Das Böckenförde-Dilemma
Seit 50 Jahren wird das sogenannte "Böckenförde-Diktum" als rechtsphilosophisches Totschlagargument gegen Nichtreligiöse angeführt. Gerhard Czermak, ehemaliger Verwaltungsrichter und Experte für Religions- und Weltanschauungsrecht, unterzieht das Diktum einer Prüfung.
Bei der Erörterung von Fragen der Integration von Staat und Gesellschaft prägte der katholische Juraprofessor und spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde 1967 ein geflügeltes Wort. Es lautet in seiner knappsten Fassung: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Böckenförde schloss seine Abhandlung mit dem Gedanken, auch der säkularisierte weltliche Staat müsse wohl "letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben", die "der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt".2
Totschlagskeule gegen Nichtreligiöse?
Damit ist die damalige Position Böckenfördes aber nur stark verkürzt und missverständlich umrissen, und vermutlich gerade deswegen wurde und wird der oben zitierte Satz von kirchlichen und weltlichen Sonntagsrednern so gern wiederholt. Ohne weiteres erkennbar ist meist die Absicht, der Religion allgemein und speziell den christlichen Kirchen eine ganz besondere Bedeutung in der Frage der Integrierung der Gesellschaft beizumessen. Daraus folgt dann wie selbstverständlich eine Legitimation des Staats, die Kirchen materiell und immateriell bevorzugt zu fördern. Man argumentiert: Zwar seien im pluralistischen Staat religiöse und weltanschauliche Vereinigungen grundsätzlich gleichberechtigt. Wenn es dennoch eine Vorzugsbehandlung gebe, dann natürlich lediglich aus der rein säkularen Sorge um das Wohl der Allgemeinheit, und das sei legitim. Wegen des großen Dienstes, den speziell die Kirchen, wie es heißt, dem Gemeinwesen insgesamt leisten, erscheint daher die öffentliche Hand geradezu verpflichtet – bei gleichzeitig selbstverständlicher Wahrung der Neutralität –, sie dankbar mit besonderem Wohlwollen zu behandeln. Damit ist der Satz Böckenfördes zur Totschlagskeule gegen Kirchen- oder gar Religionskritiker mutiert.
Ein besonders grobschlächtiger Ausdruck solchen Denkens ist z. B. die Erklärung des seinerzeitigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger auf einem Neujahrstreffen der CDU am 15.1.2006 in Weinheim. Dort erklärte er zum Thema Einbürgerung pauschal, Muslime seien ihm lieber als Scientologen oder Atheisten.3 Deutlich ist auch die Tatsache, dass das Grundsatzprogramm der CDU von 2007 den Begriff Kirche an neun Stellen verwendet und gar 25 Mal das spezifisch Christliche (was immer das sei), während die Wertevermittlung durch andere Religionen nur untergeordnet erwähnt wird. Die Nichtreligiösen hingegen werden in keinem Zusammenhang genannt, obwohl sich seit langem über 50% der gesamtdeutschen Bevölkerung (unabhängig von einer ggf. formalen Religionszugehörigkeit und gesichert durch etliche seriöse repräsentative Umfragen) als nichtreligiös bezeichnen. Im Jahr 2012 hielten sich insgesamt nur noch ca. 43% der über 16-Jährigen für religiös.4 Mit dem Satz: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", hat dieser Tatbestand nichts zu tun.
Das Böckenförde-Zitat im Textzusammenhang
Für sich genommen ist der Satz ganz banal: Natürlich kann auf Dauer kein Staat (richtig) funktionieren, wenn ihn die große Mehrheit seiner Bürger in seinen Grundstrukturen ablehnt, unabhängig vom Inhalt einzelner Gesetze. Die eingangs zitierten Passagen heben zwar, zusammengelesen, die christlichen religiösen Überzeugungen hervor, die freilich 1967 ungleich größere Bedeutung hatten als heute. Im Gesamtzusammenhang des Böckenförde-Dilemmas (auch: Böckenförde-Diktum, fälschlich Böckenförde-Paradoxon) verweist Böckenförde aber ohne Differenzierung auf alle in der Gesellschaft vorhandenen bindenden Kräfte. Er plädiert staatspolitisch gerade nicht für eine einseitige Vorzugsbehandlung der christlichen Religion (was angesichts seiner katholischen Gläubigkeit vielleicht nahegelegen hätte). Das wird deutlich, wenn man die an den o.g. vielzitierten Zentralsatz anschließende Passage berücksichtigt: Die fehlende Garantie einer gesellschaftlichen Basis des Staats, so Böckenförde, "ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er ... nur bestehen, wenn sich die Freiheit ... von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert ... Es führt kein Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die Ordnung der Freiheit zu zerstören." Diese Position hat Böckenförde in seinem Münchener Vortrag Der säkularisierte Staat von 2006 bestätigt.
