ifw: Stellungnahme beim Bundesjustizministerium zur Penisvorhautbeschneidung bei intergeschlechtlichen Kindern

Stellungnahme

zum Referentenentwurf des

Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV)

für ein Gesetz zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen
vom 9. Januar 2020

Wir nehmen Stellung zur – medizinisch nicht indizierten – Penisvorhautbeschneidung bei intergeschlechtlichen Kindern, der Entwurf behandelt diese Problematik auf den Seiten 11 f.

I. Penisvorhautbeschneidung bei intergeschlechtlichen Kindern und Unvereinbarkeit mit dem Kindeswohl (§ 1631d Abs. 1 S. 2 BGB)

Unter der Überschrift "2. Beschneidung bei Jungen" sieht die Begründung des Gesetzesentwurf vor, dass in gewissen Fällen die Penisvorhaut eines intergeschlechtlichen Kindes beschnitten werden darf: "Die Beschneidung eines intergeschlechtlichen Kindes, das von seinen Eltern als Junge angesehen wird, und die sich nach Intensität und Zielrichtung nicht von der Beschneidung anderer Jungen unterscheidet, bleibt ein Anwendungsfall des § 1631d BGB..."

Schon mit der Überschrift gibt der Entwurf zu erkennen, dass die besondere Interessenlage bei Intersexualität und Penisvorhautbeschneidung nicht bedacht worden ist. Denn es geht nicht um "Jungen", sondern um Kinder, die von ihren Eltern lediglich "als Jungen angesehen" werden. Für die Einstufung als Junge oder Mädchen soll es nach dem Entwurf insbesondere nicht auf die eigene Sicht des Kindes ankommen. Was die Entwurfsbegründung also in dieser Passage meint, das sind intergeschlechtliche Kinder mit einem Penis und mit einer intakten Penisvorhaut, die der Beschneidungsregelung des § 1631d BGB und dem Willen der Eltern unterstellt werden.

Eine Beschneidungserlaubnis der Eltern eines intergeschlechtlichen Kindes ist selbst innerhalb der normativen Logik des § 1631d BGB verfehlt. Obwohl der Entwurf ausdrücklich feststellt, dass eine Beschneidung ausscheidet, wenn dem Eingriff das Kindeswohl entgegensteht (S. 12), wird die besondere Interessenlage bei intergeschlechtlichen Kindern nicht berücksichtigt. § 1631d S. 2 BGB steht einer Penisvorhautbeschneidung entgegen, weil der Eingriff bei intergeschlechtlichen Kindern stets das Kindeswohl gefährdet. Mit der Intergeschlechtlichkeit des Kindes liegt nämlich eine besondere, vom Fall einer Penisvorhautbeschneidung bei eindeutiger männlicher Geschlechtsbestimmung des Kindes abweichende Interessenlage vor. Diese besondere Interessenlage liegt darin, dass ein intergeschlechtliches Kind, das sich im Rahmen seiner psychosexuellen Identitätsentwicklung später möglicherweise als weiblich definiert (und operieren lässt), sich einen solchen – in doppelter Hinsicht – sinnlosen Eingriff nicht zumuten lassen muss. Dem steht das Persönlichkeitsrecht des Kindes entgegen (Art. 2 Abs. 1 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG). Die besondere Persönlichkeit des Kindes, männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale aufzuweisen, schafft für intergeschlechtliche Kinder die höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie sofort oder als Jugendliche oder Heranwachsende den Eingriff als Anmaßung der Eltern empfinden werden. Es gibt kein legitimes Interesse der Eltern, dass es ihnen erlauben könnte, gegen dieses Interesse des Kindes ihren eigenen elterlichen Willen zur Vorhautbeschneidung durchzusetzen.

