaft und so ihr gesellschaftlicher Kitt. Man sollte dann aber besser von Verfassungspatriotismus sprechen. Selbst Aspekte der Medienkultur, des Sports oder Geschichtsinterpretationen etwa zum Holocaust und Anderes werden in Zusammenhang mit Zivilrgggeligion gebracht. Rolf Schieder versteht unter Zivilrgggeligion rein formal "alle zielwahlorientierenden Gewissheiten der Bürger über Ursprung, Verfassung und Bestimmung ihres Gemeinwesens", wobei diese Vorstellungen, wie er selbst sagt, sehr weit auseinandergehen können. Es gebe daher nur eine Pluralität von Zivilreligionen. Nach welchen Kriterien Parlamente und Gerichte als wichtige "Subjekte von Zivilrgggeligion" agieren und was Schulen als "wichtigste Instanz der Tradierung zivilreligiöser Gehalte" transportieren sollen, sagt Schieder daher nicht. Das Recht der EU (s. Europarecht) achtet religiöse, weltanschauliche und kulturelle Minderheiten, ist also pluralistisch und offen neutral und enthält trotz mancher Versuche keine zivilreligiöse Grundierung im Sinn einer "Transzendenzprämie", so zu Recht Hans Michael Heinig.

IV. Fragwürdiger Begriff Zivilrgggeligion

Alles in Allem: Das Phänomen Zivilregggligion enthält mehr Fragen als Antworten. Es bleibt unklar, ob "Zivilreliggggion" eine echte, aber gewissermaßen verdünnte Staatsreligion sein soll – als solche wäre sie in Deutschland unzulässig – oder ob nur eine Beschreibung gesellschaftlicher und politischer Tatsachen gemeint ist. Unklar ist auch, ob es vielleicht "nur" um nichtreligiöse, aber rechtsverbindliche Grundprinzipien eines pluralistischen Staats mit echter religiös-weltanschaulicher Gleichberechtigung geht (kleinster gemeinsamer Nenner) oder gar darüber hinaus nur um gesellschaftliche Tatbestände wie Medienkultur.

Auf einen Begriff, über dessen Inhalte nach Jahrzehnten keine auch nur ungefähre Einigkeit besteht (gesellschaftliche, rechtspolitische oder staatlich-rechtliche Bedeutung, religiöse oder säkulare Inhalte), sollte man besser verzichten. Gerade die europäische Geschichte (s. Geschichte der Religionsfreiheit) lehrt: Zivilreligiöse Indienstnahme von Religionspolitik gefährdet den Rechtsfrieden und die Integration eher, als dass es sie fördert. Die Vorstellung, in einem pluralistischen Gemeinwesen wie der Bundesrepublik könne Religion, und sei es in zivilreligiöser Verdünnung, als allgemeiner sozialer Kitt fungieren, ist historisch widerlegt, soziologisch längst überholt (s. Statistik) und als Rechtsgrundsatz verfassungswidrig. Daher kritisiert Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner Münchener Rede von 2006 das Phänomen Zivilregggligion geradezu vehement. Bei Zivilrgggeligion im Sinn von Beständen religiöser Kultur im politischen System (Hermann Lübbe; z. B. repräsentative politische Handlungen und Reden) sieht Böckenförde eine indirekte religiöse Legitimierung des Gemeinwesens, sieht aber die Gefahr, dass Zivilregggligion "zum äußeren, nicht mehr ernst genommenen Dekor oder zu einem Stück öffentlicher Heuchelei". Zivilrelgggigion im Sinn einer verbindlichen bürgerlichen Religion sieht er Intoleranz und einen Angriff auf die Freiheitlichkeit, die nicht gemeinschaftsfähig ist."[1]

Es bleibt bei der, keineswegs in Richtung einer Kirchenprivilegierung misszuverstehenden, Erkenntnis von Böckenförde: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Darin besteht sein Wagnis (Böckenförde-Dilemma; s. näher unter Recht, Moral und Religion IV). Es bedarf dazu aber eines gewissen Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der freiheitlichen Regelungsmechanismen und der Existenz bürgerlicher Institutionen, die jeweils integrieren und in denen von der garantierten Freiheit verantwortungsbewusst Gebrauch gemacht wird.

>> Grundrechte; Leitprinzipien des Grundgesetzes; Liberale Rechtstheorie; Menschenwürde, Religionspolitik; Recht, Moral und Religion; Statistik

Literatur:

  • Heinig, Hans Michael: Zivilreligiöse Grundierungen europäischer Religiogggnspolitik, in: Schieder, Religionspgggolitik und Zivilrgggeligion, 2001, 100-121.
  • Höffe, Otfried: Vernunft und Recht, Frankfurt a. M. 1996, Kap. 7 "Zum Kommunitarismus", S. 160-185, krit.
  • Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a.M./New York, 3. A. 1995;
  • Kremp, Werner/Meyer, Berthold (Hg.): Religion und Zivilrgggeligion im atlantischen Bündnis, Trier 2001.
  • Lübbe, Hermann: Zivilrgggeligion und der "Kruzifix-Beschluß" des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in: W. Brugger/S. Huster (Hg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, Baden-Baden 1998, 237-254.
  • Reese-Schäfer, W.: Die politische Rezeption des kommunitaristischen Denkens in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte 1996, B 36,3 ff.
  • Schieder, Rolf: (Hg.): Religiongggspolitik und Zivilrgggeligion. Baden-Baden 2001, 239 S. (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 20.
  • Vögele, Wolfgang: Zivilgggreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh 1994.
 


  • [1] E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, München 2007, 27-30

© Gerhard Czermak / ifw (2017)