Die Situation vor und nach der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit
Der Aufsatz von 1967 entstand in einer besonderen Situation. Dazu Böckenförde im Vorwort der Veröffentlichung seines Münchener Vortrags: "Das wurde seinerzeit in eine Situation hineingeschrieben, in der die Vorstellung, der Staat müsse ein christlicher Staat sein und die Religion zu seiner festen Grundlage haben, noch breiten Widerhall fand ... und viele Christen sich dem religiös-neutralen, sich rein weltlich verstehenden und agierenden Staat gegenüber distanziert, wenn nicht ablehnend verhielten."5 Noch zwei Jahre zuvor war ja die 1965 schließlich revolutionär erfolgte Anerkennung der allgemeinen Religionsfreiheit durch die katholische Kirche auf dem 2. Vatikanischen Konzil (Declaratio de libertate religiosa) zumindest im Vorfeld ihrer Entstehung noch sehr umstritten.6 Wegen dieser verbreiteten Ablehnung, so Böckenförde, habe er am Schluss seiner Abhandlung an die Christen appelliert, den säkularisierten Staat nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches zu erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, deren Verwirklichung auch ihre Aufgabe sei.
In seinem Vortrag von 2006 erklärte Böckenförde, geistliche und religiöse Zwecke lägen außerhalb der staatlichen Befugnisse. Das ist unter Verfassungsrechtlern selbstverständlich und ergibt sich auch klar aus dem Grundgesetz.7 Eine Abkehr von der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staats, auch "etwa auf dem Weg mehrheitsgetragener politischer Willensbildung", sei – so Böckenförde – unzulässig. Zivilreligion als verbindliche "Erhaltungsideologie für den Bestand des Gemeinwesens" lehnt Böckenförde als freiheitswidrig ab. Wichtig ist auch der Satz, der säkularisierte Staat dürfe "keiner religiösen Überzeugung ... die Chance einräumen, unter Inanspruchnahme der Religionsfreiheit und Ausnutzung demokratischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen und schließlich abzubauen". Gerade dies geschieht aber, sei hier angemerkt, mit einem kirchlichen Lobbyismus, der staatlicherseits gefördert bzw. zugelassen wird. Sein gigantisches Ausmaß ist erst seit der kürzlich erschienenen Untersuchung von Carsten Frerk genauer nachzuvollziehen.8
Der bleibende positive Gehalt des Böckenförde-Diktums
Ursula Neumann etwa hat auf die Fehlinterpretation der Aussage Böckenfördes aufmerksam gemacht.9 Böckenförde rekurriere nicht auf abstrakte Werte wie Religion und Nation, sondern wende sich an die Bürger, die den Staat um der Freiheit willen tragen müssen. Er habe 1967 an die Christen appelliert, ihren Widerstand gegen den Staat aufzugeben. Böckenförde hat die Richtigkeit dieser Ansicht im unmittelbaren Anschluss an Neumann bestätigt und ergänzt, sein Satz habe im Kontext nicht normativen, sondern diagnostisch-analytischen Charakter. Religionsfreiheit gebe es nur bei Ablösung des Staats von der Religion und bei Freiheit sowohl von wie für Religion.10 Noch klarer wird Böckenförde in seinem Aufsatz Religion im säkularen Staat (1996). Dort weist er darauf hin, im pluralistischen Staat gehöre Religion "zu jenen Instanzen, die ethisch-sittliche Grundauffassungen und Grundhaltungen vermitteln", also neben anderen.
Freilich ist mit Böckenfördes ziemlich allgemein gehaltenen Ausführungen zum "Böckenförde-Dilemma" keine Klarheit gewonnen hinsichtlich der entscheidenden Frage, welche übergreifenden Ideen denn in der Lage sind, die verschiedenen Religionen und anderen gesellschaftlichen "Instanzen" und die Gesamtheit der Staatsbürger so zusammenzubinden, dass der Staat insgesamt von ihnen getragen wird. Jedenfalls aber liefert Böckenförde keinerlei Grund für die eingangs geschilderten Aspekte einseitiger Kirchenförderung.