Eine Penisvorhautbeschneidung führt schon bei Jungen (ohne intergeschlechtliche Merkmale) nicht selten zu psychischen Problemen (Franz M., "Bei der Beschneidung hört das Nachdenken auf. Kulturhistorische und psychoanalytische Aspekte, Risiken und Auswirkungen der Jungenbeschneidung", Psychodynamische Psychotherapie 18 [2019], 231 – 248). Es liegt die Annahme nicht fern, dass sich die Problematik bei intergeschlechtlichen Kindern verschärft und sich also Penisvorhautbeschneidungen bei intergeschlechtlichen Kindern mit größerer Häufigkeit psychisch verletzend und leidvoll oder zumindest schädlicher auswirken als bei Jungen. Denn schließlich haben die Eltern an dem Geschlechtsorgan, dass für das Kind vielleicht ohnehin nicht passt, einen verletzenden Eingriff vornehmen lassen. Diese Dinge sind nicht erforscht. Der Gesetzgeber sollte angesichts der Ungewissheiten das Wohl der intergeschlechtlichen Kinder nicht zum Experimentierfeld des Gutdünkens ihrer Eltern machen.

Letztlich widerspräche eine solche Beschneidungserlaubnis der Eltern eines intergeschlechtlichen Kindes auch dem Geist des übrigen Entwurfes, der ja "die wachsende Selbstbestimmung" des Kindes schützen will. Die Beschneidung der Penisvorhaut aber kann es einem intergeschlechtlichen Kind, dass sich selbst als Mädchen sieht, später erschweren, sich für das Mädchensein zu entscheiden, indem das Beschnitten-Sein als psychologischer Hemmfaktor wirkt. Mit dem Sich-zum-Mädchen-operieren-Lassen wäre nämlich ein unausgesprochener Vorwurf gegenüber den Eltern verbunden: Der von den Eltern verfügte Eingriff der Beschneidung am primären Geschlechtsorgan (des "Jungen") würde mit der Entscheidung des Kindes (Mädchensein) nachträglich jeden Sinn verlieren. Mit der Entscheidung fürs Mädchensein wäre daher die stumme Anklage an die Eltern verbunden, ihr eigenes Kind ohne medizinische Indikation und auch sonst nutzlos verletzt zu haben. Bei solcher Interessenlage verletzt die Beschneidung das Persönlichkeitsrecht des Kindes und des/der späteren Jugendlichen oder Heranwachsenden. Das Übertragen der einfachgesetzlichen Beschneidungserlaubnis des § 1631d BGB auf bestimmte intergeschlechtliche Kinder wäre deshalb nicht "Schutz von Kindern" (wie die Überschrift des Entwurfs verheißt), sondern Preisgabe ihrer höchstpersönlichen Interessen – verbunden mit der Erschwerung, später völlig frei die Geschlechtswahl selbst zu treffen und damit ihre Persönlichkeit frei zu entfalten. Gerade dem will der Gesetzentwurf ja entgegenwirken.

II. Unvereinbarkeit der Penisvorhautbeschneidung mit den Grundrechten des Kindes im Übrigen

Der Entwurf geht aber auch – in nachgerade naiver Weise – fehl bei Beurteilung der Schwere des Eingriffs der Penisvorhautbeschneidung: Die Beschneidung, heißt es auf Seite 12, "hat keine gravierende Auswirkung auf die sexuelle Selbstbestimmung". Das ist mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vereinbar:

Die Penisvorhaut, schreiben Schäfer/Stehr, ist ein einzigartiges, "besonders spezialisiertes Gewebe am Übergang von Schleimhaut und normaler Haut", vergleichbar etwa noch "den Augenlidern, den kleinen Schamlippen, dem Anus oder den Lippen" (unter Verweis auf Cold/Taylor, "The prepuce", British Journal of Urology 83 [1999], 34 ff.). Und weiter: "Der Einfluss einer intakten Vorhaut auf das sexuelle Erleben kann kaum überschätzt werden. Der Verlust an sensibler Haut [bei einer Beschneidung] ist erheblich: Bei einer korrekt durchgeführten Zirkumzision werden bis zu 50% der am Penis befindlichen Haut entfernt. Dabei handelt es sich aufgrund seiner nervalen Ausstattung um den sensibelsten Teil. Dies hat einen spürbaren und messbaren Sensibilitätsverlust zur Folge" (Schäfer/Stehr, "Zur medizinischen Tragweite einer Beschneidung", in: Franz [Hrsg.], "Die Beschneidung von Knaben – Ein trauriges Vermächtnis", Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014, S. 109, 121 ff.). Dies ist einer der Gründe, warum sich im seinerzeitigen Gesetzgebungsverfahren sämtliche deutsche Kinder- und Jugendärzte gegen die Beschneidungserlaubnis ausgesprochen haben (Wolfram Hartmann, Präsident des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Stellungnahme im Rechtsausschuss zum Entwurf des § 1631d BGB, 2012, S. 1). 

