Auslegung
I. Allgemeine Bedeutung
Die Lehre von der juristischen Auslegung ist ein wesentlicher Teil der Jurisprudenz als praktischer Wissenschaft. Sie ist Voraussetzung jeder rationalen Rechtsanwendung und dient dazu (abgesehen von den ergänzenden Prinzipien der Füllung von Gesetzeslücken im Weg der Rechtsfortbildung), die Bedeutung verbal fixierter Rechtsnormen in einer aktuellen rechtlichen und gesellschaftlichen Gesamtsituation zu erfassen. Die Auslegung (Interpretation) soll so erfolgen, dass die dabei gewonnenen präziseren rechtlichen Obersätze möglichst auf konkrete Einzelsituationen angewandt werden können. Die dabei erzielten Ergebnisse (Begründungen behördlicher oder gerichtlicher Entscheidungen, Rechtsgutachten, Gesetzesbegründungen) sollen einer rationalen Überprüfung nach systematischen Gesichtspunkten standhalten und im rechtlichen Gesamtsystem und nach den gesellschaftlich allgemein anerkannten Vorstellungen von Gerechtigkeit akzeptabel sein. Das ist wegen der Gesetzesbindung der Staatsorgane auch verfassungsrechtlich von Bedeutung, Art. 20 III GG.
II. Klassische Methode
Die klassischen Methodengesichtspunkte sind die Auslegung nach dem Wortlaut, die systematische Auslegung (Kontext), die praktisch wichtige, aber theoretisch problematische Auslegung nach dem erkennbaren Zweck der Norm (teleologische Auslegung ) und die historische Auslegung . Dabei sind stets alle Methoden zu berücksichtigen. Die Fülle der dabei zu berücksichtigenden Einzelgesichtspunkte ist groß (Beispiele: Alltagsbegriff oder Fachbegriff, uneinheitliche Wortwahl, unklare Gesetzessystematik, Normkollisionen, logische Widersprüche, Behandlung vergleichbarer Probleme in anderen Gesetzeswerken, Gewichtung unterschiedlicher Interessen, ideologische Fragen bei unbestimmten Begriffen, unklarer Gesetzeszweck, Wille des historischen Gesetzgebers, Bedeutung des zeitlichen Abstands, geänderter Normhintergrund usw.). Die h. M. bekennt sich mit dem BVerfG zur sog. objektiven Auslegungstheorie, wonach letztlich die objektiven Zwecke des Rechts wie Interessengerechtigkeit und Rechtssicherheit die Oberhand haben sollen. Demgegenüber wird eingewandt, die sog. objektive Methode sei in Wirklichkeit subjektiv und im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung müsse die historische Auslegung der erste und nicht der letzte Schritt jeder Rechtsanwendung sein (so insb. Bernd Rüthers).
Im Ergebnis erscheinen alle Versuche, eine allgemeingültige methodische Rangfolge festzulegen, als gescheitert. Allenfalls ist zu fordern, dass ein eindeutiger Wortsinn einer Norm nicht durch andere „Methoden“ korrigiert werden darf, sondern dass das ggf. nur als Rechtsfortbildung möglich ist (z. B. „teleologische Reduktion). Auslegung und Rechtsfortbildung (die den möglichen Wortsinn des Normtextes überschreitet) werden nicht immer klar zu unterscheiden sein. Das Fehlen einer logisch klaren, stets in gleicher Weise anwendbaren wissenschaftlichen Methode bedeutet aber nicht Beliebigkeit des Rechtsanwenders. Gesetzesauslegung muss vielmehr stets, ausgehend vom Wortlaut, alle problembezogenen Gesichtspunkte, ggf. unter Heranziehung von „Hilfswissenschaften“ (Biologie, Physik, Soziologie usw.) genau prüfen, bewerten und die ggf. bleibenden Restzweifel durch Gewichtung der Einzelgesichtspunkte unter Berücksichtigung der Rechtsfolgenabwägung letztlich autoritativ – aber konkret nachvollziehbar und kritisierbar! – überwinden.
III. Verfassungs- und europarechtskonforme Auslegung
Nationale Normen sind so zu interpretieren, dass sie mit dem vorrangigen nationalen Verfassungsrecht und dem Recht der EU vereinbar sind. Andernfalls sind sie nicht ohne vorherige Anrufung des BVerfG (Art. 100 I GG) anwendbar. Die Regeln der juristischen Methodenlehre sind zu beachten. Für die Anwendung des Religionsverfassungsrechts (herkömmlich: „Staatskirchenrecht“) gelten grundsätzlich, wie im Verfassungsrecht überhaupt, keine anderen Gesichtspunkte, sondern allenfalls andere Akzentuierungen. So sind hinreichend aus anderen Teilen des GG abzuleitende Wertüberzeugungen zu berücksichtigen. Der hohe Abstraktionsgrad vieler Artikel des GG bedingt die besondere Schwierigkeit ihres richtigen Verständnisses, ist jedoch keine Besonderheit speziell des Verfassungsrechts. Eine besondere Bedeutung hat die funktionelle Auslegung des GG erhalten. Die Rechtsprechung des BVerfG spielt eine große Rolle, ist aber selbstverständlich der Kritik unterworfen und kann jederzeit geändert werden. Geschichte und Tradition als solche kann auch im Religionsverfassungsrecht niemals, wie aber oft zumindest indirekt behauptet wird, ein selbständiges Rechtsargument sein. Denn jede Tradition muss sich rechtlich stets aktuell legitimieren. Das hat das BVerfG auch für das Religionsverfassungsrecht schon mehrfach betont. Die Auslegung religionsverfassungsrechtlicher Normen verlangt, worauf etwa Jeand’Heur/Korioth in „Grundzüge des Staatskirchenrechts“ hinweisen, vom Interpreten, dass er eigene glaubensfreundliche bzw. religionskritische Vorverständnisse unberücksichtigt lässt (zumindest aber offen legt).[1]
Literatur:
- BVerfGE 11, 126 (130).
- Bydlinski, Franz, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 3. A. Stuttgart 2018.
- Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 17. A. 2022, Einleitung (Rn. 1-11; Nachweise der Rspr. des BVerfG zur GG-Auslegung).
- Reimer, Franz: Juristische Methodenlehre, 2. A. Baden-Baden 2020.
- Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. A. München 2020.
- Sachs, Michael, in: Sachs (Hg.), GG, 9. A. 2021 (dort: Einführung, zur Auslegung).
© Gerhard Czermak / ifw (2017/2023)