Kritik an Böckenförde
Böckenförde hat 1967 die Religion als staatstragendes gesellschaftliches Moment gesehen, wenn auch ohne die geschilderten falschen Schlussfolgerungen. Das war aber schon damals religionssoziologisch nicht begründet. Von weitgehender Homogenität in Gesellschaft und Staat, von der er anscheinend ausging, konnte keine Rede sein. Und heute sind die vielfältigen religiösen Glaubensvorstellungen zur Sache von Minderheiten geworden.11 Mit den unterschiedlichen Religionen kann man zwar jeweils Teile der Gesellschaft für sich leichter integrieren, aber keine gesamtgesellschaftliche Integration herbeiführen. Kulturelle Vielfalt und weltanschaulicher Dissens sind Tatsache, und sogar innerreligiös, auch innerkatholisch, gibt es schwere Differenzen. Die zum Teil heftigen, ja kulturkampfartigen Auseinandersetzungen besonders in bioethischen Fragen unterstreichen das. Bezogen auf die katholische Kirche kann man mit dem evangelischen Theologen Hartmut Kreß von "Neo-Integralismus" sprechen, wenn man bedenkt, wie das römische Lehramt weltweit auf katholische Parlamentarier in Fragen der Bioethik, Familie und Partnerschaft bis zur Androhung der Exkommunikation Einfluss zu nehmen versucht. Ein Beispiel: In Spanien hat Kardinal Trujillo im Jahr 2005 katholische städtische Angestellte aufgefordert, homosexuelle Paare auch dann gesetzwidrig nicht zu trauen, wenn sie dadurch ihre Stelle verlieren.12Generell sind die gewissensbindenden autoritativen Vorgaben des katholischen Lehramts nicht geeignet, solchen Glauben als "freiheitsfördernde Ressource des säkularen Staates" zu deuten (Hartmut Kreß).13 Böckenförde berücksichtigt zumindest nicht ausdrücklich, dass unsere Gesellschaft weitaus mehr durch außerreligiöse Aspekte geprägt wird (Bildung und Wissenschaft, Rechtssystem, Sport usw.) als durch religiöse.
Resultat und ergänzender Ausblick
Der hier diskutierte Satz Böckenfördes hätte seinerzeit wegweisend sein können, wurde aber oft bewusst fehlgedeutet, um damit Böckenfördes Autorität zu instrumentalisieren zugunsten einseitiger und somit ungerechtfertigter Privilegien für die Kirchen. Dazu kann sich aber redlicherweise niemand auf das geflügelte Wort berufen, und solches Vorgehen sollte nach Möglichkeit deutlich zurückgewiesen werden.
Die Aussagen Böckenfördes haben aus heutiger Sicht klare Defizite: Zum einen gewichten sie die Bedeutung der Religion auch in ihrer aktualisierten Variante viel zu stark und setzen sich nicht mit dem Argument auseinander, dass man u.a. in Deutschland mit Religion offensichtlich keine gesamtgesellschaftliche Integration erreichen kann. Zum anderen hat Böckenförde keinen konkreten Lösungsversuch für das beschriebene Dilemma angeboten, obwohl er vom nichtchristlichen Charakter des Staats ausgeht. Hierzu seien die folgenden Hinweise gegeben.
Eine gesamtgesellschaftliche Integration kann im pluralistischen Staat nur eine nichtreligiöse Basis haben, die aber allen religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen und unterschiedlichen moralischen (ethischen) Überzeugungen bei formaler Gleichberechtigung Rechnung tragen muss. Wenn der Staat "Heimstatt aller Bürger" sein will (so das Bundesverfassungsgericht), muss er folgende Grundregel beachten: Rechtliche Vorschriften und staatliche Verhaltensweisen sind nur auf der Grundlage solcher Argumente zulässig, die keine besonderen religiösen oder philosophischen Lehren voraussetzen. Das bedeutet, dass sowohl Freiheitsbeschränkungen wie Fördermaßnahmen nur zur Sicherung solcher Rechtsgüter erfolgen dürfen, deren Vorrang im konkreten Fall unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit neutral begründet werden kann. Das staatliche Handeln muss mit anderen Worten gegenüber jedermann gerechtfertigt werden können.