Es liegt auf der Hand, dass jedenfalls wegen der genannten Gewebebeschaffenheit der Penisvorhaut vor jedweder medizinisch nicht indizierten Beschneidung das Persönlichkeitsrecht des Kindes als normative Brandmauer steht (Art. 2 Abs. 2 GG mit Art. 1 Abs. 1 GG). Die Verfassungswidrigkeit der Beschneidungserlaubnis belegt denn auch der Umstand, dass in allen Stellungnahmen, die der Elternverantwortung aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG (mit Art. 4 GG) die Befugnis zur Jungenbeschneidung entnehmen, sich in der Begründung dieselbe Lücke findet: Man gibt sich keine Rechenschaft über die genaue Schwere des Eingriffs, insbesondere wird geflissentlich ignoriert oder fahrlässig übersehen, dass es sich bei der Penisvorhaut um eine evolutionär entwickelte und funktionsoptimierte erogene Zone handelt. Möchte man wirklich den Satz unterschreiben: "Eltern dürfen vom Genital ihres Kindes eine erogene Zone, ja sogar den sensibelsten Teil abtrennen lassen?" Von den Verteidigern des Beschneidungsgesetzes hat diesen Satz jedenfalls kein einziger niedergeschrieben und auch die Begründung des Gesetzesentwurfes bleibt dieses Bekenntnis schuldig. Stattdessen blickt man auf mögliche andere Folgen und erklärt für entscheidend die Höhe der Gefahren bedeutsamer Folgeschäden, die der Jungenbeschneidung innewohnen (etwa Blutungen, Nekrotisierung des Gewebes, Tod des Beschnittenen), ganz so, als wäre der Verlust hochsensibel-erogenen Gewebes nicht Körperschaden genug (dazu Wolf/Scheinfeld, "Zur Beschneidung kindlicher Genitalien", in: Hruschka/Joerden [Hrsg.], Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 24 [2016], S. 67 ff.)

Man kann es deshalb auch so ausdrücken: Die Entscheidung darüber, sich den besonders sensiblen und erogenen Teil seines Geschlechtsorgans abschneiden zu lassen betrifft die Intimsphäre der Person und ist eine höchstpersönliche Entscheidung, die nicht in Stellvertretung getroffen werden darf. Da völlig offen ist, ob der spätere, entscheidungsreife Erwachsene sich für eine Beschneidung entschiede und diesen intimen Körperteil irgendeinem Interesse opferte, drückt die Anmaßung einer Stellvertreterentscheidung der Eltern nur aus, dass man die – noch reifende – Persönlichkeit des Kindes und seine persönliche Willensbildung in Bezug auf dessen psychosexuelle Identität und Unversehrtheit nicht respektiert.

III. Schlussfolgerung

Der Gesetzgeber sollte deshalb in genauer Umkehrung des Gesetzesentwurfs ausdrücklich gesetzlich bestimmen, dass bei intergeschlechtlichen Kindern neben geschlechtsverändernden Eingriffen auch eine Penisvorhautbeschneidung verboten ist. Nur so wird dem Kindeswohl angemessen Rechnung getragen.

Die Stellungnahme haben für das ifw verfasst:

Prof. Dr. Matthias Franz, Kommissarischer Direktor des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Düsseldorf, Herausgeber "Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis", 2014.

Prof. Dr. Jörg Scheinfeld, Beirat des ifw und Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht u.a. (insbesondere Medizinstrafrecht) an der JGU Mainz sowie Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht u.a. an der EBS Law School Wiesbaden.

Beide sind Mitautoren des (zum fünften Jahrestages des Kölner Beschneidungsurteils verfassten) Beitrags "Zum Kölner Beschneidungsurteil und zur Schutzpflicht der Parlamentarier­" (abrufbar unter https://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/eschelbach-franz-scheinfe...).