Dieses begründungsneutrale Konzept ergibt sich genaugenommen aus dem Grundgesetz. Es kennt keine spezielle Staatsideologie, sondern nur zentrale Grundregeln wie Anerkennung individueller Grundrechte, Gewaltverbot, Sicherung des inneren Friedens usw. Eine gründliche staatsbürgerliche Erziehung zu diesen staatlich-gesellschaftlichen Grundwerten (Basiskonsens) steht über den Religionen und areligiösen Auffassungen. Sie hätte, konsequent beachtet, wesentlich mehr Aussicht, wirkungsvoll zur Integration möglichst aller Bürger beizutragen, als das durch Religion und allgemeine Kulturförderung erfolgen kann. Freilich ergeben sich bei Anerkennung dieses Gedankens schwierige Detailfragen, die im Rahmen dieser Erörterung nicht behandelt werden können.
Zu einer staatlich-gesellschaftlichen Integration auf der Basis des soeben kurz skizzierten "Neutralitätsliberalismus" des Grundgesetzes stehen freilich so fundamentalistische Vorstellungen wie die von Papst Benedikt XVI. in krassem Widerspruch. Alan Posener, Kommentator der Welt, hat das in seinem Buch Benedikts Kreuzzug – Der Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft eindringlich dargelegt.14 Benedikts Großkampf gegen die "Diktatur des Relativismus" zielte auf eine Wiederetablierung des totalitären Prinzips "Wahrheit vor Freiheit" als Gesellschaftsprinzip. Dabei hatte die (päpstlich bestätigte) Konzilserklärung über die Religionsfreiheit im Jahr 1965 diese sozial unverträgliche althergebrachte Machttheorie beseitigt. Ernst-Wolfgang Böckenförde begrüßte damals diese grundstürzende kirchliche Wende als freiheitlicher Jurist und Katholik an vorderer Stelle voll Genugtuung.15 Er muss Papst Benedikt XVI. als Katastrophe empfunden haben. Der religiöse Glaube hat im Pluralismus gesamtgesellschaftlich keine integrative Funktion. Vielmehr ist es notwendig, die Religionen nach allseits als gerecht einsehbaren Grundkriterien in die Gesellschaft zu integrieren, wie oben skizziert wurde.
Anmerkungen
2 Der Aufsatz von 1967 aus der Festgabe für Ernst Forsthoff trug den Titel "Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation" und ist u. a. abgeduckt in: E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 2007.
3 G. Oettinger in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 16.1.2006.
4 Nach einer Umfrage des IfD Allensbach vom September 2012 bezeichneten sich nur 47% der Westdeutschen und 25% der Ostdeutschen, insgesamt 43%, als religiös.
5 E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 7 f.
6 J. Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung, 73 (1987), S. 296-336; zur Geschichte der Konzilserklärung: Gerd Hirschauer, Der Katholizismus vor dem Risiko der Freiheit. Nachruf auf ein Konzil. Darin S. 157 ff.: zur Geschichte und Analyse der Erklärung über die Religionsfreiheit.
7 Eingehend G. Czermak, Das System der Religionsverfassung des Grundgesetzes, in: Kritische Justiz 2000, S. 229-247.
8 C. Frerk, Kirchenrepublik Deutschland, 2015.
9 U. Neumann in: Kirche und Recht 1999, Nr. 980, S. 205 f.
10 E.-W. Böckenförde, Der säkularisierte Staat, S. 206 f.
11 Siehe hierzu etwa das umfangreiche Datenmaterial in www.fowid.de, vgl. auch oben Anm. 3.
12 Kardinal Trujillo, FAZ vom 4.5.2005, S. 48.
13 So Kreß, Religion, Staat und Toleranz angesichts des heutigen Pluralismus, S. 300.
14 A. Posener, Benedikts Kreuzzug, Berlin 2009; TB-Ausgabe Berlin 2011 unter dem Titel "Der gefährliche Papst".
15 Etwa E.-W. Böckenförde, Religionsfreiheit als Aufgabe der Christen, in: Stimmen der Zeit 90 (1964/65), S. 199 ff.
Der Text erschien erstmals in Czermak, Gerhard: Weltanschauung in Grundgesetz und Verfassungswirklichkeit. Alibri, Aschaffenburg, 2016.